Efeu - Die Kulturrundschau

Der reale Nicolas Cage

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16.06.2022. Die nmz macht einen Klang-Spaziergang im Berliner Westhafen. Van beschreibt, wie Tarkowski mit Bach zusammenarbeitete. Stocknüchtern, aber trotzdem saukomisch findet die Welt Simon Brückners Doku über die AfD, "Eine deutsche Partei". Putin ist nicht Russland, versichert der russische SF-Autor Dmitry Glukhovsky im Interview mit der Zeit. In der NZZ platzt Michael Wolfssohn angesichts der Debatte um die Documenta der Kragen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.06.2022 finden Sie hier

Musik

Antje Rößler hat für die nmz den Berliner Westhafen besucht, einen der größten Binnenhäfen Deutschlands. Dort war gerade die Landschaftskomposition "berlin westhafen - umschlagplatz klang" des Schweizer Künstlers Daniel Ott zu sehen und zu hören. Sieben Ensembles aus Berlins Freier Szene machen mit, unter der Regie von Enrico Stolzenburg: "Ott und Stolzenburg bespielen das Gelände in drei Kapiteln. Den Auftakt macht ein Klang-Spaziergang entlang des Hafenbeckens 1. Da läuft eine Flötistin über knirschenden Kies; Saxophonisten schwimmen auf einem Floß vorbei. Am Schrottplatz musizieren sechs Geiger zwischen geöffneten Container-Wänden, die den Effekt einer Konzertmuschel erreichen. Spektakulär wirkt die Bläserriege, die hoch oben auf dem Schwerlastkran apokalyptische Fanfarenklänge in den Abendhimmel bläst. Das Publikum knipst, was das Zeug hält, ist doch all das visuell sehr beeindruckend und Instagram-tauglich. Am Ende des Hafengeländes sitzt ein Saxophonist am Wasser, der Möwenschreie imitiert. Ein Beispiel dafür, wie Otts Instrumentalklänge den Charakter des Ortes unterstreichen. Was zunächst als freie Improvisation erscheint, ist in Wahrheit minutiös auskomponiert."

Volker Hagedorn lernt in seiner VAN-Kolumne, wie man im Kino schwebt: Indem man - wie etwa Andrei Tarkowski in "Solaris" - Johann Sebastian Bach auf den Soundtrack holt. "Wenn mit C-Dur die Dominante von f-Moll erreicht ist, geht es über ein Des in der Oberstimme zu einem Takt, der durch die fließende Bewegung der Mittelstimme zwischen As-Dur und c-Moll schwebt, weiter zu einem Des-Dur über einem C im Bass…man könnte auch sagen, auf Szene und Bilder bezogen, es ist, als breite die Musik ihre Arme weiter aus, um alles zu verbinden. ... Die Bilder von 'Solaris' zeigen uns das Potential dieser Musik, das über Religion hinausgeht und sich zugleich mit ihren Quellen berührt. Die großen Regisseure bedienen sich nicht bei Bach, sie arbeiten mit ihm zusammen."



Weitere Artikel: Sebastian Berweck berichtet in der nmz über die Superbooth, die Musikmesse in Frankfurt am Main: "Hier geht es weniger ums Anschauen oder zeigen von Produkten, sondern um das selber Handanlegen und Ausprobieren." In VAN blickt der finnische Dirigent Osmo Vänskä zurück auf seine Zeit beim Minnesota Orchestra, das er nach 19 Jahren verlässt, Albrecht Selge streift durch die Orchesterwerke von Richard Strauss und Arno Lücker widmet sich in dieser Woche den Komponistinnen Lucia Dlugoszewski (hier) und Modesta Bor (dort).

Besprochen werden ein Konzert der Einstürzenden Neubauten in Wien (Standard), ein Auftritt von Pussy Riot in Basel (NZZ) und ein neues Album von Rickolus, das laut tazlerin Ruth Fuentes in etwa so klingt als "wäre Bruce Springsteen etwas unbeschwerter und im Florida der neunziger Jahre aufgewachsen". Hier eine Kostprobe:

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Film

Kleine triste Welt: "Eine deutsche Partei" von Simon Brückner

Auf gewisse Weise hat Welt-Kritiker Frédéric Schwilden durchaus Freude an "Eine deutsche Partei", Simon Brückners Dokumentarfilm über die AfD, der ohne erhobenen Finger auskommt, auch nicht zum Ziel hat "vorzuführen" oder gar zu enttarnen, also "stocknüchtern" ist, "aber trotzdem saukomisch." Denn "die Partei, die wir da im Film sehen, ist ein Haufen von halbgebildeten Menschen, die angetrieben von Narzissmus und einem nationalen Hang zum Pubertären und Vulgären eine Schicksalsgemeinschaft bilden". Ähnlich gelagert ist auch Andreas Wilckes "Volksvertreter", der vor wenigen Wochen in die Kinos kam. Nach diesen beiden Filmen dürften "selbst einige AfD-Wähler*innen erkennen, wie armselig, klein und trist die Welt ihrer gewählten Volksvertreter ist", glaubt Gareth Joswig in der taz.

FR-Kritiker Daniel Kothenschulte erblickt in Brückners Film derweil einen späten Nachfahren des "cinéma vérité" wie beispielsweise eines Frederick Wiseman. "Es ist wirklich so wie 1965, als D. A. Pennebaker seinen Klassiker 'Hier Strauß' über den CSU-Politiker drehte: Man wundert sich über die Unbekümmertheit der Gefilmten. Einmal diskutieren Berliner Abgeordnete, ob sie einen Antrag für eine Verordnung stellen sollen, in jedem Klassenzimmer Grundgesetz und Deutschlandfahne vorzuhalten. 'Warum sollten wir denn in jedem Klassenzimmer ausgerechnet Artikel 1 aufhängen, mit dem Satz 'Die Würde des Menschen ist unantastbar'?', gibt ein AfD-Abgeordneter zu bedenken. ...  Schnell finden auch andere Parteifreunde Passagen des Grundgesetzes, die ihnen so gar nicht gefallen."

Der Film ist "eher ein dokumentarisches Sammelsurium rechtspopulistischer Partei- und Medienarbeit, denn eine stringente Analyse der diskursiven Kraftfelder in der Partei", meint Lukas Foerster im Perlentaucher. Als "Sittenbild einer politischen Interessengemeinschaft" fand er ihn aber doch interessant. Beeindruckt hat ihn vor allem eine Begegnung im Film: "Im Rahmen einer Tour durchs EU-Grenzgebiet tritt der AfD-Jungkader Aaron Kimmig in der bosnisch-kroatischen Grenzregion einer Gruppe afghanischer Flüchtlinge entgegen, befragt einen von ihnen über seine bisherige Reise und weiß schlichtweg nichts zu entgegnen, wenn sein Gegenüber freundlich und schlüssig darlegt, warum er die Strapazen nicht bereue und keineswegs vorhabe, umzudrehen. Die Szene hat keine unmittelbare Folgen, für den Mann aus Afghanistan ohnehin nicht, aber eben auch nicht für Kimmig, und gerade das macht sie stark. Sichtbar wird in diesem Moment, wohin die diskursiven Verhärtungen im aktuellen politischen Diskurs führen: zur Unfähigkeit, sich von der Welt da draußen irritieren zu lassen."

Massives Talent: Nicolas Cage als Nicolas Cage


Tom Gormicans Nicolas-Cage-Komödie "Massive Talent" führt ganz tief ins Spiegellabyrinth der Meta-Ebenen, schreibt Tim Caspar Boehme in der taz: Nicolas Cage spielt darin Nicolas Cage, dem dann auch noch der jüngere Nicolas Cage (gespielt von Nicolas Cage) entgegen tritt. Reizvoll ist das auch vor dem Hintergrund, dass Cage - sowohl in echt, als auch in diesem Film - viele Jahre so ziemlich jeden Schrottfilm runterkurbeln musste, um seinen Schuldenberg abzubauen. "Cage ist bei alledem in Hochform. Dass er sich so hinreißend selber spielt, könnte man zugleich als Auskunft über die Egozentrik des realen Nicolas Cage verstehen. Dem Film schadet das kein bisschen." Und "ein schöner Zug dieses nicht bloß für Nicolas-Cage-Fans unbedingt sehenswerten Films im Film ist die Selbstverständlichkeit, mit der er die anspruchsvollere Filmgeschichte zum solideren Mainstreamkino in Beziehung setzt."

Weitere Artikel: Immer höhere Kosten, immer mehr Konkurrenz, und zugleich immer abspenstiger werdende Kunden: Die Streaminganbieter - oder zumindest Netflix, das anders als Amazon und Disney über keinerlei zusätzlichen Einnahmequellen verfügt - kommen derzeit gehörig ins Schwitzen, berichtet Wilfried Urbe in der taz. Bei der DVD-Wiederveröffentlichung von Wolfgang Petersens Fernsehfilm "Die Konsequenz" aus dem Jahr 1972 nach dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Alexander Ziegler packen Welt-Kritiker Tilman Krause unbehagliche Zweifel: Ist der damals als einer der ersten deutschen Filme, die Homosexualität unter Männern sichtbar machten, im Grunde nicht die verkappte Geschichte eines Pädosexuellen? Mauro Müller schreibt in der NZZ einen Nachruf auf den Schauspieler Philip Baker Hall.

Besprochen werden Dario Argentos "Dark Glasses" (Perlentaucher), Nicolette Krebitz' "AEIOU" (Zeit, mehr dazu bereits hier und dort), Erik Haffners TV-Comedian-Blödelparade "Die Geschichte der Menschheit (leicht gekürzt)" (man "riskiert eine Erfahrung von Befremdung", schreibt Bert Rebhandl in der FAZ), Pascal Elbés "Schmetterlinge im Ohr" (Freitag), Jane Campions Klassiker "Das Piano", der nun wieder in die Kinos kommt (Tsp) und Dario Argentos Giallo "Dark Glasses" (Perlentaucher).
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Literatur

Thomas E. Schmidt unterhält sich für die Zeit mit dem russischen SF-Autor Dmitry Glukhovsky, dem es gelang, sich vor einem russischen Fahndungsbefehl fürs Erste in Deutschland in Sicherheit zu bringen. Selbst seine Anwältin erfuhr erst nach einem Monat, dass gegen ihn Anklage erhoben worden war - weil er auf Instagram den Krieg als Krieg bezeichnet hatte, was in Russland seit dem Angriff auf die Ukraine als Straftat geahndet wird. Dass er sich seit Januar im Ausland befindet, wurde ihm als Flucht ausgelegt. "Meine Kritik richtete sich immer auf die Politik Russlands", stellt er klar. "Der Unterschied ist wichtig: Wir können nicht hinnehmen, dass sich das Regime mit dem Land in eins setzt. Putin ist nicht Russland. ... Der Machthaber verschließt das Land gerade in seiner Vergangenheit. Er schickt es in die Sowjetzeit zurück."

Dem einstmals linken Publizisten Magnus Klaue platzt in der Welt gehörig der Kragen, angesichts "paternalistischer Volkspädagogik, die unter dem Alibi progressiver Publikumsbelehrung die unreglementierte Erfahrung von Kunstwerken zerstört". Solchen Zorn treffen die Begleittexte zu Kunstausstellungen und postkolonial argumentierende Nachworte zu Klassikern wie Huxleys "Schöne Neue Welt" oder Conrads "Herz der Finsternis", denen sich Klaue ausgeliefert sieht: "Fragwürdig an solchen Relektüren ist nicht etwa, dass sie eine unhaltbare Interpretation eines kanonischen Textes liefern würden - ihre Deutungen sind angreifbar, aber diskutabel, und ohne kritische Neudeutungen drohen kanonische Werke zu erstarren -, sondern dass sie diese Relektüre einem Massenpublikum als historisch verlässliches Wissen anbieten und so den eigenen Deutungscharakter verdecken. Propädeutische Aufgabe eines Nachwortes wäre es, widersprüchliche Interpretationsmöglichkeiten des Textes" aufzudecken.

Außerdem: Bernhard Malkmus stimmt im Freitag auf den heutigen Bloomsday ein. Besprochen werden unter anderem James Ellroys "Allgemeine Panik" (TA), Heinz Strunks "Ein Sommer in Niendorf" (online nachgereicht von der FAZ),  Helene Hegemanns "Schlachtensee" (Standard), George Saunders' "Bei Regen in einem Teich schwimmen" (Tsp) und Uwe Tellkamps "Der Schlaf in den Uhren" (Zeit).
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Bühne

Peter Kümmel besucht für die Zeit den Schauspieler David Bennent, der offenbart, dass er ein großer Schimpfer ist und immer noch viel an seinen Vater, den 2011 verstorbenen Schauspieler Heinz Bennent denkt. Der hatte sich als 18-Jähriger im Krieg noch zur Luftwaffe gemeldet. "'Er hat', sagt sein Sohn, 'fast nicht damit leben können, dass er überlebt hat.' Der Vater zog aus den Erfahrungen in der Nazi-Zeit den Schluss, nie wieder einer Gruppe, einem Verein, einer Clique angehören zu wollen. Er fand eine Frau, die Tänzerin Paulette Renou, die auch nicht dazugehören wollte; und dann bauten die beiden sich ihren eigenen Kosmos, ihre Familie: die Kinder Anne und David wurden geboren. Der Sohn ging nur kurz auf die Schule und wurde daheim von der Mutter unterrichtet. Man lebte oft in Griechenland, in einer Fischerhütte. Der Vater, sagt David, habe die Wut eines in die Enge getriebenen Tiers gehabt. 'Und wenn in einem Rudel ein Tier diese Wut hat, vibriert das ganze Rudel - auch die Kleinen.'"

Weitere Artikel: In der nachtkritik denkt Julischka Eichel über "Wir Schauspieler:innen" nach. "Es läuft nicht gut am Rosa-Luxemburg-Platz", warnt im Tagesspiegel Rüdiger Schaper mit Blick auf die Besucherzahlen der Volksbühne. Besprochen wird Jossi Wielers Inszenierung der "Die Meistersinger von Nürnberg" an der Deutschen Oper Berlin (gleich zwei mal in der nmz: hier und hier, und im Tsp).
Archiv: Bühne

Kunst

In der NZZ ist der Historiker Michael Wolffsohn echt geladen nach den Diskussionen um die Documenta. Er wirft den deutschen Veranstaltern vor, eingeladene Künstler und Intellektuelle aus vormals kolonisierten Regionen nur zu benutzen: "Stoßrichtung und Politvokabular im Text der indonesischen Ruangrupa gleichen dem der deutschen Kritiker der Bundestagsresolution, die 2019 BDS als antisemitisch bezeichnete. Klartext: Deutsche BDS-Sympathisanten instrumentalisieren jene indonesischen Muslime für ihren innerdeutschen Pro-BDS-Kampf und fördern dadurch Antisemitismus. Ruangrupa wiederum lässt sich offenbar gerne instrumentalisieren, denn jene Vorgehensweise entspricht ihren Überzeugungen, sorgt für Aufmerksamkeit und erhöht dadurch den eigenen Kurswert im Kunstbetrieb."

Auf der Pressekonferenz im Kasseler Auestadion gab man sich wenige Tage vor Eröffnung der Documenta fröhlich. Im Tagesspiegel ist Birgit Rieger leicht irritiert, dass sich die deutschen Veranstalter weder zu den Antisemitismusvorwürfen noch zu den rassistischen Schmierereien gegen Ruangrupa äußern wollten: "Sabine Schormann und Angela Dorn betonen das Existenzrecht Israels als Staatsräson. Recht viel mehr mehr gibt es zur Antisemitismusdiskussion nicht. Die Pandemie wird als besondere Herausforderung für die diesjährige Documenta wesentlich häufiger thematisiert."

Weitere Artikel: Philipp Meier begleitet für die NZZ die junge Schweizer Künstlerin Louisa Gagliardi auf der Art Unlimited in Basel, die für Kunstwerke im XXL-Format geschaffen wurde. Auch Gagliardi hat ein Bild dafür hergestellt.
Archiv: Kunst