Efeu - Die Kulturrundschau

Alle Straßen liegen im Nebel

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13.06.2022. In der SZ erklärt Hans Eichel, dass die Documenta keine deutsche Veranstaltung sei, sondern eine Weltkunstausstellung. Die Jüdische Gemeinde fürchtet zurecht eine Desolidarisierung der deutschen Kunstinsitutionen, sagt Natan Sznaider im Interview mit der Berliner Zeitung. Danke Barrie, singt und tanzt die taz nach Barrie Koskies Abschiedstournee an der Komischen Oper. In der FAZ misstraut Petra Morsbach dem neuen PEN Berlin, in der Zeit wünschte Jana Hensel Deniz Yücel etwas weniger Charisma. Die FAS meldet, dass Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga, der in Simbabwe Haft droht, in Berlin Zuflucht gesucht hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.06.2022 finden Sie hier

Kunst

Hans Eichel, einst Bürgermeister von Kassel und Ministerpräsident von Hessen, erklärt in einem Beitrag in der SZ, dass die Documenta zwar in Deutschland stattfinde, aber keine deutsche Veranstaltung sei. Deswegen gelten bei ihr auch nicht allein die Regeln deutscher Erinnerungkultur: "Wir haben der Documenta fifteen diese Debatte, die - aus verständlichen Gründen - besonders in Deutschland geführt wird, aufgezwungen. Sind wir überhaupt in der Lage und bereit, uns der Documenta Fifteen und ihrem Anliegen zu öffnen? Und noch grundsätzlicher: Alle documenta-Ausstellungen seit der d 10 beanspruchten, Weltkunstausstellung zu sein. Sie wurden bestimmt durch die Perspektive und Maßstäbe des globalen Nordens, genauer: seines westlichen Teils. Der globale Süden in all seiner Komplexität blieb Objekt der Betrachtung. Dieses Mal, zum ersten Mal, ist es umgekehrt: Der globale Norden ist Objekt, die Perspektive und die Maßstäbe bestimmt ein Kollektiv aus dem globalen Süden. Halten wir das aus? Die Antwort auf diese Frage entscheidet darüber, ob es in Zukunft noch eine globale Documenta in Deutschland geben kann, vielleicht ob es überhaupt weiter ein Forum der globalen Kunstgemeinde geben kann."

Völlig anders beurteilt Natan Sznaider im Interview mit Harry Nutt in der Berliner Zeitung die Diskussion um Ruangrupa. Von Cancel Culture halte er gar nichts, aber er solidarisiert sich mit der Jüdischen Gemeinde, deren Gesprächsangebote von Ruangrupa abgelehnt wurde: "Es geht nicht nur um die Documenta. Mir wurde bewusst, dass der Zentralrat der Juden als Vertretung der Juden in Deutschland seit einiger Zeit die Wahrnehmung macht, dass die Steine auf dem Spielbrett des deutschen Kulturbetriebs umgestellt werden. Die Befürchtung, dass jüdische Menschen in Deutschland ihren Standort verlieren könnten, ist keine ganz neue Entdeckung. Zuletzt scheint sich bei ihnen der Eindruck verdichtet zu haben, dass sie von der kulturellen Elite des Landes im Stich gelassen werden."

Mehr zur BDS-Thematik heute auch in 9punkt.

Weiteres: In der SZ erklärt Kito Nedo die vom französischen Künstler Kader Attia kuratierte Berlin Biennale aus dessen Ansatz des Reparierens heraus. Ebenfalls in der SZ schreibt Cathrin Kahlweit zum Tod der österreichischen Milliardärin und Mäzenin Heidi Goëss-Horten.

Besprochen werden die Retropektive zur amerikanischen Künstlerin Helen Frankenthaler in der Kunsthalle Krems (taz) und die Ausstellung "Splendid White" der Elfenbein-Sammlung von Reiner Winkler im Frankfurter Liebighaus (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

All Dancing, All Singing: Barrie Koskys Abschiedsrevue. Foto: Monika Rittershaus/Komische Oper

Danke Barrie, ruft taz-Kritiker Niklaus Hablützel nach der Revue, mit der sich Barrie Kosky von der Komischen Oper verabschiedet, obwohl ihn wirklich absolut niemand in Berlin habe loswerden wollen. Mit seiner "All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue" erinnert Koskie an das jüdische Unterhaltungstheater der sechziger Jahre, erklärt Hablützel, mit dem sich wohlhabende New Yorker in den Urlaubsorten in den Catskills vergnügten: "Es ist großartig, nicht immer perfekt, aber eben deswegen sehr lebendig. Über allem liegt eine Menschlichkeit, die anrührend ist, weil gerade sie nicht bloß vorgespielt wird. Sie bleibt glaubwürdig auch dann noch, wenn ein Schlager nur in zuckersüß dahinschmelzenden Geigen zum Höhepunkt kommen kann. Plötzlich ist das gar nicht schlimm oder kitschig. Im Gegenteil, es klingt merkwürdig wahr und schön. Erklären kann man sich das nur hinterher, wenn man begreift, dass Koskys Regie enorm begabte, professionell arbeitende Persönlichkeiten dazu gebracht hat, uns mit rücksichtsloser Leidenschaft zu unterhalten."

Weiteres: Im FAZ-Interview mit Gerald Felber bricht der Librettologe Albert Gier eine Lanze für Richard Wagners Neigung zum Stabreim ("Wallala weiala weia!"). Besprochen werden Data Tavadzes Inszenierung von George Taboris "Goldberg-Variationen" am Schauspiel Frankfurt (FR), Dvoráks Märchenoper "Rusalka" in Stuttgart (FR), das Musical "Paradise Lost" an der Neuköllner Oper (Tsp, BlZ), Molieres "Bürger als Edelmann" vom Anhaltischen Theater Dessau im Wörliter Park (Nachtkritik), Michiel Vandeveldes Sexpositivity-Choreografie "Joy 2022" bei den Wiener Festwochen (Nachtkritik), Lindsey Ferrentino "Ugly Lies the Bone" am Staatstheater Augsburg (Nachtkritik).
Archiv: Bühne

Literatur

Die Schriftstellerin und Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga, der in Simbabwe eine Haftstrafe droht, weil sie Reformen fordert (unser Resümee), ist aus ihrer Heimat über Oslo nach Berlin ausgereist, meldet Tobias Rüther in der FAS. "Dass es um eine Schriftstellerin geht, der hier der Prozess gemacht werde, um sie einzuschüchtern und zum Verstummen zu bringen, sei kein Zufall, sagt Barbara Groeblinghoff von der Naumann-Stiftung, die seit Mitte der Achtzigerjahre im südlichen Afrika lebt und vor allem die rechtspolitische Entwicklung in den dortigen Staaten verfolgt. Simbabwe sei ein zutiefst patriarchalisch geprägter Staat - was aber dazu führe, dass es gerade junge Frauen seien, die gegen die Verhältnisse aufbegehren, weil sie nichts zu verlieren hätten. Im Mai des Jahres 2020, waren drei junge Oppositionspolitikerinnen auf einer Demonstration in Harare verschleppt und vergewaltigt worden, nur Wochen vor der Verhaftung von Barnes und Dangarembga."

Schriftstellerin Petra Morsbach denkt in der FAZ darüber nach, dass sich literarischer Geist und Vereinsmeierei im Grunde nicht vertragen - zu beobachten ist dann eine Spaltung wie gerade beim deutschen PEN. Dem neu gegründeten PEN Berlin begegnet sie schon mal mit einer großen Dosis Argwohn, zumal dort ein Ausschluss schon bei einer Dreiviertelmehrheit erfolgen kann - während der alte noch eine einstimmige Beschlusslage verlangte. Und ist das "in der Presse verbreitete Narrativ vom 'aufrichtigen Präsidenten' Yücel, der den 'Kleingeistern' des alten PEN zum Opfer fiel, nicht populistisch? Yücel ist ein charismatischer und eloquenter Mann, aber 'aufrichtig'? Was ist mit seiner Kampfrhetorik und der Neigung, Gegner zu beleidigen? Ist per se ein 'Kleingeist', wer diesen Stil missbilligt? Jana Hensel schließt in der Zeit aus der unbeirrten Loyalität seiner vormaligen Präsidiumskollegen, dass Yücel integer sei. Aber starke Gefolgschaft finden Charismatiker schon durch Intensität und schlichte Parolen. Die Frage ist, wie sie mit Kritikern umgehen. Yücel wollte umstandslos seine Widersacher aus dem Präsidium entfernen; auch das ist bei Heilsbringern ein bekanntes Muster."

Weitere Artikel: Für die Jungle World liest Marcus Hammerschmitt aktuelle politische Science-Fiction-Romane von Frauen. Besprochen werden unter anderem Yosano Akikos Essaysammlung "Männer und Frauen" (Standard), Sven Hanuscheks Biografie über Arno Schmidt (NZZ), Amanda Gormans Gedichtband "Was wir mit uns tragen" (NZZ), Nicole Krauss' Storyband "Ein Mann sein" (Standard), Doron Rabinovicis "Die Einstellung" (Freitag), Yael Inokais "Ein simpler Eingriff" (Tsp), Ines Geipels "Schöner Neuer Himmel" (Zeit), Ádám Bodors "Die Vögel von Verhovina" (Dlf Kultur), Pascal Bruckners "Ein nahezu perfekter Täter" (Standard), Johannes Laubmeiers Romandebüt "Das Martel" (Tsp), Cornelia Franz' Jugendroman "Swing High - Tanzen gegen den Sturm" (online nachgereicht von der FAZ),

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Jan Röhnert über André du Bouchets "Türflügel":

"Der Heuschober des andern Sommers funkelt. Wie die Seite der
Erde, die man nicht sieht..."
Archiv: Literatur

Film

Es liegt ein Grauschleier über der Stadt: "Hide and Seek" (ZDF)

Sanft verärgert zeigt sich der FAZ-Kritiker Oliver Jungen darüber, dass das ZDF sich für die Ausstrahlung der ukrainischen, 2019 entstandenen Thriller-Miniserie "Hide and Seek" kräftig auf die eigene Schulter klopft und diese als gezielte Solidaritätsaktion verkauft. Das hätte es nun wirklich nicht gebraucht, denn zu erleben ist mit dieser "Zeitkapsel", die auf jenen damals noch intakten Straßen gedreht wurde, die in den letzten Monaten hart umkämpft wurden, "eine knallharte, ästhetisch konsequente und höchst spannende Genreserie", welche dann auch "die meisten deutschen Fernsehkrimis locker an die Wand spielt. ... Alle Straßen liegen im Nebel, alle Innenräume wirken lichtlos und bläulich entfärbt. Etwas Bedrohliches schwebt über den heruntergekommenen Orten. Das schwach ausgeleuchtete Betongrau lässt selbst die wenigen edlen Räume kalt und abweisend wirken. So resolut dunkel und spröde werden Noir-Serien hierzulande nicht gehalten."  

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In der neuen Sonderausstellung "Hollywood" in der Helmut Newton Stiftung in Berlin reist FAZ-Kritiker Andreas Kilb durch die Geschichte der Traumfabrik "von den Anfängen bis zur Gegenwart der Pornoindustrie im San Fernando Valley". Konzipiert ist die Ausstellung allerdings nicht als "Realgeschichte, sondern als Geschichte des kollektiven Imaginären." Zu erleben sei dabei aber auch, "wie sehr die ins Freie und zur Reportage drängende Hollywoodfotografie der Sechziger- und Siebzigerjahre, die durch die Bildserien von Eve Arnold, Inge Morath und Steve Schapiro vertreten ist, bei Newton wieder zum Arrangement erstarrt. Arnold zeigt Marilyn Monroe bei den Dreharbeiten zu John Hustons 'Misfits' in ungestellten Augenblicken der Erschöpfung wie des Überschwangs. Dagegen wirkt Sigourney Weaver, an der sich Newton nie sattsehen konnte, in jedem seiner Porträts von ihr wie ein Kunstprodukt."

Außerdem: Auch in Österreich ächzen die Programmkinos darunter, dass ihr Hauptpublikum - die Best-Ager der 50er - in diesem Sommer der Pandemieentspannung nicht in die Kinosäle zurück finden, berichtet Valerie Dirk im Standard. Für die Berliner Zeitung wirft Claus Löser einen Blick ins Programm des Jüdischen Filmfestivals in Berlin. Gunda Bartels vom Tagesspiegel beobachtet Chiara Noack, die bei Filmproduktionen auf Nachhaltigkeit achtet, bei der Arbeit. Besprochen wird eine Werkschau samt Ausstellung über Agnès Varda in Berlin (taz).
Archiv: Film

Musik

Mit Eric Pfeils Musikbuch "Azzurro. Mit 100 Songs durch Italien" im Gepäck fährt tazler Lars Fleischmann nur zu gerne in den Süden: Der Musikjournalist Pfeil bringt einem das tradionelle Urlaubsland der Deutschen mit dessen Popsongs nahe. Nach der Lektüre "weiß man nicht nur, warum der Songwettbewerb von San Remo einzigartig ist, sondern erfährt auch etwas über die Nachkriegsgeneration in Italien, über das krasse Nord-Süd-Gefälle, Studentenrevolten, über typisch italienische Sängerviten und wie darin radikale katholische Positionen mit kommunistischen Gedanken und LGBTQI-Liebe zusammenkommen - schlicht: über die Seele der Republik entlang des Apennin." Eine Spotify-Playlist zum Buch hat Perlentaucher Thomas Groh bereits vor einigen Wochen zusammengestellt. Und mit "Radio Gelato" hat Eric Pfeil dem Italo-Pop bereits 2014 musikalisch gehuldigt:



Die Band Big Thief, eine der angesagtesten Independent-Bands der letzten Jahre, wollte in Israel spielen, wo der Bassist der Band herkommt. Auf Druck von BDS hat die Band die Israel-Reise abgesagt und sich von einem früheren Statement distanziert, meldet Quietus und zitiert aus einem Statement der Band: "Unsere Absicht, die Konzerte in Tel Aviv zu spielen, wo Max Oleartchik, Bassist geboren wurde, aufgewachsen ist und lebt, entsprang dem einfachen Glauben, dass Musik heilen kann. Jetzt haben wir erkannt, dass die Shows, die wir gebucht hatten, dieser Überzeugung nicht gerecht werden." Die Kampagnenmacher von BDS begrüßten die Entscheidung von Big Thief "von ganzem Herzen" und würdigten "Mut und Bereitschaft der Band, auf die Unterdrückten zu hören", zitiert Quietus.

Weitere Artikel: Genervt und ziemlich skeptisch nimmt Michael Moorstedt von der SZ zur Kenntnis, dass nun auch immer mehr Popmusiker sich für NFTs interessieren und damit Geld machen wollen. Raus aus den Häusern, rauf auf die Open-Air-Festivalwiesen, ruft Paul Linke nach zwei mageren Pandemiejahren in der Berliner Zeitung. Konstantin Nowotny befasst sich für den Freitag, wie Popmusik die Forderung, Cannabis zu legalisieren, im Laufe ihrer Geschichte begleitet hat. In der taz schreibt Robert Mießner einen Nachruf auf die Sängerin Julee Cruise, die den Soundtrack zu David Lynchs "Twin Peaks" gesungen hat.
 
Besprochen werden neue Jazz-Archivaufnahmen von Charles Mingus und Bill Evans (NMZ), ein Berliner Auftritt von Yaneq (taz), eine umfangreiche Box mit Aufnahmen von Robert Fripp (FAZ) und ein Konzert der Hamburger Northern-Soul-Veteranen Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen (taz),
Archiv: Musik