Efeu - Die Kulturrundschau

Ich bin ein bisschen sauer

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09.07.2022. Meron Mendel hat die Nase voll von Sabine Schormanns Hinhaltetaktik und wirft hin, wie er im Spiegel erklärt. Den Machern wirft er in der SZ außerdem "neokoloniales" Verhalten gegenüber Ruangrupa vor. Die FAZ gönnt sich lieber Glückssekunden mit Sascha Wiederhold in der Neuen Nationalgalerie. Die SZ blickt in die Zukunft der Mode mit den genderlosen Menschenskulpturen von Balenciaga. Die nachtkritik zieht eine nüchterne Pollesch-Bilanz an der Volksbühne: Castorf war rauflustiger, seufzt sie. Und alle trauern um Klaus Lemke und James Caan.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.07.2022 finden Sie hier

Kunst

Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, hat seine Beraterfunktion bei der Documenta aufgegeben. Er vermisse "den ernsthaften Willen, die Vorgänge aufzuarbeiten und in einen ehrlichen Dialog zu treten", sagt er im Spiegel-Gespräch mit Christoph Schult und glaubt, dass "auf Zeit gespielt werden sollte, bis die Documenta 15 vorüber ist": "Erst mal herrschte zwei Wochen kompletter Stillstand, was die Bewertung der Kunstwerke betrifft. Telefonanrufe blieben unbeantwortet, und auch meine Bitte, mit den Kuratoren um Ruangrupa zu sprechen, wurde mit Ausreden auf die lange Bank geschoben. Wenn ich mich nicht selbst bemüht hätte, wäre wohl kein Vertreter von Ruangrupa bei der Diskussionsveranstaltung anwesend gewesen, die die Bildungsstätte Anne Frank mit organisiert hat." Im SZ-Gespräch mit Jörg Häntzschel wird Mendel noch konkreter: Von der Krankheit, aufgrund derer sich Schormann am Mittwoch im Kulturausschuss entschuldigte, sei in den Mails an ihn keine Rede gewesen, zudem habe man das Gespräch mit Ruangrupa verhindert: "'Für mich ist das eine neokoloniale Verhaltensweise. Sie werden behandelt wie kleine Kinder.'"

Und auch Hito Steyerl hat die Documenta-Macher aufgefordert wegen des Antisemitismusskandals ihr Kunstwerk abzubauen, wie Tobias Timm bei ZeitOnline berichtet: Sie wolle "den anhaltenden Mangel an organisatorischer Verantwortlichkeit und die fehlende Kontrolle hinsichtlich 'antisemitischer Inhalte, die auf der documenta fifteen an ihrem zentralen Ort gezeigt wurden, nicht unterstützen'."

Die Documenta GmbH und die Stadt Kassel haben als Gastgeber versagt, schreibt der Architekturhistoriker Philipp Oswalt, der bis Ende 2020 am Gründungsprozess des documenta-Instituts beteiligt war, bei ZeitOnline. Irritierend findet er etwa die Tatsache, dass im Vorfeld immer wieder versichert wurde, nicht in die Kunstfreiheit eingreifen zu wollen und Schormann sich auch später nur noch als Geschäftsführerin ohne inhaltliche Verantwortung verstanden wissen wollte: "Auf welcher Basis konnten dann Generaldirektorin und Kuratorenteam Monate zuvor versichern, dass auf der Ausstellung keine Kunstwerke mit antisemitischen Inhalten gezeigt werden? Und was soll der neue Titel 'Generaldirektorin' bedeuten, auf den Sabine Schormann bei ihrer Berufung als Geschäftsführerin insistiert hatte? (…) Angriffsflächen werden tunlichst vermieden. Die bevorzugte Strategie ist, sich im Konfliktfall wegzuducken."

Die Ausschusssitzung des Bundestags über den Documenta-Gau (unsere Resümees) ging am Donnerstag weiter. Die Ruhrbarone Stefan Laurin und Thomas Wessel berichteten gestern unter anderem über eine Intervention der CDU-Abgeordneten Gitta Connemann, die den Skandal als Eklat mit Ansage bezeichnete: "Connemann nahm auch die Kulturfunktionäre in Haftung, die den Aufruf der 'Initiative GG 5.3 Weltoffenheit' unterzeichnet hatten und wies darauf hin, dass sich die Initiative bei Roths rechter Hand, Ministerialdirektor Andreas Görgen für fachlichen Rat bedankt hatten. Zu denen, die den Aufruf unterschrieben, der den Erhalt der Freiräume des BDS und seiner Anhänger in Deutschland forderte, gehörte damals Hortensia Völckers, die 'Künstlerische Leiterin' der Kulturstiftung des Bundes, welche die Documenta mitfinanzierte." Für die FAZ resümiert Stefan Trinks die Sitzung.

In der FR will Lisa Berins indes von den Südostasien-Expertinnen Vanessa Gliszczynski und Amanda Katherine Rath wissen, wie die antisemitischen Motive in das Banner kommen konnten: "'Bilder und Symbole werden kopiert, sie kursieren über Jahre, Jahrzehnte, und die originäre Bedeutung, der Kontext, gehen verloren oder werden neu bestimmt', sagt Amanda Katherine Rath. 'Das Problem in Indonesien ist', sagt Gliszczynski, 'dass es dort keine Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah gibt. Aus indonesischer Sicht ist Deutschland weit weg. Sie haben ihre eigenen, massiven Probleme und ein unaufgeklärtes Verbrechen, das noch immer bis in die heutige Gesellschaft hineinwirkt.'"

Bild: Sascha Wiederhold, Bogenschützen, 1928. Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, erworben 2021 durch die Ernst von Siemens Kunststiftung. Foto: Galerie Brockstedt © Sebastian Schobbert © Rechtsnachfolger Sascha Wiederhold

Den Rausch der Großstadt der 1920er spürt Andreas Kilb in der Neuen Nationalgalerie, die dem vergessenen Maler Sascha Wiederhold die erste Ausstellung seit knapp 50 Jahren widmet. Zu sehen ist auch sein Hauptwerk "Jazz-Symphonie" von 1927, "das größte Format, das er je gemalt hat. Auf drei mal viereinhalb Metern hält es, durch die Beischrift beglaubigt, das Treiben auf dem Kostümball der Novembergruppe in der alten Philharmonie am 5. Dezember 1925 um 2 Uhr 25 fest. Die Schreckensvision der tausend Augen, die man aus Fritz Langs 'Metropolis' kennt, hat sich bei Wiederhold in die Glückssekunde der hundert Körper verkehrt. Rings um das Liebespaar in der Mitte bilden die Tanzenden ein dichtes Gewebe aus Augen, Mündern und Kleidern. Das Dekorative hat hier Beschreibungsqualität, es fasst das Geschehen des Abends in einem gewaltigen Aperçu zusammen. Für Wiederhold muss es ein Versprechen gewesen sein: 'er darf wiederkommen' steht in Druckbuchstaben in der rechten unteren Ecke des Bildes."

Außerdem: Für die Seite 3 der SZ besucht Kai Strittmatter die Künstlerinnen, die in Venedig das erste Mal den Samen-Pavillon bespielen. Besprochen werden die von María López-Fanjul y Díez de Corall entwickelte Ausstellungsreihe "Der zweite Blick" im Berliner Bode-Museum (Tagesspiegel), eine Ausstellung mit Zeichnungen von Maria Lassnig im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum (Standard), die Ausstellung "Die Schrecken des Krieges. Goya und die Gegenwart" in der Wiener Albertina (NZZ) und die Ausstellung "Double Bind/Threshold Barriers" des niederländischen Künstlers Aernout Miks in der Frankfurter Schirn (FAZ).
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Literatur

Im "Literarischen Leben" der FAZ erinnert Markus Bauer an die "Aktionsgruppe Banat", die in den frühen Siebzigern die deutschsprachige Literatur Rumäniens aus einer Schülerinitiative heraus nach vorne brachte. "'Am erstaunlichsten, ja geradezu phantastisch ist die große Zahl der Dichter, die auf den Seiten der Schülerbeilage zu einer Konkurrenz antreten, die in den letzten 20 Jahren innerhalb der deutschen Literatur unseres Landes nicht ihresgleichen hat (. . .) 31 neue Namen in einem halben Jahr!" ruft der Schriftsteller Paul Schuster, der bereits 1971 das Land verlassen wird, in der Neuen Literatur aus." Denn "das war im Kalten Krieg aus westlicher Perspektive kaum zu erwarten: eine eigenständige, nicht vom Repressionsapparat gelenkte (wenn auch genau überwachte) Gruppe; die Lektüre und Diskussion westlicher marxistischer und avantgardistischer Literatur als Basis der Gruppenadhäsion; die Provokation der älteren Kriegsgeneration dieser Minderheit durch die ostentative Orientierung am globalen Kulturzusammenhang der rebellierenden Achtundsechziger-Generation mit Rockmusik, langen Haaren."

Außerdem: Julia Lorenz ärgert sich in der taz darüber, dass Martina Läubli kürzlich im NZZ-Magazin Autorinnen angeblich zu körperbetonte Selbstvermarktung auf Instagram vorwarf - dabei gebe es auf der Plattform doch weißgott genug andere "Murksmechanismen" auf Social Media, die man viel eher kritisieren könnte. In der SZ gratuliert Nico Bleutge dem Lyriker Jürgen Becker zum 90. Geburtstag, Dlf Kultur bringt dazu passend ein Literaturfeature von Nadja Küchenmeister. Helmut Böttiger bespricht in der taz Beckers "Gesammelte Gedichte".

Besprochen werden unter anderem Rachel Cusks "Coventry" (Dlf Kultur), Delphine de Vigans "Die Kinder sind Könige" (Tsp), Katherine Mansfields "Die Aloe" (NZZ), Norbert Scheuers "Mutabor" (Tsp), Saidiya Hartmans "Aufsässige Leben, schöne Experimente" (taz) und Judith Drews illustriertes Buch "Mielikki" (Tsp).
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Film

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Auf erste Nachrufe auf Klaus Lemke (und viele Mediathek-Fundstücke) hatten wir gestern schon verwiesen. Nun liefern die Feuilletons nach. "Trauerbeflaggung allenthalben wäre jetzt angezeigt", seufzt Dominik Graf auf ZeitOnline. Lemke zielte auf "ein Kino der im wahrsten Sinn Augen-Blicke und der unverwechselbaren Dialog-Sprache, der rauen deutschen Oberflächen und Orte", doch war er "dabei in den Gefühlen der Figuren zueinander (oder voneinander weg) im Grunde so zärtlich wie kaum eine:r. Auch ein Kino der labyrinthischen Erzählformen, denn es passiert schon in 'Rocker', dass mitten im Film die Hauptfigur wechselt. 'Rocker' ist Avantgarde! Und ethnologische Randgruppenforschung gleichzeitig." Überhaupt "Rocker", den das ZDF gerade in die Mediathek gestellt hat: Mit diesem Film fand Lemke nach Ausflügen in die Welt der großen Budgets seinen eigenen Stil: Es war der Film, "mit dem er seine Methode erfand, eine Stadt und ihre Menschen so unmittelbar zum Sprechen zu bringen, wie das keinem anderen Filmemacher mehr gelingen sollte", schreiben Tobias Kniebe und David Steinitz in der SZ. "Nur Lemke schaffte es, solche Momente reiner Schönheit und Wahrheit aufzuspüren und auf Film zu bannen."

Lemkes "Spiel mit der Coolness überzeugte, weil er selbst der Coolste war", schreibt Daniel Kothenschulte in der FR. "Noch am 24. Juni veranstaltete der 81-Jährige beim Münchner Filmfest eine Ein-Mann-Demonstration mit einem Pappschild 'Kunst kommt von Küssen'." Auch darin zeigt sich: Lemke war der letzte Jungfilmer, schreibt Claudius Seidl in der FAZ: "Je mehr er sich, rein altersmäßig, von der Jugend entfernte, desto stärker fühlten sich die Blicke seiner Filme von dieser Jugend hingezogen; manchmal sah es so aus, als brauchte er für seine Filme nicht viel mehr Plot als nur den Willen, den Jungen beim Jungsein zuzusehen." Er hatte einen ganz eigenen "ein Sinn für Körper, ein Gespür für Stimmen, ein starkes Bewusstsein davon, dass Schönheit beides ist: eine Gnade. Und ein Produkt, dessen Herstellungsbedingungen er sehr gut kannte." Schließlich wollte er aber "echte Menschen vor der Kamera, keine Selbstdarsteller", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. Insbesondere in seinen Kretschmer/Fierek-Komödien machte Lemke das bayerische Lokalkolorit cool, schreibt Jürg Zbinden in der NZZ. Die SZ bringt eine kleine Notiz seines Wegbegleiters Wolf Wondratschek. Im Welt-Gespräch schwärmt der Filmemacher RP Kahl über Lemke.

Der zweite große Filmverlust dieser Tage: James Caan. Der Schauspieler "war der Vorschein der nächsten Moderne im alten Hollywood", schreibt Georg Seeßlen auf ZeitOnline. In den Siebzigern kam dann seine große Zeit, als Amerika an sich zu leiden begann: Das Land "wird nie mehr sein, was es einmal war, und James Caan ist genau dort, wo dieser Verlust unleugbar wird. Einen falscheren Ort auf dieser Welt gibt es nicht. Doch all diese Entfremdung spielte sich bei ihm viel tiefer ab als bei vergleichbaren Leinwandmännern seiner Zeit, Robert Redford oder Paul Newman etwa. Caan war keiner, der davon reden kann, was ihn erzürnt. Er konnte es nur mit seinem Körper ausdrücken. An seinen Bewegungen war nichts schlaksig oder elegant, er wandte sich und bot doch wieder zu viel Angriffsfläche. Er suchte den richtigen Platz für sich und wusste doch im tiefen Inneren, dass es den für ihn nicht gab. So wurde Caan der Verlorene der Achtzigerjahre." Weitere Nachrufe schreiben Maria Wiesner (FAZ) und Marion Löhndorf (NZZ).

Die Agenturen melden, dass der iranische Filmemacher und Berlinale-Gewinner Mohammad Rasoulof im Iran verhaftet wurde: Zur Last gelegt wird ihm, "die psychologische Sicherheit der Gesellschaft gestört" zu haben, weil er nach einem Einsturz eines Hochhauses in einem offenen Brief die Korruption im Land kritisiert hatte.

Außerdem: In der SZ erklärt der Regisseur Jan Bonny, warum seine für Netflix entstandene Wirecard-Satire "King of Stonks" ausgerechnet in Düsseldorf spielt: "Ich habe in meiner Heimatstadt von Geburt an so viele Idioten beobachtet, dass ich zehn Serien damit füllen könnte. Zugleich ist es die schönste Stadt der Welt." Esther Buss empfiehlt im Tagesspiegel eine Werkschau der japanischen Filmemacherin Kinuyo Tanaka im Berliner Kino Arsenal. Besprochen werden die Serie "Gaslit" über den Watergate-Skandal (Jungle World), Taika Waititis Marvel-Blockbuster "Thor - Love and Thunder" (NZZ) und die Apple-Serie "Black Bird" (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Bild: Oliver Look

Was für ein Auftakt, schwärmt Helmut Ploebst im Standard, nachdem mit Pina Bauschs Tanztheaterstück "Vollmond" das Wiener Impulstanz-Festival im Burgtheater eröffnet wurde: "Bei Vollmond lassen Tänzer anfangs Wasserflaschen hauchen, veranstalten Geschicklichkeitsspiele mit Gläsern oder Steinen. Eine wenig beeindruckte Frau drängt einen Mann mit einer Küsschenattacke ab. Vielfaches Beziehungsgeplänkel schäumt und spritzt auf. Dabei melden sich beinahe nur die Tänzerinnen zu Wort, während den Männern die Felle ihrer Dominanz buchstäblich davonschwimmen. Auftritte und Abgänge erfolgen in kurzen Abständen, ein Witz folgt dem anderen: Eine Tänzerin mit Messer in der Hand reibt sich wie manisch mit einer Zitronenhälfte ein und bemerkt: 'Ich bin ein bisschen sauer.'"

Eine nüchterne Bilanz der ersten Spielzeit unter Rene Pollesch an der Volksbühne ziehen Janis El-Bira und Esther Slevogt in der nachtkritik. Es gab eine Menge Pollesch, auch gelungene Inszenierungen wie "Geht es dir gut?" mit Fabian Hinrichs, insgesamt aber scheiterte die Reanimation am Fehlen von Castorf: "Zu tun haben dürfte das auch mit der Tatsache, dass mit René Pollesch ein Name über dem ganzen 'Projekt' steht, der zwar zum innersten Kreis der alten Castorf-Volksbühne zählte, sich an dieser aber mit seiner diskurslastigen Pop-Ästhetik eben auch bestens reiben konnte. Pollesch ist in seinem Kunst- und Gesellschaftsverständnis womöglich viel näher an seinem Vor-Vorgänger Chris Dercon als viele glauben mögen. Rauflustig wie ein Castorf war er zumindest auch früher schon nicht. Einem so verbindlichen Menschen gelingt es indes eventuell schlechter, durchzuregieren und die Geister zu bannen."

Außerdem: Ganz überzeugt ist Joseph Hanimann in der nachtkritik nicht, wenn Amir Reza Koohestani beim Festival d'Avignon in seinem Stück "En Transit" Anna Seghers' Roman über die Flucht vor dem Nazi-Regime auf heutige Erlebnisse von Exilanten in den "Behörden-Labyrinthen" der EU überträgt: "Solche in die Vergangenheit zurückprojizierten Eigenfiktionen bekommen erst klares Profil, wenn der Fokus auf die Kontraste statt auf die vage assoziierten Ähnlichkeiten gesetzt ist." Besprochen wird außerdem Selen Karas Inszenierung von Fatma Aydemirs Roman "Dschinns" am Nationaltheater Mannheim (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Design

Achtung, Ansage: "Mode war niemals egaler als heute", schreibt Tanja Rest in der SZ: Überall nur unnützer Unfug für teures Geld und eine Branche ganz tief in der Identitätskrise, den Zeitgeist prägt man eh schon lange nicht mehr und umweltschädlich ist das alles auch noch. Aber dann begann eben doch die Haute-Couture-Show von Balenciaga und mit einem Mal steht für die Mode nichts als Zukunft im Raum - nicht weil man sämtliche Stücke gerne tragen will, sondern weil "die Show Gefühle weckte, die über die Mode selbst hinauswiesen. Existenzielle Gefühle. Und das ist etwas völlig Anderes." Zu sehen gab es "makel- wie genderlosen Menschenskulpturen" und sie "tragen Bluetooth-Boxen als Handtaschen und Ohrclips aus antiken Armbanduhren, was Programm ist. Denn nun kann man dabei zusehen, wie die Zeit rückwärts rast, von einer gedachten Zukunft in die Gegenwart, in die Dreißigerjahre und weiter ins Barock. ... Auf keinem Laufsteg der Welt sieht man Gesichter wie auf dem von Balenciaga. Vom Leben gezeichnet, und doch keiner Zeit, keinem erkennbaren Geschlecht zuzuordnen. Sie tragen diese Kollektion, deren Drama nun mehr und mehr entgleist, mit einer stillen, konzentrierten Würde, die einem das Herz zerreißt."

Archiv: Design
Stichwörter: Balenciaga, Mode, Handtaschen

Musik

Beim Kissinger Sommer wurden neue Lieder von Wolfgang Rihm uraufgeführt, berichtet Jan Brachmann in der FAZ. Entstanden sind die unter dem Titel "Überwundene Zeit" gesammelten Stücke in den Frühlingsmonaten unter den Eindrücken des Gedichtbands "Bienenkönigin Zeit" von Uwe Grüning. Wer das titelgebende Gedicht "kennt, wird merken, dass hier nicht eine konkrete Zeit im Leben überwunden ist, sondern die Zeit als solche - in einem Zustand der Schicksallosigkeit und der reglosen Augen. Aber: 'Alles / scheint ohne Gewalt / und wird / unendlich leicht / wie mein Leben'. Im Erspüren der gedanklichen Polungen von Grünings Lyrik hat Rihm in seiner Musik alles vordergründig Bildhafte weggelassen und sich ganz auf Spannkraft und Farbe der Harmonik konzentriert, während die Singstimme den Ton einer klarsichtigen, aber liebevollen Weisheit findet." Die Aufführung überzeugte den Kritiker: "Der Silberglanz, in den die Sopranistin Sarah Aristidou (...) die Melancholie dieser Lieder taucht, verstärkt den Eindruck der Frische."

Die NZZ bringt eine Wochenendbeilage zum Lucerne Festival, das in diesem Jahr unter dem Motto "Diversity" stattfindet - viel zu viel, um es alles in wenigen Morgenstunden durchzulesen. Dem Festival geht es vor allem um die "mangelnde Repräsentanz von Schwarzen, aber auch von einigen anderen gesellschaftlichen Gruppen (dazu gehören in der Musikwelt leider nach wie vor auch Frauen)" in der Klassik, schreibt Christian Wildhagen im Editorial, wie auch der Festivalleiter Michael Haefliger im Interview bekräftigt: Insbesondere auch den Werken schwarzer Komponisten solle Raum gegeben werden. Deren Biografien sieht Wolfgang Stähr durch. Der Instrumentalist Tyshawn Sorey hat Bedenken, dass es sich bei dem Festivalschwerpunkt bloß um ein Strohfeuer handelt - und will seine Lebenserfahrungen eigentlich nicht unter dem Schlagwort "Diversity" vermarktet wissen. Diversity ist stets ein Balanceakt, schreibt Corinne Holtz und hofft, dass sich das an sich gute Ansinnen des Festivals nicht ins Gegenteil verkehrt. Marianne Zelger-Vogt spricht mit der Dirigentin Graziella Contratto. Gershwins "Porgy and Bess" wird auf dem Festival - den Wünschen des Komponisten entsprechend - von einem schwarzen Cast präsentiert, schreibt Thomas Schacher in der NZZ. Aus dem Programm porträtiert werden außerdem Golda Schultz und Augustin Hadelich.

Außerdem: Ueli Bernays verneigt sich in der NZZ vor den Rolling Stones, die vor 60 Jahren ihr erstes Konzert gaben. Im Dlf-Feature befasst sich Marc Bädorf mit MeToo im Deutschrap. Besprochen werden Kode9s Videospiel-Konzeptalbum "Escapology" (taz), der Auftakt des Festival da Jazz in St. Moritz (NZZ), ein Konzert von Julia Fischer mit den Bamberger Symphonikern beim Rheingau Musik Festival (FR), ein Auftritt von Gilberto Gil in Berlin (FAZ) und ein Abend mit Grigory Sokolov in Wuppertal (FAZ).
Archiv: Musik