Efeu - Die Kulturrundschau

Wie Yoga in der Reha

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27.07.2022. Mit "Tristan und Isolde" wurden die Bayreuther Festspiele eröffnet. Der große Liebesrausch blieb in Roland Schwabs Inszenierung aus, aber die Musik von Markus Poschner ließ NZZ und FAZ staunen: Wagner geht auch zart und intim. taz und FAS bewundern, wie der Filmemacher C. B. Yi mit seinem Film über die Prostitution junger Männer die Zerrisenheit der chinesischen Gesellschaft einfängt. Die SZ sucht die Literatur auf TikTok und findet Romanzen mit Spice. Der Standard diskutiert, wieviel Konformismus und Pose ein Popfestival verträgt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.07.2022 finden Sie hier

Bühne

Position Liebesrausch: Tristan und Isolde. Foto: Enrico Nawrath / Bayreuther Festpiele


Zum Auftakt der Bayreuther Festspiele gab es eine Neuinszenierung von "Tristan und Isolde". Die noch recht vagen Sexismus-Vorwürfe und den Machtkampf zwischen Katharina Wagner und Christian Thielemann erklärt sich Egbert Tholl in der SZ mit der Abgeklärtheit eines alten Schlachtrosses: "Jede Ausgabe der Festspiele hat in der Regel einen Skandal, vor allem dann, wenn die Premiere dazu nicht taugt." Viel zu brav findet er Roland Schwabs Corona-kompatible Inszenierung, in deren Mitte eine Scheibe den Sternenhimmel spiegelt und auf der sich Tristan und Isolde wie ferne Planeten umkreisen: "Der große Liebesrausch im zweiten Aufzug, zu dem sie weiß gewandet durch einen Lichttunnel hinschreiten, wirkt wie Yoga in der Reha, für schwer bewegungsunfähige Fälle."

Mehr als für Schwabs "Bilder traumverlorener, schönheitstrunkener Weltentrückung" interessiert sich FAZ-Kritiker Jan Brachmann für die Musik des kurzfristig eingsprungenen Dirigenten Markus Poschner: Poschner liegt, über die mehr als vier Stunden des Abends hinweg, an der Intimität dieser Musik. 'Tristan und Isolde' ist für ihn eher ein zartes, kein brüllendes Stück." Auch in der NZZ weiß Marco Frei die nuancenreiche Interpretation zu schätzen: "Dieser eigenständige Ansatz macht deutlich, wie sehr es sich lohnt, den Wagner-Klang von der Fixierung auf Thielemanns romantische Opulenz zu befreien. Wenn Bayreuth auch in der Musik stilprägend wirken möchte, muss dieses Festival eine offene, agile Werkstatt der Wagner-Interpretation sein."

FR-Kritikerin Judith von Sternburg kommt auch gesanglich ganz auf ihre Kosten: "Der 60 Jahre alte Stephen Gould verbindet das Heldische und Lyrische der Partie nach menschenmöglichen Maßstäben fast perfekt, mehr heldisch als lyrisch, aber sein atemberaubend sicherer Tenor wirkt dafür noch in den letzten, furchtbar ausführlichen Aufwallungen im dritten Akt unbemüht und fit. Gould, der Triathlet, wird auch den Tannhäuser und den Siegfried in der 'Götterdämmerung' singen. Er ist sogar relativ gut zu verstehen, was sich über seine Isolde nicht sagen lässt: die Engländerin Catherine Foster als Debütantin in dieser Partie, der sie stimmlich aber mit hochdramatischem Einschlag ebenfalls glanzvoll und bis in den Liebestod hinein souverän gewachsen ist."

Am Ende wird es Eleonore Bünig im Tagesspiegel unheimlich: "Nicht ein einziges, klitzekleines Buh ist zu hören. Normal ist das nicht: für Bayreuther Verhältnisse vielleicht sogar ein böses Omen." Weitere Besprechungen in Welt und Standard.

Weiteres: Im Standard paraphrasiert Stephan Hilpold Ilija Trojanows Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele, in der der Schriftsteller gegen das "Ja oder Nein des Krieges" die "Vieltönigkeit der Kunst der Kunst" beschwor. In der SZ porträtiert Christine Dössel den niederländischen Starregisseur Ivo van Hove, der erstmals auch in Salzburg dirigiert: "Van Hove gilt als Quotenbringer. Einer, der mit Hochglanzproduktionen und elegantem, stilsicherem Erzähltheater die Häuser füllt." In der FAZ berichtet Wiebke Hüster von der Biennale Danza mit Choreografien von Wayne McGregor, Saburo Teshigawara und Trajal Harrell, im Tagesspiegel schreibt Sandra Luzina.
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Film

Schöne, unaufdringliche Form: "Moneyboys"

Der Filmemacher C. B. Yi hat seine Kindheit zwar in China verbracht, aber später in Wien Film studiert - unter anderem bei Michael Haneke. Sein Debütfilm "Moneyboys" entstand in Taiwan, weil er in China an ein Tabu rührt: die Prostitution junger Männer. Einen "klugen Film über zwischenmenschliche Beziehungen und Sexarbeit unter den Bedingungen des chinesischen Kapitalismus", bezeugt Fabian Tietke in der taz. "Yi hält die Empathie mit seinen Figuren in der Balance mit einer Distanz, die er braucht, um gesellschaftliche Strukturen sichtbar zu machen." Auch sieht man in dem Film "deutlich, wie schnell der Fortschritt in China die Generationen auseinandergerissen hat", ergänzt Bert Rebhandl in seiner von der FAS online nachgereichten Kritik. "Wie in vielen anderen Filmen aus dem Land zeigt sich das oft bei Szenen, in denen gegessen wird." Und "für diese Spannung" zwischen den Generationen finde der Film "eine schöne, unaufdringliche ästhetische Form. Den Übergang zwischen den Welten markiert eine Fähre, die ein junger Mann mit der Hand mithilfe eines Seils steuert - ein fast schon kontemplativer Akt, mit dem der Grundton des Films ganz gut getroffen wird. Fortschritt und Rückzug, Aufbruch und Distanzierung in einer komplexen Bewegung." Für Dlf Kultur hat Susanne Burg mit dem Regisseur gesprochen.

Andreas Busche kommentiert im Tagesspiegel das gestern bekannt gegebene Programm des Filmfestivals Venedig: Gezeigt wird auch ein neuer Film von Jafar Panahi, der vor wenigen Tagen vom iranischen Regime dazu verdonnert wurde, seine Haftstrafe anzutreten. Er hat "zum fünften Mal ohne Dreherlaubnis in seinem Heimatland eine Produktion realisiert - und, wie viele befürchten, wohl für längere Zeit zum letzten Mal. Festivalleiter Barbera nennt 'No Bears' Panahis ungewöhnlichsten Film, seit dieser unter verschärften Restriktionen drehen muss."

Außerdem: SZ-Kritiker David Steinitz vertreibt sich die Zeit im Sommerloch mit der Lektüre dieses Variety-Artikels über die Gagenhöhe von Hollywoodstars. Claudius Seidl schreibt in der FAZ zum Tod des Schauspielers Paul Sorvino. Ebenfalls in der FAZ schreibt Jan Wiele zum Tod des Regisseurs Bob Rafaelson.

Besprochen werden Vincent Maël Cardonas Hommage "Die Magnetischen" an die Radiopiraten der frühen Achtziger (SZ, ZeitOnline), Alex Garlands "Men" (NZZ, mehr dazu bereits hier), die Satire "Der perfekte Chef" mit Javier Bardem (Tsp), Kiyoshi Kurosawas "To The Ends of the Earth" (Welt, mehr dazu bereits hier) und die auf Disney+ gezeigte Serie "Abbott Elementary" (taz).
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Literatur

Eva Goldbach und Johannes Korsche begeben sich für die SZ in die Welt von Bücher-TikTok (oder "BookTok"), nach "Bookstagram" dem nächsten großen Bücherding, wenn es um Literatur auf jungen Social-Plattformen geht. "Die populäre Literatur verändert sich gerade nach den Spielregeln des chinesischen Social-Media-Dienstes." Und "wenn es um Literatur auf Tiktok geht, bedeutet das: Am Ende kommen pastellfarbene Romanzen raus. Mit genügend Sexszenen", wofür auf TikTok das Wort "Spice" steht. Renner sind neben Herzschmerz und queeren Themen die Genres "Fantasy, Young Adult (das sind Highschool-Dramen, Geschichten erster unschuldiger Lieben) und New Adult" über die ersten Schritte ins Erwachsenenleben. "Von Booktok getragene Autorinnen haben in den vergangenen Monaten den Buchhandel übernommen. Die Amerikanerin Colleen Hoover zum Beispiel, die inoffiziell aber einstimmig ausgerufene 'Queen of Booktok', inzwischen eine der meistverkauften Autorinnen auf der New-York-Times-Bestseller-Liste. Ihr Geheimnis? Eine einfache, prägnante Sprache - und Themen, die junge, weibliche Leserinnen emotional fesseln: toxische Beziehungen, Missbrauch, Liebe."

Außerdem: In seinem Batman-Blog erzählt Ihnen Lukas Gedziorowski alles, was Sie schon immer über Batmans Hund wissen wollten. Rüdiger Schaper verrät im Tagesspiegel, mit welchen Büchern er in den Urlaub fährt. Besprochen werden unter anderem Keiichirō Hiranos Kriminalroman "Das Leben eines Anderen" (ZeitOnline), Amor Towles' "Lincoln Highway" (online nachgereicht von der FAS) und Delphine de Vigans "Die Kinder sind Könige" (FAZ).
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Kunst

Berührt kommt taz-Kritikerin Dorothea Marcus aus der Ausstellung "Syrien - Gegen das Vergessen" im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum, für die der syrische Archäologe und Kurator Jabbar Abdullah Sehnsucht und Wissen, Politik und Erinnerung zusammengtragen habe: "Er will ein Syrien zeigen, das in westlichen Medien nicht mehr vorkommt, ein Land mit jahrtausendealter Geschichte, lebendigen Städten, zeitgenössischer Kunst. Wir sehen Teppiche, Kleidung, Kaffeemühlen, Spieltische. Wir erfahren in Videos, von syrischen Künstlern vor Ort gedreht, wie das Sakla-Kinderspiel der fünf Steine funktioniert. Wie köstlich syrisches Frühstück ist, der Alltag mit Tieren auf dem Dorf verläuft, dass das wunderschöne Café al-Quisla im ehemaligen jüdischen Viertel von Damaskus heute noch vor Leben vibriert."

Besprochen werden die Ausstellung zur Plakatkunst "We want you!" im Essener Folkwang Museum (FAZ), Ausstellungen der beiden italienischen Künstler Fortunato Depero im Mart in Rovereto und Daniele Lievi im MuSa in Salò (FR).
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Stichwörter: Syrien, Folkwang Museum, Damaskus

Musik

Dalia Ahmed vom ORF-Sender FM4 und Andreas Spechtl von der Band Ja Panik sprechen mit Standard-Musikkritiker Christian Schachinger über das von ihnen kuratierte Popfest in Wien. Schachinger hat spürbar Vorbehalte: Zu konform, zu durchdefiniert in Sachen Identität wirkt das Programm auf ihn - und dann glaubt er, die Kunst hätte gegenüber der Haltung das Nachsehen gehabt: "Aber wir reden hier ja über Popkultur, da ist die Pose total wichtig", entgegnet, Andreas Spechtl. "Was wären die Rolling Stones ohne Pose, ohne Sexualität. Oder David Bowie ohne Queerness? Ganz viel wäre saulangweilig gewesen, wenn uns da nicht eine Welt verkauft werden würde, die utopisch ist. Das war immer schon so. Ich finde es schade, wenn man mit einer Welt, die imaginiert wird, nicht viel anfangen kann oder sich vielleicht sogar unwohl oder auf den Schlips getreten fühlt."

Weiteres: Zu einem Demokratiebekenntis des in letzter Zeit sehr öffentlichkeitsscheuen Dirigenten Teodor Currentzis ist es bei einem demnächst auf ServusTV ausgestrahlten Gespräch gekommen, meldet die Redaktion des Standard.

Besprochen werden das gemeinsame Album "Sons of" von Sam Prekop und John McEntire (Pitchfork), das neue Album "Red Orange and Blue" des Daniel Guggenheim Quartes (FR), zwei Konzerte des Schleswig Holstein Musik Festivals (NMZ) und das neue Album von Superorganism, deren "majestätisch ballernden Kaugummi-Poprock" Kristof Schreuf in der taz umarmt.

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