Efeu - Die Kulturrundschau

Ein flirrender Freiheitsrausch

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15.06.2022. In der SZ fordert der Komponist Marc Sinan mindestens fünf Opernhäuser im Land, die ausschließlich Neues aufführen. Auf ZeitOnline wirft Saba-Nur Cheema in der Debatte um die Documenta den Antideutschen eine Überidentifikation mit Israels militärischer Stärke vor. In der Art News gibt Marina Abramovic ihren Widerstand gegen NFTs auf. In der FAZ fragt Bernhard Schlink, welcher PEN nun das Geld bekommt. Die FAZ bewundert die Malerin Rosa Bonheur, die sich eine Sondergenehmigung zum Tragen von Hosen erstritten hatte, um derbes Vieh malen zu dürfen. Die taz porträtiert die ukrainische Harfenistin Veronika Lemishenko.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.06.2022 finden Sie hier

Kunst

Rosa Bonheur: La Foulaison du blé en Camargue. Bild: Musée des Beaux-Arts de Bordeaux

Im Musée des Beaux Arts in Bordeaux wird gerade die Malerin Rosa Bonheur wiederentdeckt, und in der FAZ findet Bettina Wohlfarth besonders bemerkenswert, dass sich diese emanzipierte Tochter aus einer Familie von Saint-Simonisten nicht fürs Possierliche interessierte, sondern für derbes Vieh: "Rosa Bonheur studierte Anatomie in Büchern, ging aber auch in Schlachthöfe, um Volumen und Muskelaufbau von Rindern und Pferden zu begreifen. Dazu ließ sie sich von der Präfektur eine Sondergenehmigung zum Tragen von Hosen ausstellen. 'Es kam mir nie in den Sinn', schrieb sie rückblickend, 'mir meine Freiheit nehmen zu lassen, denn ich wollte meine selbst gesetzte Mission erfüllen - ich wollte immer die Frau aufwerten'. Die finanzielle und geistige Unabhängigkeit von Élisabeth Vigée-Le Brun gehörte zu ihren Vorbildern. So psychologisch meisterhaft wie Le Brun die Adeligen ihrer Zeit porträtierte, so einfühlend und realistisch, dabei sicherlich dem Zeitgenossen Gustave Courbet am nächsten, nahm Bonheur ihre Tier-Modelle wie Persönlichkeiten ins Visier."

Marina Abramović: Still aus "The Hero" (2001)

Noch im Februar erklärte Marina Abramovic gegenüber dem Guardian ihre Verachtung für NFTs ("Ich sehe da keine gute Idee, keinen großartigen Inhalt. Ich sehe nur, dass alle darüber reden, wie viel Geld man damit machen kann."). Jetzt kündigt sie in Art News an, ihren Film "Hero" mit der Tezos Blockchain in NFT umzuwandeln: "Wenn man Kunst macht, muss man an die Zukunft denken. Kunst muss nach vorne blicken. Ich habe über das Web3 gelesen und darüber, was die neue Generation in diesem Bereich macht. Das ist zweifelsohne die Zukunft. Ich kann kaum eine E-Mail tippen, und sie sammeln Millionen, um Menschen zu helfen und den Regenwald zu retten. Sie sind Helden. Sie leisten auf ähnliche Weise Pionierarbeit, wie ich in den siebziger Jahren mit meiner Performance-Kunst Grenzen verschoben habe. Alle nannten mich verrückt. Nur sehr wenige Menschen glaubten damals an das, was ich tat."

Bei der Debatte um Israel, Antisemitismus und die Documenta sieht die Politikwissenschaftlerin Saba-Nur Cheema auf ZeitOnline Obsessionen und Projektionen auf allen Seiten am Werk, vor allem aber bei den Antideutschen, aus deren Umfeld die Vorwürfe gegen die Documenta und das Kuratoren-Kollektiv Ruangrupa zuerst kamen: "Es ist alles andere als ein Zufall, dass die Vorwürfe gegen die documenta zunächst aus diesem Teil des antideutschen Spektrums kamen. Dort begann alles mit dem Blogbeitrag des Kasseler 'Bündnis gegen Antisemitismus' (BgA). Um zu verstehen, wofür das BgA steht, reicht ein schneller Blick auf die Webseite. Da sind Kampfjets der israelischen Luftwaffe zu sehen, mit dem Kommentar: 'Du, ich habe letztens einen Essay geschrieben, gegen die Hamas.' 'So? Wie schön! Wir bevorzugen die Air Force.' Die Faszination für die militärische Stärke Israels geht Hand in Hand mit der vollständigen Identifikation des heutigen Israels mit den NS-Opfern: 'Wer von Israel spricht, thematisiert, ob er will oder nicht, die Massenvernichtung der europäischen Juden', so heißt es in der Selbstdarstellung." Auch das Blog der Ruhrbarone ordnet sie den Antideutschen zu.

Weiteres: In der taz stellt Max Florian Kühlem die Künstlerin Irena Haiduk vor, die für ihr Projekt "Healing Complex" in der profanierten Kirche St. Bonifatius von Gelsenkirchen Back-Tage veranstaltet. Besprochen werden die große William-Klein-Retrospektive "Yes" im International Center of Photography in New York (SZ) und die erste britische Ausstellung der wunderbaren Straßenfotografin Vivian Maier in der MK Gallery in Milton Keynes (Guardian).
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Literatur

Die FAZ bleibt auch weiterhin höchst unerfreut darüber, dass sich der PEN Berlin gegründet hat. Die Menschelei, wie sie beim deutschen PEN Zentrum zu beobachten war und nach Deniz Yücels Diktum dessen Bratwurstbudizität konstituierte, sei typisch für eben jene Vereinsmeierei, die der neue PEN Berlin zwar zu überwinden suche, durch den Akt seiner Gründung aber geradewegs selbst performt habe, tadelt der Schriftsteller Bernhard Schlink. Grundsätzliche Unterschiede zwischen den beiden Vereinen erkennt er nicht. Aber "sicherlich werden sich der PEN und die Berliner Gründung um die staatliche Förderung der Hilfe für verfolgte Autoren streiten - soll der Staat danach entscheiden, in welchem Verein bekanntere Namen versammelt oder höhere Auflagen erreicht oder mehr Hilfsarbeit geleistet wird? Wie sollen die deutschen Autoren in ihrer Zerrissenheit und mit ihren Streitigkeiten in die Öffentlichkeit wirken? Das Gewicht, das sie in die Waagschale der Zeit zu werfen haben, ist ohnehin gering, und es wird noch geringer, wenn sie sich zerstritten und zerrissen präsentieren. Muss es Jahre dauern, bis die Kläglichkeit und Lächerlichkeit des Nebeneinanders von PEN und Berliner Gründung eingesehen und wieder ein gemeinsames Haus bezogen wird?"

Der israelische Schriftsteller Abraham B. Jehoschua ist gestorben. Neben Amos Oz zählte er zu den bedeutendsten Schriftstellern, die in Israels Gründerjahren zu schreiben begannen", erinnert der Schriftsteller Jakob Hessing in der FAZ. Als "säkularer Zionist" befasste sich Jehoschua in seiner Prosa mit Juden im Exil, schreibt er weiter. "Der Riss, von dem Jehoschua immer wieder erzählt, spaltet nicht nur seine Protagonisten, sondern auch ihre Familien. ... Ein dunkler, zuweilen auch schwarzer Humor grundiert Jehoschuas tragische Erzählungen. Die Ironie seiner Situation blieb ihm niemals verborgen. Auf einer bewussten Ebene wollte er die Juden aus den Fallstricken ihrer Vergangenheit befreien, aber als Künstler hielt er sie in ihnen gefangen." Jehoschua blickte "auf diese Heimat und sein Volk mit einem scharfen und dennoch oft schalkhaften Blick", schreibt Peter Münch in der SZ. "In seinen Figuren spiegeln sich die Widersprüche des israelischen Alltags und ein Bündel an Konflikten wider."

Weitere Artikel: Allen Boykottaufrufen und -bitten zum Trotz: "Wir müssen uns mit den offenkundig sehr unterschiedlichen Lesarten und Wahrnehmungen russischer Kultur beschäftigen", fordert Marion Detjen auf ZeitOnline, die es gerade jetzt zu Tolstoi zieht, wo sie auf den auch heute noch aufschlussreichen "Rechtsnihilimus" stößt, mit dem sich die Gegenwart deuten lässt. Ein Verein fordert ein Comicmuseum für Erlangen, berichtet Lars von Törne im Tagesspiegel. Ronald Pohl staunt im Standard mit leichtem Amüsement darüber, dass die Krimi-Autorin Nancy Brophy, die unter anderem einen Essay mit dem Titel "How to Murder Your Husband" veröffentlicht hat, von einem Gericht nun schuldig gesprochen wurde, ihren Ehemann ermordet zu haben - mehr dazu auch bei der BBC. In der FAZ gratuliert Patrick Bahners Leon Wieseltier, dem lanhhährigen Literaturchef der New Republic, zum 70. Geburtstag. Außerdem verrät der Schriftsteller Robert Seethaler der SZ, was er gerade liest.

Besprochen werden unter anderem Madame Nielsens "Lamento" (NZZ), Wole Soyinkas "Die glücklichsten Menschen der Welt" (online nachgereicht von der FAZ), Ted Hughes' "Wodwo" mit ausgewählten Gedichten (SZ), Djaimilia Pereira de Almeidas "Im Auge der Pflanzen" (NZZ), eine Ausstellung im Max-Frisch-Archiv der ETH Zürich über Max Frisch und Helmut Schmidt (NZZ), neue Comics von Josephine Mark (Tsp) und Anne Tylers "Eine gemeinsame Sache" (FR).
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Bühne

Noch immer ist das Publikum nicht in die Opern zurückgekehrt. In der SZ meldet Helmut Mauró einen Schwund von dreißig bis fünfzig Prozent an den großen Häusern von Berlin, Düsseldorf, Frankfurt oder Hamburg. Nur dank eines Festivals kann etwa die Bayerische Staatsoper höhere Auslastungen verzeichnen. Daneben erklärt der türkisch-armenisch-deutsche Komponist und Gitarrist Marc Sinan nicht nur wie einst Pierre Boulez die Oper für tot, sondern eigentlich die gesamte klassische Musik für ziemlich unlebendig. Zu ihrer Wiederbelebung schlägt er unter anderem eine Frauenquote vor, dynamische Institutionen, Pantopien und Gegenwart: "Über 15 Prozent des Umsatzes bestimmter Industrien fließt in Research and Development. Lasst uns in mindestens fünf Orchestern und fünf Opernhäusern im Land ausschließlich Neues entwickeln. Die kulturelle Bedeutung des 21. Jahrhunderts sollte keinesfalls sein, dass wir in der Lage waren, hervorragend Musik anderer Jahrhunderte aufzuführen. Lasst diese Häuser Labore sein. Wenn wir das tun, werden wir zu einer tiefen Gegenwartsmusik finden, die ein gewaltiges Publikum anspricht - eine Kunstform der Gegenwart, die unser Jahrhundert weit überdauern wird."

Besprochen werden Scarlattis Opera buffa "I portentosi effetti della madre natura" mit einem Libretto von Carlo Goldoni bei den Musikfestspielen Potsdam Sanssouci (die Jan Brachmann in der FAZ als vergessenes Prachtstück feiert), zwei von der Berliner Operngruppe ausgegrabene italienische Kurzopern von Pietro Mascagni und Ermanno Wolf-Ferrari im Konzerthaus (Tsp) und Jan Bosses Inszenierung von Shakespeares "Falstaff" am Schauspiel Köln (SZ).
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Film

Zwei Berliner in Frankreich, in einem Film, der französisches Kino nach Berlin holt: "AEIOU"

Sophie Rois liebt einen deutlich jüngeren Mann, noch dazu einen, den sie unterrichtet - das ist die Prämisse von Nicolette Krebitz' Liebesfilm "AEIOU", zu dem wir an dieser Stelle schon aus zwei Interviews mit der Filmemacherin zitierten. SZ-Filmkritikerin Annett Scheffel fühlt sich mit diesem Film ziemlich frei: "Nichts in dieser Film-Romanze ist festgeschrieben. Aber alles ist möglich. Und erklärt werden muss sowieso nichts." Der Film ist "wie französisches Kino in Berlin. So richtig stilecht mit einer Amour Fou und surrealen Einsprengeln, mit vielen lässig gerauchten Zigaretten und kleinen Gaunereien. Im letzten Teil des Films flieht das Paar in einer Nouvelle-Vague-Variation an die Côte d'Azur. Was folgt, ist ein flirrender Freiheitsrausch: Wie Kinder streifen sie als Taschendiebe durch die Altstadtgassen, baden nackt im Meer und schlafen endlich miteinander." Bei all dem schaut auch FR-Kritiker Daniel Kothenschulte sehr gerne zu: "Immer wieder nennt ihre weibliche Pygmalion-Geschichte die Klischees förmlich beim Namen - und verleiht ihnen in der Entzauberung wiederum einen eigenen Zauber." Und sowieso famos ist dann auch noch Udo Kier in einer Nebenrolle als "freundlicher Nachbar. Es ist eine Filmfigur von fast märchenhafter Unschuld," - womit wir, ganz ehrlich, bei Udo Kier am allerwenigsten gerechnet hätten.

Weitere Artikel: In seinem Intellectures-Blog empfiehlt Thomas Hummitzsch eine durch Berlin, Leipzig und Hamburg tourende Reihe mit Filmen aus der Ukraine. Fritz Göttler schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Schauspieler Philip Baker Hall.

Besprochen werden Nicolette Krebitz' "AEIOU" (SZ, FR, mehr dazu bereits hier), Marc Boettchers Dokumentarfilm über die Sängerin Belina, der heute beim Jüdischen Filmfest Berlin Brandenburg zu sehen ist (Tsp), die Nicolas-Cage-Komödie "Massive Talent", in der Nicolas Cage Nicolas Cage spielt (SZ), Simon Brückners Dokumentarfilm "Eine deutsche Partei" über die AfD (FR), der im "Toy Story"-Universum angesiedelte Pixar-Animationsfilm "Lightyear" (Standard, ZeitOnline), Pascal Elbés Schwerhörigenkomödie "Schmetterlinge im Ohr" (SZ) und die Netflix-Dokuserie "Web of Make Believe" (taz). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
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Musik

Theodora Mavropoulos hat sich für die taz mit drei Musikern getroffen, die dank ihrer internationalen Netzwerke aus der Ukraine fliehen konnten, darunter die Harfenistin Veronika Lemishenko, die derzeit durch ganz Europa tourt, um die Erlöse in ihre Heimat zu schicken. Der Krieg "hatte für die Harfenistin selbst zunächst schwerwiegende Folgen. Sie musste ihren Arbeitsplatz verlassen - denn der lag in Russland in der Industrie- und Universitätsstadt Jekaterinburg. ... 'Als der Krieg begann, habe ich natürlich sofort gekündigt, denn es wäre für mich unmöglich, in einem Land zu arbeiten, welches meine Heimat angreift', sagt Lemishenko. Ihre russischen Kolleg:innen reagierten unterschiedlich, berichtet sie weiter. Einige sagten ihr, dass sie sich schämten, andere blieben still."

Karl Fluch erinnert im Standard an den 16. Juni 1972, als gleichzeitig wegweisende Alben von David Bowie und Roxy Music erschienen und die Ära des Glamrock ausriefen: "Pop war gewöhnlich geworden, Bowie und Roxy Music fanden das abstoßend, beide ergaben sich in ihrem Trotz der Extravaganz." So wurde auch "das Spiel mit sexuellen Identitäten erstmals auf die große Bühne und in den Mainstream gebracht. ... Es war der erste große Befreiungsschlag in den 1970ern. Mit Disco und Punk folgten zwei weitere, und zumindest Punk akzeptierte Glamrock als Wegbereiter, wenngleich er den Glamour gegen die Räudigkeit der Straße tauschte, den Glitzer gegen die Sicherheitsnadel."



Außerdem: Veranstalter André Béchir zeigt sich im NZZ-Interview enttäuscht darüber, dass das von ihm geplante Schweizer Rolling-Stones-Konzert wegen Mick Jaggers Corona-Infektion abgesagt werden musste. In der FR gratuliert Arno Widmann dem Komponisten Rolf Riehm zum 85. Geburtstag. Außerdem kürt Pitchfork die 39 besten Alben der ersten Hälfte von 2022.

Besprochen werden das Debütalbum der Rapperin Finna (taz), ein Konzert der Pianistin Khatia Buniatishvili (Standard) und neue Popveröffentlichungen, darunter ein Meditationsalbum von Alanis Morissette ("wirklich überhaupt nicht schlecht", muss SZ-Popkolumnist Jakob Biazza dann doch einräumen).
Archiv: Musik