Efeu - Die Kulturrundschau

Sprich über die Hoffnung

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28.06.2022. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geht in diesem Jahr an den ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan. "Naheliegend, aber perfekt" findet der Tagesspiegel die Entscheidung. Die Berliner Zeitung lernt von Zhadan, an die Zukunft zu gauben. "Slawa Ukraini!", ruft die NZZ. Die SZ bewundert Luigi Dallapiccolas Sinns fürs Kantable, der seine Oper "Ulisse" schöner mache, als es Zwölftonmusik eigentlich erlaubt. Die FAZ freut sich, dass Kärnten sich nicht mehr für Günther Domenigs Steinhaus schämt. Crescendo sieht in Salzburg einen Zug gegen die Wand rasen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.06.2022 finden Sie hier

Literatur

Serhij Zhadan (2019). Foto: Mykola Swarnyk, unter CC-Lizenz


Der ukrainische Dichter Serhij Zhadan wird mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Das ist eine sehr gute Nachricht, freut sich in der Berliner Zeitung Cornelia Geißler, dem Menschen wie dem Autor gleichermaßen zugetan: "Sein Schreiben, ob in Lyrik oder Prosa, in Essays oder Rocksongs, ist von Anfang an auch politisch. 'Im Frühherbst Anfang der Neunziger konnte man sterben/ nur weil man Wörter benutzt hatte wie: Frühherbst, frühe Neunziger', heißt es in seinem Gedicht 'Revolver und Rosen' von 2007, die Umbruchzeit aufnehmend... In seinem jüngsten Gedichtband 'Antenne', 2020 auf Deutsch erschienen, schreibt er: 'Kühner Dichter der Schleusen an den europäischen Flüssen, Dichter eines Landes, das wehrlos stirbt, wenn es den Winter spürt, sprich über die Hoffnung; über Angst und Ausweglosigkeit sprechen jene, die nicht lesen.'"

"Wohl und Ehre dem Land, das solche trefflichen Söhne hat. Slawa Ukraini!", ruft in der NZZ Andreas Breitenstein. "Eigentlich wusste Serhij Zhadan schon immer, was in der Luft lag. 'Später wird es einmal Krieg heißen' war im August 2014 ein Beitrag von ihm im Feuilleton der NZZ überschrieben. Darin schilderte er, wie sich die Kämpfe intensivierten, die nach der russischen Annexion der Krim ferngesteuert aus Moskau von den auf Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit pochenden Separatistengebieten Donezk und Luhansk ausgingen. In der Ukraine wuchs die Angst, erste Wehrpflichtige wurden eingezogen; doch das zivile Leben ging weiter, geradezu verbissen klammerte man sich an den Alltag. Das verwirrliche Aufkommen einer Parallelwelt und die kollektive Lähmung vermochte Zhadan hier in unnachahmlicher Weise zu fassen."

Andere Literaturkritiker stimmen in den Glückwunschchor ein: Dass Zhadan den Krieg kommen sah, dürfte jedoch nicht der Hauptgrund für den Friedenspreis sein, schreibt auf Zeit online Björn Hayer. "Als entscheidend erweist sich vielmehr seine in unterschiedlichen Genres entfaltete Poetik des Mutes und der Selbstermächtigung. Denn immer wieder erzählen seine Texte von Protagonisten, sich gegen Übermächte zu Wehr setzen. In dem 2012 erschienenen Roman 'Die Erfindung des Jazz im Donbass', jenem Werk, das ihn auch im deutschsprachigen Raum einer größeren Leserschaft bekannt machte, trifft man etwa auf die Hauptfigur Herman, der eine Tankstelle gegen das politische und wirtschaftliche Kapital eines Oligarchen zu verteidigen weiß." In der FR freut sich Judith von Sternburg: "In seinen Büchern bewegt sich Zhadan mit wunderbarer Sicherheit zwischen den Sprachen und Bevölkerungen - man könnte darüber lächeln, wie die einen Charkiw und die anderen Charkow sagen, aber das Lächeln ist einem vergangen." Und im Tagesspiegel lobt Gerrit Bartels: "Diese Wahl ist naheliegend - aber sie ist perfekt, im Grunde lange überfällig und die beste, die der Stiftungsrat des Friedenspreises in diesem Jahr treffen konnte". Weitere Glückwünsche gibt es in SZ und FAZ.

Im Interview mit der Welt erklärt Zhadan, warum er in Charkiw bleibt und nicht ins Ausland geht: Er würde verrückt werden, sagt er, in der Ukraine könne er wenigstens etwas tun. "Wir bringen Soldaten, wie jeden Tag seit Monaten, Geschenke. Militärausrüstung, etwas Munition. Unsere Armee braucht alles, nicht nur diejenigen, die von Anfang an im Kampfeinsatz waren, sondern auch die neuen Einheiten. Wir bringen ihnen Schuhe, Kleider, Unterwäsche, alles finanziert durch private Spenden. Die einen geben 100 Hrywny, ein anderer ein paar hundert Dollar oder mehr. Wir bringen Pickups und Vans an die Front, die im Ausland gekauft wurden. Wir sammeln zerschossene Autos, finden Ersatzteile und Reifen, und unsere Spezialisten in Charkiw flicken das zusammen, und dann, wenn auch mit Dellen, geht es wieder ab in den Kampf. ... Wir verteilen Sachen. Spielen Konzerte mit einem Ensemble aus Musikern und Lyrikern. Jetzt hilft uns der Westen, und die Russen werfen Bomben auf uns. So ist das Leben. Wir spielen aber auch auf der Straße für normale Passanten und für die Armee."

In der taz bewundert Katja Kollmann Zhadans Mut: "Wie waghalsig es sein kann, sich öffentlich zu äußern, zeigt das aktuelle Beispiel der letztjährigen Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga: Sie hatte 2020 an regierungskritischen Protesten in ihrer Heimat Simbabwe teilgenommen, war kurzzeitig verhaftet worden und steht nun vor Gericht." Inzwischen ist ein Haftbefehl gegen sie erlassen worden, weiß Fridtjof Küchemann (FAZ): "Siebenundzwanzigmal hat die Schriftstellerin und Filmemacherin in dieser Sache seitdem schon vor Gericht erscheinen müssen. An diesem Montag hätte, wieder einmal, der letzte Termin sein können: Diesen Tag hatte die Vorsitzende Richterin festgelegt, um die Entscheidung zu verkünden, ob das Verfahren auf Antrag der Verteidigung eingestellt wird. Das wäre ein eher unauffälliges Ende des Prozesses gewesen, in dessen Verlauf selbst einer der drei Polizisten, die Dangarembga und Barnes vor zwei Jahren verhaftet hatten, als Zeuge aussagte, die beiden Angeklagten haben lediglich ihre in der Verfassung Simbabwes verbrieften Grundrechte wahrgenommen. Doch das Verfahren scheint auf Einschüchterung angelegt: nicht allein der beiden Angeklagten, sondern aller Oppositionellen in Simbabwe, die hier einmal mehr vorgeführt bekommen, dass in ihrem Land weder offensichtliche Friedfertigkeit noch internationales Renommee vor einer solchen Behandlung schützen."

Weiteres: Besprochen werden Adania Shiblis Roman "Eine Nebensache" (FR, mehr dazu auch von Angela Schader im Perlentaucher), Louis-Ferdinand Célines neu entdeckter Roman "Guerre" (NZZ), Nicolas Mahlers Comic "Romy Schneider - Alle Filme neu angeschaut und gezeichnet" (Tsp), Gregor Sanders Roman "Lenin auf Schalke" (SZ), Claudio Magris' Erzählband "Gekrümmte Zeit in Krems" (FAZ), Deborah Nelsons Band "Denken ohne Trost" (FAZ) und Ferenc Barnás' Roman "Bis ans Ende unserer Leben" (FAZ).
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Bühne

Luigi Dallapiccolas "Ulisse". Foto: Barbara Aumüller / Oper Frankfurt

"Ulisse" war die letzte Oper des italienischen Komponisten Luigi Dallapiccola, und in der SZ freut sich Michael Stallknecht, dass sich Tatjana Gürbaca an der Frankfurter Oper dieses schwierigen Werkes angenomment. Es geht darin um den Menschen der Moderne, der alles erforscht, sich aber selbst fremd geworden ist, wie Stallknecht erklärt: "'Ulisse' ist kein Theaterwerk im eigentlichen Sinne, dazu mangelt es an dramatischen Verwicklungen, reflektieren sich die Figuren zu sehr selbst. Sie singen dabei freilich schöner, als es zwölftöniges Komponieren meist erlaubt. Mit unverkennbar italienisch geprägtem Sinn für das Kantable erkundet Dallapiccola die Möglichkeiten sämtlicher Stimmfächer. Da ist beispielsweise Katharina Magiera, die mit sämigem Alt in die Tiefengründe von Kirke und Melantho steigt, die dramatisch ergreifende Claudia Mahnke, der Ulisse als seiner toten Mutter im Hades begegnet, der süffige Tenor von Brian Michael Moore als Eumäos oder der markant virile Danylo Matviienko als Freier Antinoos. Sie alle bleiben aber letztlich Episode, während Iain MacNeil als Ulisse alles zusammenhält, mit einem herrlich bronzen gesättigten Bariton, der in der Höhe eine fast tenorale Wärme verströmt." Große Opernmusik und fein gebaute Bilder in Gürbacas Inszenierung weiß Judith von Sternburg in der FR zu schätzen. Auch in der FAZ lobt Wolfgang Fuhrmann das hohe philosophische und musikalische Niveau der Inszenierung.
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Architektur

Günther Domenigs Steinhaus am Ufer des Ossiacher Sees. Foto: Günther Domenig

Es gab Zeiten, da wurde das berühmte Steinhaus des Kärtner Architekten Günther Domenig aus den Prospekten der Fremdenverkehrsämter herausretuschiert, weiß Matthias Alexander, der sich in der FAZ um so mehr freut, dass das Museum Moderner Kunst in Klagenfurt nun diesen Baukünstler mit einer großen Ausstellung würdigt: "Wohl kein Architekt auch außerhalb von Österreich hat so wie er alle relevanten Stilrichtungen in den Jahren nach 1960 erprobt, und zwar im Entwurf wie in der Praxis: Brutalismus, Strukturalismus, organische Architektur, Dekonstruktivismus. Nur eines findet man im Werk von Domenig nicht: jene Spielart der Postmoderne, die ostentativ mit historischen Stilzitaten gearbeitet hat. Säulchen, Friese, Kapitelle gibt es bei ihm nicht. Domenig war immer Avantgarde, weshalb der Vorwurf des Modischen ihn trotz seiner stilistischen Wandlungsfähigkeit nicht trifft."
Archiv: Architektur

Kunst

Im Standard berichtet Jo Angerer, dass der russischen Künstlerin und LGBT-Aktivistin Julia Zwetkowa drei Jahre Haft drohen, die Staatsanwaltschaft von Komsomolsk findet Zwetkowas Arbeiten anstößig: "Seit Jahren erhält sie Strafen, weil sie etwa gleichgeschlechtliche Paare mit Regenbogenmotiven abbildet. Die Zeichnungen weiblicher Geschlechtsorgane, für deren Veröffentlichung im Netz sie jetzt ins Straflager soll, gehören zu einer Sammlung mit dem Titel 'Eine Frau ist keine Puppe'. Ihre Werke sieht die Künstlerin, wie im Übrigen auch viele Kunstexperten, die auf Gemälde großer Meister von nackten Frauen in den Museen der Welt verweisen, als das krasse Gegenteil von Pornografie. Menstruation, Falten, Dehnungsstreifen, graue Haare und Körperbehaarung werden thematisiert."

Weiteres: In der NZZ stellt Thomas Ribi fest, dass das neue Leitungsduo des  Kunsthaus Zürich, Ann Demeester und Philipp Hildebrand, bei seinem Amtsantritt Antworten schuldig geblieben ist, vor allem auf Fragen der Provenienzforschung zur inkriminierten Bührle-Sammlung. In der FR spaziert Claus Leggewie recht angeregt über die Berlin Biennale, mit der ihm der französische Künstler Kader Attia die Lücken in seinem kolonialgeschichtlichen Gedächtnis füllt. Im Tagesspiegel meldet Nicola Kuhn erleichtert, dass die Rieckhallen dem Hamburger Bahnhof erhalten bleiben. In der Berliner Zeitung empört sich Ingeborg Ruthe, dass sich die Berliner SPD dezidiert hinter den Unternehmer Walter Smeling und seine private Pseude-Kunsthalle am Flughafen Tempelhof stellt. Und "irgendie ganz schön toll" findet Julia Werner in der SZ die Yacht, die Jeff Koons für den zypriotischen Bau-Milliardär Dakis Joannou in Pop-Art-Manier gestaltet hat und die jetzt vor Hydra den stilbewussten Kunst-Jetset beeindruckt: "Aber: Eine Dior-Tasche wäre hier verpönt, man ist nicht auf Mykonos."


Besprochen werden eine Ausstellung über die Fotografin Sibylle Bergemann in der Berlinischen Galerie (taz), die Isamu-Noguchi-Ausstellung im Kölner Museum Ludwig (FAZ) und die Ausstellung "Diversion", für die der New Yorker Künstler Asad Raza den Main ins Frankfurter Kunsthaus Portikus umleitet (taz).
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Film

In der Berliner Zeitung empfiehlt Felix Lill die Serie "Haus des Geldes: Korea" bei Netflix. Claudia Reinhard hat weitere Streaming-Tipps zusammengestellt. Und Dietmar Dath annonciert den fünften FAZ-Filmabend mit "Die kleine Hexe".
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Musik

taz-Kritiker Christian Werthschulte hat sich ganz gut amüsiert bei der Monheim Triennale, einem Festival für experimentelle und elektronische Musik. Nur die Musik des 21. Jahrhundert hätte stärker vertreten sein können, meint er. Die Kuratoren hätten "weitgehend darauf verzichtet, Künstler:innen von der Schnittstelle zwischen Clubmusik und elektronischem Experiment einzuladen, wie sie etwa auf Labels wie PAN und Hyperdub gepflegt wird. Ausnahme ist Hibo Elmi, DJ und Produzentin vom ugandischen Kollektiv Nyege Nyege. Zusammen mit dem britisch-ugandischen Drumensemble Nihiloxica  mischt sie elektronische Drones mit prozessiertem Gesang sowie den Sound dreier Trommler aus der Buganda-Tradition zum 45-minütigen, rhythmischen Exorzismus. 'Ich habe mir den Arsch abgetanzt', sagte die Moderatorin des Festivals nach dem gemeinsamen Auftritt. Darauf lässt sich doch aufbauen."

Der flämische Dirigent Philippe Herreweghe hat in Antwerpen Robert Schumanns Opernoratorium "Faust-Szenen" zur Aufführung gebracht, inszeniert hat Julian Rosefeld. "Ein Wolpertinger, ein Zwitter aus weltlichem Oratorium, Kantate, Chorsinfonie und auch Oper", wie inszeniert man das, fragt Manuel Brug in der Welt. Und gibt auch gleich Antwort: "Als alleruhigst und tiefenentspannt dahingleitende Mischung aus Hommage an '2001: Odyssee im Weltraum' (inklusive durchs All schwebendem Kubrick-Knochen), anthroposophischem 'Faust'-Ringelreihen wie im Dornacher Goetheanum (in Steinerscher Manier eurythmisiert von der Choreografin Femke Gyselinck), und chillig unendlichem, wokem, drogenleichtem Wald-Rave in Slow Motion. Das passt gut zu Herreweghes pastellig sanft lasierter, calvinistisch hellklarer Musizierhaltung".

Noch ist Teodor Currentzis bei den Salzburger Festspielen fest eingeplant. Eine Recherche Axel Brüggemanns' hat allerdings gezeigt, das  Currentzis dem Putinismus tief verbunden ist (unser Resümee). Zu seinen Förderern gehören engste Vertraute des russischen Staatschefs, etwa der Vorsitzende der VTB-Bank, und er tourt für Gazprom. Axel Brüggemann fragt in seinem Crescendo-Newsletter: "Kann man Currentzis' VTB-Treue und seine neu entdeckte Gazprom-Liebe anders auslegen, als dass er auf Seiten von Putins Russland steht? Trotz mehrfacher Aufforderung - auch von (Salzburg-Chef Markus) Hinterhäuser -  weigert er sich beharrlich, eine Stellungnahme abzugeben und stellt sich immer tiefer in den lukrativen Dienst Putins. Ebenso wie bei der Documenta scheint da gerade ein Zug vor aller Augen auf eine Wand zuzurasen."

Besprochen werden ein Konzert von Iggy Pop in der Alten Oper Frankfurt (FR), Drakes Album "Honestly, Nevermind" (Tsp) und ein "Beethoven-Wandelkonzert" der Kammeroper Schloss Rheinsberg (Tsp).
Archiv: Musik