Efeu - Die Kulturrundschau

Eine ganze Giraffe

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14.07.2022. Meron Mendel wirft Sabine Schormann im Tagesspiegel vor, Lügen zu verbreiten, die SZ ärgert sich über die "Wagenburgmentalität" in Kassel und fordert: Schließt die documenta endlich! Außerdem fragt sie: Wo ist Schormann eigentlich? Während in München das Festival Cinema Iran beginnt, wo Abed Abest mit "Killing the Eunuch Khan" die Mullahs das Fürchten lehrt, wie Artechock schreibt, verhaftet der Iran drei seiner prominentesten Filmemacher. In der Zeit ruft Navid Kermani die Bundesregierung zum Protest auf. Welt und Tagesspiegel gewinnen in Avignon den Glauben ans Theater zurück.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.07.2022 finden Sie hier

Kunst

In der SZ kann Jörg Häntzschel über Sabine Schormanns fünf Seiten langes Statement nur den Kopf schütteln: Wenn also nur alle "Fairness, Solidarität und Vertrauen" mitbringen, lasse sich die Documenta "erfolgreich zum Abschluss bringen"?! Schuld sind in jedem Fall die anderen: "Namentlich erwähnt sie unter anderem Emily Dische-Becker von Forensic Architecture und Anselm Franke, Kurator am Haus der Kulturen der Welt: Ihre Aufgaben, so Schormann: 'umfassende Beratung zu… Fragen mit Bezug zu Antisemitismus und dem israelisch-palästinensischen Verhältnis'. Das, so liest man es, waren also die Leute, die die antisemitische Kunst durchgewunken haben. Dabei waren die beiden lediglich engagiert worden, die Gesprächsreihe 'We Need to Talk' zu organisieren. Beide sagen gegenüber der SZ, sie hätten vor der Eröffnung kein einziges Kunstwerk gesehen und seit dem 11. Juni nicht mehr mit Schormann gesprochen. Schon im Mai, als Dische-Becker und Franke den Katalogtext zu den Filmen der Gruppe Subversive Film gelesen hatten, rieten die beiden ihr dazu, eingehend prüfen zu lassen, ob es dort um die Verherrlichung von Anschlägen gegen Zivilisten gehe, und die Filme kuratorisch einzuordnen. Sie winkte ab." Und noch eine Frage stellt sich nicht nur Häntzschel: Wo ist Schormann? Niemand hatte in den vergangenen Wochen Kontakt mit ihr.

Keiner will's gewesen sein, "also hat sich ein seit zwanzig Jahren bekanntes und hundert Quadratmeter großes Malwerk antisemitischer Bauart offenbar selbst in Kassel aufgehängt", ärgert sich Gerhard Matzig ebenfalls in der SZ. Kassel ist "zum Hotspot bürokratischer Wagenburgmentalität" geworden, fährt er fort und fordert: Schließt diese "israelfeindliche Agitprop-Veranstaltung".

Währenddessen ist Meron Mendel "erschüttert", dass Schormann "Unwahrheiten verbreite", berichtet Birgit Rieger im Tagesspiegel: "Mendel wirft der Documenta-Leitung vor, diese schirme die Kuratorengruppe Ruangrupa paternalistisch ab. Ruangrupa sei etwa zur ersten Antisemitismus-Diskussion am 29. Juni zunächst gar nicht eingeladen gewesen. Schormann schreibt in ihrem Statement, 'ganz im Gegenteil: Wir haben diese Einladung aus freien Stücken selbst ausgesprochen und Ruangrupa ist dieser auch unmittelbar nachgekommen'. Mendel entgegnet in einem Statement an den Tagesspiegel: 'Die Leiterin der Kommunikation in der Bildungsstätte Anne Frank, Eva Berendsen, und ich haben in mehreren Telefonaten zwischen dem 22. und 24. Juni versucht, dass Ruangrupa eingeladen wird. Diese Bitte wurde von der Documenta-Leitung immer wieder mit diversen Erklärungen abgelehnt, bis wir schließlich schriftlich mit der Absage der Veranstaltung drohen mussten.'"

Bestens gelaunt kommt hingegen Till Briegleb (SZ) aus der großen Doppelretrospektive in Hannover in Sprengelmuseum und Kunstverein zum 75. Geburtstag von Christiane Möbus, die mit ihren Installationen Witz und Zuversicht versprüht: "Eine ganze Giraffe schwebt an Seilen von der Decke. Ein riesiger Alligator tauscht den Moder einer Uferzone mit einem Stapel Überseekoffer als Thron. Elf Krähen tummeln sich zwischen elf rosa Sandsteinmurmeln. Und ein wacher Gamsbock hängt mit den Hörnern in einer Wand aus Ytong-Steinen so selbstverständlich wie ein Anzug im Schrank. In den meisten großen Installationen von Christiane Möbus erzählt mumifizierte Natur schöne Märchen des Absurden, und die Titel werben um Zuneigung wie eine hungrige Katze, die sich an den Beinen ihrer Halter reibt."

Außerdem: Das Charlottenburger Berggruen-Museum soll bis 2025 komplett saniert werden, veranschlagt sind 22 Millionen Euro, die Kunstwerke der Sammlung sollen zwischenzeitlich auf Tournee gehen, meldet Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung.

Besprochen wird die Sascha-Wiederhold-Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie in Berlin (taz, Tagesspiegel)
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Literatur

In der SZ verrät Hadija Haruna-Oelker, welche Bücher sie gerade liest. Besprochen werden unter anderem Mirjam Wittigs "An der Grasnarbe" (Intellectures), Guillem Marchs Comic "Karmen" (Tsp) und Norbert Scheuers "Mutabor" (FAZ). Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Stichwörter: Haruna-Oelker, Hadija

Film

Der Iran schikaniert seine prominentesten Filmemacher: Mohamad Rasoulof, Jafar Panahi und Mostafa Aleahmad wurden allesamt binnen kurzer Zeit verhaftet. Es ist nicht zum ersten Mal, dass das Regime derart zuschlägt, ruft Verena Lueken in der FAZ in Erinnerung: Seit Jahren werden die gegängelten und inhaftierten Filmemacher symbolisch zu Filmfestivals eingeladen, wo deren Stuhl dann meist leer bleibt. Sie "durften nicht reisen, aber ihre Filme kamen - nach Hamburg, Denver, Seattle, San Sebastian, Berlin oder Cannes, oft auf wundersamen Wegen, um die sich Legenden rankten (wurde Panahis 'This is Not a Film' 2011 wirklich als USB-Stick in einem Kuchen an die Cote d'Azur geschmuggelt?), und immer sorgten sie dafür, Iran und seine Künstler und sein Kino präsent zu halten als Land, in dem Repression, Gewalt, Korruption und Willkür die Kunst in den Untergrund zwingen. Als Land, in dem vom System verformte Menschen leben wie auch solche, die einfach versuchen, sich durchzuschlagen und solche, die sie ans Messer liefern oder als Henker ganz selbstverständlich ihrer Arbeit nachgehen. Diese Künstler zeigten in ihrem Werk vor allem, wie frei sie geblieben sind. Das macht sie gefährlich für jedes autokratische Regime."

Spätestens seit "Manuscripts Don't Burn", der die Zeit der Morde an iranischen Schriftstellern aufarbeitet, hat sich Mohamad Rasoulof bewusst in Lebensgefahr gebracht, schreibt Navid Kermani in der Zeit. Doch "er trotzte seinen wiederholten Festnahmen. ... 2020 schmuggelte er seinen Film 'Doch das Böse gibt es nicht' aus dem Land und gewann den Goldenen Bären. Indem er die Gewissensnöte, Rechtfertigungen und Alltagssorgen gewöhnlicher iranischer Henker zeigt, bringt der Film die gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Punkt und transzendiert sie zugleich. Ich war nicht nur erschrocken über den Iran, ich war erschrocken über den Menschen, hinter dessen Schein Rasoulof die kleine und traurige Wahrheit zum Vorschein bringt, die also auch meine Wahrheit ist." Was es nun angesichts der jüngsten Ereignisse braucht: "Die Solidarität der Filmwelt - Verbände, Akademien und Festivals - und ebenso den Protest der Bundesregierung wie der Europäischen Kommission, damit Rasoulofs Kunst und sein Mut weiter in unsere Herzen leuchten können."

Als hätte man den Termin danach gelegt, beginnt nun das Münchner Festival Cinema Iran, schreibt Dunja Bialas auf Artechock. An kritischen Stimmen gibt es im iranischen Film auch weiterhin keinen Mangel: Der Eröffnungsfilm "Killing the Eunuch Khan" etwa zählt zu jenen Filmen, "die durch starke Bildsprache und hohe Symbolik zu einer bestens chiffrierten, aber auch leicht dechiffrierbaren politischen Botschaft finden und das Staatssystem das Fürchten lehren, auch weil sie im Ausland hohen Anklang finden. ... Regisseur Abed Abest gehört mit seinen 35 Jahren zu einer neuen Generation von Filmemachern, die gegen die iranische Repression anfilmen und mit ihren formenstarken Werken internationale Aufmerksamkeit erregen. 'Killing the Eunuch Khan' ist eine albtraumgetränkte Science-Fiction-Fantasie, die Assoziationen zu vergangenen und aktuellen Kriegen sowie an die schwindelerregenden Gewaltspiralen des Landes weckt."

Erzählt von einer Befreiung: "Meine Stunden mit Leo"

Sophie Hydes
"Meine Stunden mit Leo" rührt an ein Thema, mit dem sich dem Kino gerne schwer tut: Das sexuelle Begehren von Frauen jenseits der Wechseljahre. Emma Thompson spielt eine Witwe, deren Ehe sexuell unbefriedigend geblieben war und nun die Dienste eines jungen Prostituierten in Anspruch nimmt. Der Entwicklung dieser beiden Figuren zuzusehen, "ist ein großer, aufregender Spaß, der mal mit zärtlichen komödiantischen Motiven unterlegt ist, dann wieder ins Bitterernste umschlägt", schreibt Axel Timo Purr auf Artechock. In den Film floss alles ein, "worunter so viele Frauen ihrer Generationen leiden, die Scham, die Schuldgefühle, das sich ewige Entschuldigen, das sich Abfinden mit einem Zustand, mit dem man sich nicht erst seit der 'sexuellen Revolution' der 68er gar nicht unbedingt hätte abfinden müssen." Und dann schließt der Film beglückend noch mit einer "Begegnung mit einem nackten Körper, wie sie schöner, aufregender, befreiender und berührender nicht sein könnte. Eine Befreiung, wie sie nur ganz selten im Kino zu sehen ist." Von einem "ebenso feinfühligen wie stellenweise überaus lustigen Kammerspiel" berichtet Arabella Wintermayr in der taz. Auf ZeitOnline nähert sich Sebastian Seidler dem Film über einen Exkurs in die Geschichte der filmischen Darstellung von Sexualität älterer Frauen.

Außerdem: Das Münchner Filmmagazin Artechock-Magazin widmet dem verstorbenen Klaus Lemke (unsere Resümees hier und dort) einen Schwerpunkt: Die jetzt allerorten zu hörenden Lobesarien seien günstig nachgereicht, seufzt Rüdiger Suchsland - zu Lebzeiten hätten Lemke und das deutsche Kino davon mehr gehabt. Einen wunderbar persönlichen Nachruf schreibt die Schauspielerin Saralisa Volm, die über Lemke zum Film gekommen ist. Auch der Filmemacher RP Kahl (hier) und der Münchner Kinomacher Bernd Brehmer (dort) verabschieden sich. Außerdem hat das Magazin ein Lemke-Gespräch von 2016 online wieder nach oben geholt.

Besprochen werden Zhang Yimous Tragikomödie "Eine Sekunde" (SZ), Joachim Lafosses Bipolar-Drama "Die Ruhelosen" (taz, Artechock), die Wiederaufführung von Fellinis "La Dolce Vita" (SZ, FR, Filmdienst, Artechock), Joscha Bongards Dokumentarfilm "Pornfluencer" über ein Paar, das sein Sexleben auf Pornoportalen auswertet (critic.de, Artechock), Joe und Anthony Russos Actionfilm "The Gray Man" mit Ryan Gosling (Tsp), Julius Bergs Einbruchsthriller "The Owners" (Standard) und die Arte-Dokumentation "Il Posto" über die Lage der Pflegekräfte in Italien (FAZ).
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Bühne

Bild: ONE SONG - History/ies of Theatre IV, Miet Warlop, 2022 © Christophe Raynaud de Lage / Festival d'Avignon

Welt-Kritiker Jakob Hayer glaubt nach dem Auftakt des Theaterfestivals in Avignon weiterhin an das Theater: Festivalleiter Olivier Py verabschiedete sich mit dem zehnstündigen Spektakel "Ma Jeunesse exaltée", Kirill Serebrennikov inszenierte sehr düster Anton Tschechows Novelle "Der schwarze Mönch" - noch düsterer fiel Tiago Rodrigues' Inszenierung der "Iphigenie" aus. "Rodrigues ist der Nachfolger von Py als Leiter des Festivals. (…) Seine 'Iphigénie' zeigt, dass Rodrigues nicht nur den erzählerischen Mitteln des Theaters vertraut, sondern auch mit ihnen vertraut ist. Das lässt auch für die nächsten Jahre hoffen. Der Überraschungserfolg des diesjährigen Festivals ist 'One Song' der belgischen Künstlerin Miet Warlop, eine illusionslose Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Theaterbetriebs: Eine Gruppe Schauspieler intoniert immer das gleiche Lied, angetrieben von einem unerbittlichen und immer schnelleren Metronom und einem Trupp aufgedrehter Fans. Von oben tropft Wasser, das mit Eimern und Handtüchern nebenher aufgefangen werden muss. Nicht zu vergessen die Unmenge Botschaften, die am Bühnenrand in großen Stapeln auf Übermittlung warten. Angeordnet ist das als Athletik parcour: Cello auf dem Schwebebalken, Singen auf dem Laufband, Keyboard am Klettergerüst."

Im Tagesspiegel atmet auch Eberhard Spreng auf: Serebrennikows Inszenierung endete mit  knallroten 'Stop War'-Aufruf: "Eine Beruhigung für alle, die durch Presseberichte aufgeschreckt worden waren, die nahelegten, der Russe Serebrennikow sei unter anderem ob seiner engen Kontakte zum Oligarchen und zu Filmfinancier Roman Abramowitsch doch nicht der lupenreine Kremlkritiker, als der er angesehen wird."

In der FAZ fordert Jascha Nemtsov, Professor für Geschichte der jüdischen Musik, eine "offene inhaltliche Auseinandersetzung" mit dem Antisemitismus in Richard Wagners Werk, warnt aber zugleich davor, die Werke in Folge nicht mehr aufzuführen: "Denn abgesehen von ihrer künstlerischen Bedeutung sind sie genialer Ausdruck einer Epoche, die in mancher Hinsicht immer noch aktuell erscheint. Wagner hat wie kaum ein anderer Künstler den Zeitgeist dieser Epoche erkannt und ihn auch wie kein anderer mitgeprägt. Es war die geistige Atmosphäre jener Zeit, die nicht nur zu den Erlösungsfantasien des Fin de Siècle, sondern schließlich auch zur späteren 'Endlösung' des Holocaust führte."

Außerdem: Theater in der Krise? Mag sein, aber die Soloabende der vergangenen Saison waren vielversprechend, bilanziert Peter Kümmel in der Zeit. Standard-Kritiker Helmut Ploebst vergisst derweil die "Hektik der Gegenwart" beim Wiener Impulstanz-Festival, wo die belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker ihr jüngstes Stück "Mystery Sonatas / for Rosa" zeigte. Besprochen wird das "Complexions Contemporary Ballet" mit einem Bowie-Bach-Programm in der Alten Oper Frankfurt (FR).
Archiv: Bühne

Design

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Das Berliner Bröhan-Museum ruft mit einer Ausstellung 99 weitgehend in Vergessenheit geratene Gestalterinnen der Moderne in Erinnerung, schreibt Elke Linda Buchholz im Tagesspiegel und berichtet von zahlreichen aufregenden Funden, die sich hier machen lassen. "Querfeldein geht es durch Stile und Werkstoffgruppen, von den Malerinnen der Berliner Secession über die starke Frauenriege der Wiener Werkstätte bis zu den Töpferscheiben in Hameln oder Marwitz-Velten. Margarete Schütte-Lihotskys legendäre Frankfurter Küche, als erste Einbauküche der Welt, darf natürlich nicht fehlen. Aber auch die exquisite Produktpalette von Europas führenden Porzellanmanufakturen punktete mit dem Potential der weiblichen Belegschaft. Erst jetzt, in der Moderne, rückten die Frauen von bloßen Hilfskräften beim zierlichen Bemalen des 'weißen Golds' zu Formgeberinnen auf. ... Ob stilsicher innovativ oder gekonnt dem Zeitgeist entsprechend: die Bandbreite ist groß. Kein gemeinsamer Nenner, nirgends. Wie auch?
Archiv: Design

Musik

Vor dem Wiener Auftritt der Rolling Stones, macht sich Christian Schachinger für das Standard-Alphabet Gedanken, welche Wörter mit T wohl auf die altgedienten Rocker passen. In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner dem Jazzer George Lewis zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden ein Konzert der Killers (Presse, Standard), Phoebe Bridgers' Berliner Konzert (BLZ), ein Auftritt von Guns N'Roses in Wien (Standard) und neue Popveröffentlichungen, darunter Moor Mothers "Jazz Codes" (TA). Das Album wird von einem Kurzfilm begleitet:

Archiv: Musik