Efeu - Die Kulturrundschau

Zerfallen wie eine Hochzeitstorte

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12.07.2022. Die Diskussion um die Documenta schaukelt sich weiter hoch. Der Tagesspiegel nimmt die Mitglieder der Findungskommission ins Visier. Die Berliner Zeitung würde dagegen die Kunstschau gern aus der Kampfzone identitätspolitischer Ideologien retten. Nicht die Pandemie hält die Zuschauer von den Bühnen fern, glaubt die SZ, sondern ein Theater, das niemand sehen will. Die SZ bewundert auch die Schönheit der Vicky Krieps. Die taz erliegt auf dem Montreux-Festival dem Dancefloor-Sound der Londoner Saxofonistin Nubya Garcia.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.07.2022 finden Sie hier

Bühne

Nicht alle Theater leiden unter dem Besucherschwund, betonen Peter Laudenbach und Egbert Tholl in der SZ und wollen Pandemie-Erschöpfung oder Inflation nicht als Erklärung gelten lassen: "Brutale Einbrüche wie in Dortmund oder an der Berliner Volksbühne einfach mit der Pandemie zu erklären, wäre wohlfeil. Die Wahrheit: Theater, das niemand sehen will, schafft sich ab. Die größte Pleite der Münchner Kammerspiele in der laufenden Saison war ein Stück über das Leben und Sterben mit Covid auf der Intensivstation. Und offenbar haben immer weniger Zuschauer Lust, sich von der Bühne herab mit kapitalismuskritischen Banalitäten und den neuesten Windungen der Identitätspolitik belehren zu lassen. Hier wirkt die Pandemie wie ein Brandbeschleuniger." Als Gegenbeispiel dient ihnen das Berliner Ensemble, das mit populären Stücken und bekannten SchauspielerInnen immerhin auf 84 Prozent Auslastung komme: "Das wichtigste Ziel ist nicht mehr eine Einladung zum Theatertreffen, sondern gut besuchte Vorstellungen und Zuschauer, die gerne wiederkommen. Wer das für Anbiederei und Opportunismus hält, hat den Ernst der Lage nicht verstanden."

Ziemlich gallig kommentiert Ulrich M. Schmid in der NZZ das Ende des Gogol Centers, das der Regisseur Kirill Serebrennikow zum Mittelpunkt des Moskauer Kulturlebens gemacht hatte: "Der russische Staat kann ein Theater auf verschiedene Arten schliessen: Entweder wird das Gebäude bombardiert wie in Mariupol, oder die künstlerische Leitung wird ausgewechselt... Die jüngste Inszenierung des Gogol-Zentrums trug den provokativen Titel 'Ich nehme nicht am Krieg teil'. Der abtretende künstlerische Leiter Alexei Agranowitsch verkündete nach der letzten Vorstellung das Ende des Gogol-Zentrums. Kirill Serebrennikow, der Russland bereits im März verlassen hatte, wandte sich per Videoschaltung an die Zuschauer und sagte: 'Wir sind noch jung, und in Russland muss man lange leben. Wir werden lange leben und hoffentlich sehen, wie der Krieg endet und ein wunderbares Russland der Zukunft entsteht.'"

Weiteres: In der Welt verfolgt Manuel Brug, wie die angeschlagene Anna Netrebko daran arbeitet, ihre eingetrübte Marke aufzupolieren. Bisher lässt man die Operndiva mit fragwürdiger Nähe zum Kreml nur auf den Bühnen der Peripherie singen. Besprochen wird Botho Strauss' Achtzigerjahre-Hit "Kalldewey, Farce" am Staatstheater Wiesbaden (FR).
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Kunst

In der FAZ resümiert Stefan Trinks die bisherigen Skandale der Documenta-Geschichte, von den NS-Verstrickungen des Kurators Werner Haftmann über Harald Szeemanns unverstandene Avantgarde-Schau bis zu Adam Szymczyk Finanzdebakel. Doch all diese Skandale verblassen seiner Ansicht nach gegenüber dem Vorwurf, "im Herzen Kassels antisemitische Hetzbilder gezeigt" zu haben. Und wie Trinks genüsslich anmerkt: "Bemerkenswert bleibt auch, dass der sich deutlich abzeichnende Skandal lange Zeit von manchen Medien heruntergeschrieben wurde. In der Süddeutschen etwa schrieb Jörg Häntzschel noch am 18. Februar, also einen ganzen Monat nach dem Beginn kritischer Berichte über die Documenta und die Versäumnisse ihrer Leitung: 'Der erwähnte Pseudoskandal um die Documenta hätte leicht aus dem Ruder laufen können, die Künstler drohten Schaden zu nehmen. Doch Roth gelang es, die haltlosen Vorwürfe mit Gesprächen vom Tisch zu räumen.'"

Im Tagesspiegel recherchiert Caroline Fetscher zu den Mitgliedern der Documenta-Findungskommission, die das Kuratorenkollektiv Ruangrupa ausgewählt hatten, und stößt bei einigen auf israelkritische Positionen. Doch selbst diejenigen, die sie freisprechen muss, will sie nicht aus der Verantwortung entlassen: "Ihre Stellungnahmen zum Eklat um das drei Tage nach der Eröffnung abgebaute antisemitische Werk 'People's Justice' auf dem Friedrichsplatz sucht man derzeit vergebens. Die Gesamtzusammensetzung der Kommission lässt sie sich als weiteres Symptom für den Grad an Akzeptanz lesen, den die BDS-Bewegung und die 'antikoloniale Israelkritik' im Lauf der vergangenen Jahre in der Kunstwelt erlangt hat, in den Ländern des Südens ebenso wie in der westlichen Welt."

Ebenfalls im Tsp berichtet Birgit Rieger, wie sich die Diskussion um die Documenta und die Konferenz "Hijacking Memory" in Berlin hochschaukelt: "Daniel Botman, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, hatte vergangene Woche im Kulturausschuss das Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW), das Einstein Forum und das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU als antisemitisch und BDS-nah kritisiert."

"Die Documenta ist in die Arena umstrittener Schlagworte geraten", seufzt dagegen in der Berliner Zeitung Harry Nutt und plädiert für verbale Abrüstung: "Wie selbst das Bemühen um Vermittlung in rhetorischen Überbietungsversuchen mündet, zeigte unlängst eine Bemerkung Meron Mendels, mit der der Direktor des Bildungszentrums Anne Frank seine Dienste als Documenta-Berater quittierte. Er warf der Documenta-Leitung nicht weniger als eine neokoloniale Haltung vor. Würde es nicht reichen, diese endlich für ihren Dilettantismus und ihr Ungeschick zur Rechenschaft zu ziehen? Die Zukunft des Kasseler Kulturtankers dürfte nun davon abhängen, inwieweit es gelingen wird, sich aus der Kampfzone identitätspolitisch aufgeladener Ideologien herauszuarbeiten."

Besprochen werden die Ausstellung "Welt aus den Fugen" im Kunst Museum Winterthur (NZZ), die Sammlung der Bundesbank im Frankfurter Museum Giersch (FR) und die Fotografien von Sibylle Bergemann in der Berlinischen Galerie (Tsp).
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Literatur

Die amerikanische Autorin Kristen Roupenian schreibt in der SZ über ihre Büchersammlung aus der Jugend, die ihr wegen einer Tölpelei weitgehend abhanden kam, und ihre Verbundenheit zu Adrienne Richs Gedicht "Schnappschuss einer Schwiegertochter", deren Zeilen ihr mit jedem Jahr mehr bedeuten und zwar "als die Beschreibung einer bestimmten Art weiblicher Erfahrung des Alterns, die mich erschreckt und fasziniert. Wollen Sie sie lesen? Ich weiß nicht, ob sie in der Übersetzung und aus dem Kontext gerissen noch wirken, aber hier sind sie: 'Deine Gedanken zerfallen jetzt wie eine Hochzeitstorte, / schwer von nutzlosen Erfahrungen, reich / an Argwohn, Gerüchten, Fantasien, / zerbröckeln in Krümel unter dem Messer / schierer Tatsachen.' Was ist es, das so viele unserer Erfahrungen nutzlos werden lässt? Hat es mit der Ehe zu tun, mit Weiblichkeit, oder ist es etwas anderes? Wie können wir verhindern, dass unser Geist zerfällt? ... Fragen Sie mich in 20 Jahren wieder, vielleicht weiß ich es dann."

Außerdem: In den Actionszenen der Weltliteratur erzählt Gisela Trahms davon, wie Christoph Martin Wieland Napoleon zum Lachen brachte. Besprochen werden unter anderem Luz' Comicadaption von Virginie Despentes' Roman "Vernon Subutex" (NZZ), Anna Yeliz Schentkes "Kangal" (ZeitOnline), die Werkausgabe Mechtilde Lichnowsky (online nachgereicht von der FAZ), Viktor Schklowskis "Zoo. Briefe nicht über Liebe, oder Die dritte Heloise" (Zeit), Sabine Doerings Biografie über Friedrich Hölderlin (FR), Alfred Bodenheimers Krimi "Mord in der Straße des 29. November" (SZ), die Comic-Anthologie "Ich lebe" (Tsp) und Thomas Pfenningers "Gleich, später, morgen" (FAZ).
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Film

Vicky Krieps in "Corsage"

Kathleen Hildebrand staunt in der SZ über das Talent und die Physiognomie der Schauspielerin Vicky Krieps, die aktuell als "Sisi" in Marie Kreutzers "Corsage" zu sehen ist und seit ihrem Auftritt in Paul Thomas Andersons "Am seidenen Faden" zu den Großen des europäischen Kinos zählt. Oft wirke sie "wie ein Mädchen, das ein bisschen zu schnell erwachsen geworden ist." Und dann wirkt es oft so, "als wüsste sie nicht, wie schön sie ist. Auch als Zuschauer kann man das bei ihrer Art zu spielen fast übersehen. Das gibt es ja: Schauspieler, deren Schönheit man vergisst. Interessanterweise ist die Schönheit von Vicky Krieps aber ganz offenkundig, als sie zum Gespräch im Zoom-Fenster erscheint. Kein Make-up, die lockigen Haare zusammengebunden, eine bunt gestreifte Strickjacke über dem schwarzen Top. Vicky Krieps' Gesicht würde auch auf ein Renaissancegemälde passen. Gleichzeitig könnte man ihr aber auch auf dem Spielplatz begegnen."

Weitere Artikel: Die Agenturen melden, dass nach Mohammad Rasoulof und Mostafa Aleahmad nun auch Jafar Panahi im Iran festgenommen wurde, nachdem er sich bei der Staatsanwaltschaft nach der Lage seines Berufskollegen Rasoulof informiert hatte - in Variety vermutet Nick Vivarelli einen konservativen Backlash im Land, nachdem der Hardliner Ebhraim Raisi den etwas moderateren Regierungsführer Hassan Rouhani 2021 abgelöst hat. In der FAZ verneigt sich Axel Weidemann vor der Serie "Better Call Saul", die nun mit der fünften Staffel zuende geht. Simon Hauck schreibt im Filmdienst einen Nachruf auf Klaus Lemke (weitere Nachrufe hier und dort). Außerdem hat das Revolver-Magazin ein großes Gespräch mit Lemke aus dem Jahr 2014 online gestellt.

Besprochen werden die Serie "Damaged Goods" mit Sophie Passmann (taz, Welt, FR) und die Serie "The Girl from Plainville" (FAZ).
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Musik

Julian Weber resümiert in der taz das Montreux Jazz Festival, dessen Line-Up in diesem Jahr von Newcomern wie der Londoner Saxofonistin Nubya Garcia bis zu Superstars wie Diana Ross reichte. Garcia machte einigen Eindruck auf Weber, genau wie die dreiköpfige Band: "Virtuose Anflüge sind geschickt hinter Genre-Ingredienzen versteckt, weder Dub- noch Jazz- werden linientreu bedient, das macht auch den Reiz aus. Garcia steigt versiert mit ein in das reggaefizierte Spiel und hält einen voluminösen Ton am Tenorsaxofon durch."Gegen Ende gibt es noch eine Hommage an "den Dancefloor-Sound im Süden der britischen Hauptstadt. Wie Garcia dessen hyperaktive Sample-Hooks in den Jazz überführt, ohne den Übermut der Jugend für ein bisschen Muckerei zu verraten, ist toll anzuhören und bringt die Anwesenden zu frenetischem Jubel." Eine Aufnahme aus Montreux haben wir zwar nicht gefunden, aber kurz zuvor trat sie mit ihrer Band beim Glastonbury Festival auf:



Weitere Artikel: Dass die Staatskapelle Dresden Daniele Gatti zum Nachfolger von Christian Thielemann gewählt hat, "war absehbar", schreibt Michael Ernst in der FAZ. Für die Zeit porträtiert Wolfram Goertz den Dirigenten Herbert Blomstedt, der gestern seinen 95. Geburtstag feiern konnte. Regine Müller resümiert im Tagesspiegel das Grazer Musikfestival Styriarte. In der FAZ gratuliert Edo Reents dem Folkmusiker Roger McGuinn zum 80. Geburtstag. Harry Nutt schreibt in der FR einen Nachruf auf die Jazzsaxofonistin Barbara Thompson.

Besprochen werden das neue Album der Viagra Boys (taz) und ein Coldplay-Konzert in Berlin (Tsp, BLZ).
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