Efeu - Die Kulturrundschau

Elite, aber nicht elitär

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10.06.2022. Die taz begibt sich mit dem Konzeptalbum "A Musical Walk Through a Legendary City" des Pianisten Vadim Neselovskyi auf eine musikalische Reise durch Odessa. Die NZZ bestaunt die vielen freien Stellen an britischen Museumswänden, nachdem die Danksagungen an die Pharmafamilie Sackler abmontiert wurden. Vor 100 Jahren herrschte einhellige Kriegsbegeisterung, heute beharken einander "Sofa-Pazifisten" und "Balkon-Bellizisten", diagnostiziert in der SZ der Literaturhistoriker Peter Walther. Und: Vor vierzig Jahren starb Rainer Werner Fassbinder - nur Artechock erinnert sich.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.06.2022 finden Sie hier

Musik

Benjamin Moldenhauer von der taz begibt sich mit dem Konzeptalbum "A Musical Walk Through a Legendary City" des Pianisten Vadim Neselovskyi auf eine musikalische Reise durch Odessa. "Mit Kriegsbeginn ist diese Musik zu etwas geworden, das von einer Stadt erzählt, die gerade zerstört zu werden droht. Obwohl sie anders gedacht war, ist es heute kaum möglich, Neselovskiys Klangwandeln zu hören, ohne das, was Odessa möglicherweise bevorsteht, mitzudenken. Was als Erinnerungsmusik gedacht war, wurde mit Kriegsbeginn zum Klangbild eines Ortes, der bald in seiner jetzigen Form verschwinden könnte. Und zugleich zu einer Aufforderung, es nicht so weit kommen zu lassen. ... In Neselovskyis Klavierspiel hört man eine am Keith Jarrett der 1970er Jahre geschulte Lust am Improvisieren, aber auch den Spaß am Konzeptuellen und Ironischen, der wiederum an die komponierten Zeitenmischungen des Pianisten Uri Caine erinnert, aber nie in Eklektizismus abdriftet." Wir hören rein:



"Das In-der-Welt-Sein, es bleibt unersprießlich", stellt Tobias Haberl von der SZ nach dem Hören des neuen Kreator-Albums "Hate Über Alles" erleichtert fest: Die deutsche Thrash-Metal-Band, die aus der Tristesse des Ruhrpotts kam, bleibt auch jenseits des vierzigjährigen Bandbestehens ein giftig-zorniger Kommentar zur Gegenwart. Sänger und Bandleader Mille Petrozza beschwört noch immer die Kataklysmen der Gegenwart, betreibt privat als Veganer aber eher Yoga-Meditation: "Dass er in seinen Texten immer wieder unverstellt das Drama des Menschseins auslotet, hat offenbar dazu geführt, dass er selbst ein überaus friedfertiges Exemplar werden konnte; ein bisschen wie Lemmy Kilmister, den er natürlich kannte, nur ohne Jack Daniel's und Warzen im Gesicht. ... Es gibt eben zwei Arten von Menschen: die, die andere mit ihrer Empörung belästigen. Und die, die sie in Musik, Literatur, Kunst umwandeln." Denn "sollten die Grünen noch eine Einlaufmusik für den kommenden Parteitag suchen: In 'Strongest of the Strong' verabschieden sich Kreator vom Patriarchat. 'Dying Planet' handelt von der drohenden Klimakatastrophe." Hier der Titeltrack - der Titel eine Hommage an die Dead Kennedys, der Urschrei zu Beginn eine an Slayer:



Weitere Artikel: "Die Ideale, die wir damals hatten, habe ich immer noch, aber ich bin halt realistischer geworden", sagt Wolfgang Niedecken im FAZ-Interview im Rückblick auf den Pazifismus seiner Band BAP vor 40 Jahren. Lena Karger freut sich in der Welt über das Comeback von Kate Bushs 80s-Song "Running Up That Hill", den die neue Staffel von "Stranger Things" wieder in die Charts gespült hat (mehr dazu bereits hier). In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker in dieser Woche Natalie Janotha (hier) und Maria Teresa Agnesi Pinottini (dort).

Besprochen werden Marina Herlops Album "Pripyat" (taz), Grace Ives' "Janky Star" (Pitchfork) und Sinead O'Briens "Time Bend and Break the Bower" - die Musikerin "scheint die Zeit überwinden", findet Annett Scheffel auf ZeitOnline. Wir überwinden beim Reinhören mit:

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Literatur

Wenn sich heute im Kulturbetrieb einander so schmähende "Sofa-Pazifisten" und "Balkon-Bellizisten" gegenüber stehen, dann ist das zwar ein erheblicher Unterschied zur Begeisterung zu Beginn des Ersten Weltkriegs, als die Intellektuellen annähernd unisono für den Zug ins Feld plädierten, schreibt der Literaturhistoriker Peter Walther in der SZ. Gemeinsam haben beide kriegsbedingte Zäsuren allerdings den Abschied von einem friedlichen Europa, fügt er hinzu. "Trotz aller Vorahnungen kommt der Umschlag vom mondänen europäischen Alltag zur Kriegsrealität für viele überraschend. Beinahe bis zum Schluss schwankt die Stimmung zwischen Bangen und Hoffen: 'Auch neige ich noch immer zu dem Glauben, dass man die Sache nur bis zu einem gewissen Punkte treiben wird', schreibt Thomas Mann Ende Juli 1914, und schließt an: 'Aber wer weiß, welcher Wahnsinn Europa ergreifen kann, wenn es einmal hingerissen ist!' Als der Krieg schließlich ausbricht, setzt er ungeheure emotionale Energien frei: Die lange Ungewissheit entlädt sich in Euphorie, die angestauten Sorgen schlagen um in Aufbruchspathos, Idealismus und Opferbereitschaft. ... Selbst verhalten enthusiastische Zeitgenossen wie Stefan Zweig und Käthe Kollwitz zeigen sich anfänglich begeistert von deutschen Siegen."

Außerdem: In der SZ verrät die Autorin Katja Kullmann, was sie derzeit liest. Besprochen werden unter anderem Willam Boyles Krimi "Brachland" (Dlf Kultur), César Airas "Das Abendessen" (Dlf Kultur), Ahmet Altans "Hayat heißt Leben" (FR) und R. B. Bardis "Der Kaiser / die Weisen und der Tod" (FR).
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Film

Den klassischen Feuilletons keine Notiz wert gewesen ist der heutige 40. Todestag von Rainer Werner Fassbinder - der WDR bringt eine viertelstündige Sendung von Detlef Wulke, in seiner wöchentlichen Artechock-Kolumne erinnert Rüdiger Suchsland an den Filmemacher immerhin am Rande, dem es um die "Revolution des Bewusstseins" ging, um "Aufklärung, Veränderung der Gesellschaft. Das Kino wollte nicht so dumm sein wie der Rest der Gesellschaft; es wusste, dass es klüger war, und es stand dazu. Es war Elite, aber nicht elitär. Für die Filmkritik galt das selbstverständlich auch."

Außerdem: Auf Artechock spricht Anna Edelmann mit Tim Roth über seine Rolle in Michel Francos mexikanischem (und hier besprochenen) Drama "Sundown". Die NZZ bringt eine Bilderstrecke zu Judy Garland, die vor 100 Jahren geboren wurde. Im SWR erinnert Silke Merten mit einem Feature an die Schauspielerin.

Besprochen werden Bruno Dumonts Mediensatire "France" (ZeitOnline, Artechock, mehr dazu hier), Jessica Krummachers "Zum Tod meiner Mutter" (SZ), Mamoru Hosodas Animationsfilm "Belle" (Artechock, mehr dazu hier), Colin Trevorrows neues "Jurassic World"-Blockbuster (Artechock), die abschließende Staffel von "Peaky Blinders" (NZZ), die Sitcom "How I Met Your Father" (taz) und die dritte Staffel von "The Boys" (FAZ).
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Design

Tisch und Bank von Konstantin Grcic für Plank. Foto: Salone del Mobile


"Fashion is over", zu langweilig, hörte Max Scharnigg (SZ) auf der Möbelmesse Salone del Mobile in Mailand flüstern, weshalb jetzt Modefirmen wie Dior oder Paul Smith sich dem Möbeldesign zuwendeten. Sogar "Design is over" hörte er. Naja, wer sucht der findet immer noch, auf der Möbelmesse zum Beispiel Konstantin Grcic: "Sein Projekt für den kleinen Südtiroler Hersteller Plank trifft die ernüchternde Weltlage sehr gut: ein simpler Tisch in seiner Urform, mit einheitlicher Platte und Seitenteilen aus fünf Zentimeter dicker Südtiroler Fichte. So mächtig und einfach standen Tisch und Bank in der Halle, dass es einen nicht gewundert hätte, wenn daneben 'Bitte Ruhe!'-Schilder aufgestellt gewesen wären - es war ein Mahnmal gegen das Halligalli ringsum. Natürlich, die Verbindung der Teile bildet ein gewitzter Mechanismus, an dem fast drei Jahre getüftelt wurde, aber mit seiner nahezu heilsamen Geradlinigkeit und dem banal-regionalen Fichtenholz ist dieser Tisch trotzdem die mobiliare Entsprechung zu Demut und Einkehr, die in den Lockdowns ja allgemein stattgefunden haben."
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Bühne

Im Interview mit der NZZ erklärt Choreograf Martin Schläpfer, wie gutes Ballett auch ohne autoritäre Lehrmethoden und perfekte Körper entstehen kann. Im Interview mit dem Van Magazin spricht Intendant Barrie Kosky über die Geschichte der Komischen Oper und ihre Zukunft, Hits und Flops und schließlich zum Thema Israelkritik, deren Kritik er übertrieben findet: "Es hilft nicht, wenn in Deutschland die Haltung der meisten deutschen und jüdischen Organisationen lautet, dass Israel nichts falsch machen kann und jede Kritik an Israel antisemitisch ist." Albrecht Thiemann schreibt in Van über den neuen Ring-Zyklus an der Oper Dortmund. Besprochen wird eine Auto-Performance von Verena Brakonier auf der Hebebühne einer Kfz-Werkstatt in Hamburg-Altona (taz).
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Kunst

In Britannien entfernen immer mehr Museen die Schilder, die daran, erinnern, dass Purdue Pharma, das Pharmaunternehmen der Sackler-Familie und Hauptverantwortlicher für die Opiodkrise in den USA, hier für Kunst gespendet hat, berichtet Marion Löhndorf in der NZZ: "Hier lebten Mortimer Sackler (2010 gestorben) und seine in Staffordshire geborene Frau Theresa; sie waren fest in der hiesigen Kunstszene etabliert. Theresa war unter Entscheidungsträgern durch ihre genuine Kunstbegeisterung beliebt. Die ehemalige Lehrerin, die in die Familie eingeheiratet hatte, galt als die treibende Kraft hinter dem philanthropischen Einsatz der Sacklers im Vereinigten Königreich. In den frühen neunziger Jahren begannen sie sich mit viel Geld zu engagieren, was ihnen die Türen zum Establishment öffnete. Der New York Times zufolge wurden sie an vielen Entscheidungen im Kulturleben zu Rate gezogen wurden und erhielten Ehrenplätze an den Tischen einflussreicher Leute. Die ehemals dankbar akzeptierten Schenkungen werden in London heute überwiegend mit Bitterkeit betrachtet: Die Kunstförderung sei nicht Geschenk, sondern Investition gewesen, wie etwa der Stanford-Professor Keith Humphreys in der New York Times sagte." Zu den gesponserten Institutionen gehören die Sackler Serpentine Gallery, die Royal Academy, das V&A Museum, die Tate Galerien, das Britische Museum, Kew Gardens, das Royal Opera House, das National Theatre, das Globe, Oxford und Cambridge sowie eine Reihe naturwissenschaftlicher Forschungsinstitute, so Löhndorf.

Wenn es um Israel und BDS geht, wünschte sich Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, in der SZ eine weniger emotionsgeladene Diskussion, die nicht überall Rassisten oder Antisemiten wittert: "Da wird zum Beispiel der Verdacht geäußert, es könne wohl kaum Zufall sein, dass kein einziger israelischer Künstler bei der Documenta vertreten sein wird. Kritiker wie Schuster, Klein & Co. meinen, antisemitische Absichten dahinter zu erkennen. Ihnen wird entgegengehalten, es gebe doch viele weitere Länder neben Israel, die auch nicht auf der Documenta vertreten sind. Aber damit werden Schuster und Klein noch nicht entkräftet. Denn angesichts der politischen Verhältnisse in Indonesien scheint es mir für indonesische Kuratoren so gut wie unmöglich zu sein, israelische Künstler in ihre Ausstellung einzuladen. Indonesien unterhält bis heute keine diplomatischen Beziehungen zu Israel. Der Boykott gegen Israel ist dort allgegenwärtig. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein ganzes Kollektiv aus diesem südostasiatischen Land ausgerechnet einen Konsens finden soll, wenn es darum geht, einen Israeli einzuladen? Minimal. Damit ist im Umkehrschluss aber nicht bewiesen, dass 'Ruangrupa' antisemitisch ist."

Weitere Artikel: Sandra Danicke schreibt in der FR zur Eröffnung des Christian Schad Museums in Aschaffenburg. In der Berliner Zeitung annonciert Ingeborg Ruthe die von dem französischen Künstler Kader Attia kuratierte Berlin Biennale, die heute eröffnet. Damian Zimmermann berichtet in der taz von der PHotoEspaña in Madrid.

Besprochen werden eine Ausstellung mit den abstrakten Architekturfotografien von Thomas Florschuetz im Berliner Haus am Waldsee (Tsp), eine Werkschau der Malerin Angela Hampel in der Städtischen Galerie Dresden (Berliner Zeitung), eine Ausstellung des Werks der in Hamburg geborenen, 1939 nach Caracas geflohenen Künstlerin Gego, einer "der wichtigsten Vertreterinnen der Nachkriegskunst Südamerikas", so Ursula Scheer in der FAZ, im Kunstmuseum Stuttgart und eine Ausstellung in der Wiener Galerie Thoman mit 112 von insgesamt 776 Originalblättern aus der Partitur von Hermann Nitschs "6-Tage-Spiel" (Standard).
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