Efeu - Die Kulturrundschau

Hyper, hyper. Pop eben

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29.07.2022. Es wird schon wieder über antisemitische Kunst auf der Documenta gestritten. Die FAZ kann das Ausmaß an Inkompetenz der Leitung nicht fassen. Die Welt macht das neofeudale Selbstbild der Unkündbaren des Betriebs dafür verantwortlich. Javier Bardem erklärt im Interview mit epd-Film, warum ein Nilpferd ihn für seine Rolle als Drogenbaron Escobar inspiriert hat. Die SZ feiert die Architektur Günter Behnischs. Der Standard hat die Zukunft des Pop gesehen, und sie heißt Moonchild Sanelly.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.07.2022 finden Sie hier

Kunst

Mehr antisemitische Bilder wurden auf der Documenta entdeckt, das bestätigt jetzt auch die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (Rias Hessen), meldet die Zeit. Laut Projektleiterin Susanne Urban handelt es sich dabei "um Darstellungen in einer Broschüre mit dem Titel 'Présence des Femmes', die 1988 in Algier erschienen ist. Die darin enthaltenen Zeichnungen des syrischen Künstlers Burhan Karkoutly zeigten teils antisemitische Stereotype und das Land Palästina, versehen mit Einordnungen, die dem Staat Israel seine Legitimität absprächen, sagte sie." Ausgestellt wurde die Broschüre von der Initiative "Archive der Frauenkämpfe in Algerien", was Israel damit zu tun hat, wird nicht klar. Eine "komplette Sichtung und Überprüfung aller Ausstellungsstücke auf antisemitische Inhalte", wie sie der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, fordert, "lehnte die documenta ab", lesen wir.

FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai hat deshalb "einen vorläufigen Stopp der Veranstaltung gefordert", lesen wir in einem weiteren Bericht der Zeit. "'Es kann nicht sein, dass die Ausstellung weiterhin finanzielle Mittel aus dem Bundeshaushalt erhält, geöffnet ist und Besucher empfängt, während diese ungeheuerlichen Vorgänge nicht restlos aufgeklärt und unterbunden sind', sagte Djir-Sarai. Antisemitismus sei 'Hass und kann daher nie und in keiner Weise die Freiheit der Kunst in Anspruch nehmen'."

"Was unterscheidet die documenta in Kassel eigentlich noch vom antisemitischen Karikaturenwettbewerb in Teheran, den die iranischen Mullahs regelmäßig ausrichten?", fragt in der Jüdischen Allgemeinen Philipp Peyman Engel. "Die bittere Antwort: offenkundig nicht mehr viel." Engel macht dafür auch den neuen documenta-Interimschef Alexander Farenholtz verantwortlich, der eine Überprüfung der Kunstwerke ablehnt und die documenta "auf einem hervorragenden Kurs" sieht. Aber "Nein, das ist sie nicht", bescheidet ihm Engel. "Zumindest nicht in der jüdischen Gemeinschaft. Die documenta ist moralisch bankrott. Es ist mehr als fraglich, ob das Konzept Weltkunstausstellung Kassel nach diesem Scheitern vor aller Welt jemals wieder funktionieren kann. Der nun einzige richtige Schritt wäre es, die documenta 15, die als antisemitische 'documenta der Schande' in die Geschichte eingehen wird, endlich zu beenden."

Tatsächlich hatte die Documenta die Broschüre bereits überprüft, war aber zu dem Schluss gelangt, dass sie israelkritisch, aber nicht antisemitisch sei. Im Tagesspiegel findet es Birgit Rieger "völlig unverständlich, dass die Documenta ihre Untersuchungsergebnisse zur Broschüre jetzt erst jetzt der Öffentlichkeit mitteilt, nachdem sie sich erneut mit Kritik konfrontiert sieht. ... Das Kuratorenteam Ruangrupa hat oft betont, die Documenta solle ein Ort des Lernens sein. Das Fridericianum heißt sogar 'Fridscul', in Anlehnung an Runagrupas in Indonesien gegründete Gudskul. Eigentlich könnten die Besucher ja tatsächlich etwas lernen. Zum Beispiel, wie antisemitische Stereotype aussehen, wie man sie erkennt und wie sich Kritik an der israelischen Politik davon unterscheidet. Wer Ruangrupa als Kuratorenkollektiv ernst nimmt, muss davon ausgehen, dass es bewusst entschieden hat, den Israel-Palästina-Konflikt auf der Documenta in den Fokus zu rücken. Dafür nehmen sie auch judenfeindliche Darstellungen in Kauf."

"Das Ausmaß an Inkompetenz, Überforderung und Verwirrtheit ist überwältigend - und man fragt sich: Wo haben die Leitung und die Öffentlichkeitsabteilung der Documenta eigentlich die vergangenen Monate verbracht? Und was tun diese Leute im Hauptberuf?", schreibt Claudius Seidl in der FAZ. Er sieht das ganze Konzept dieser Documenta gescheitert: "Das Problem ist nicht, dass das hegemoniale westliche Kunstsystem infrage gestellt wird. Das Problem ist, dass es ersetzt wird von wohlmeinender Indifferenz. Am vergangenen Sonntag riefen beim Christopher Street Day auch deutsche Demonstranten 'From the river to the sea, Palestine will be free', und auf dem palästinensischen Banner stand, 'Trans-Hass und Homo-Hass' seien 'Produkte des Kolonialismus'. Wenn man aber etwas lernen kann auf dieser Documenta mit ihren antisemitischen Bildern, dann ist es, dass es um Palästina nicht geht: Kein Problem Indonesiens würde verschwinden, wenn Israel verschwände. Keiner algerischen Frau wird ihre Emanzipation von der israelischen Armee streitig gemacht."

In der Welt sieht Boris Pofalla das Antisemitismusproblem der Documenta als direkte Konsequenz einer Einstellung, die schon die Kampagne "GG 5.3. Weltoffenheit" prägte, die den Bundestagsbeschluss zum BdS kritisiert hatte. Sie "offenbart, wie auch die Documenta fifteen, ein gewandeltes Verhältnis von Teilen des deutschen Kulturbetriebs zur parlamentarischen Demokratie. Diese allmähliche Verschiebung von einem pragmatischen, der Öffentlichkeit dienenden Selbstverständnis hin zu einem neofeudalen Selbstbild ist ein wichtiger Grund dafür, dass diese Documenta werden konnte, was sie geworden ist... Kunstfreiheit, das betrifft die 'Initiative Weltoffenheit' und die Documenta gleichermaßen, ist die Freiheit, Kunst zu machen und auszustellen, nicht aber, in einem bestimmten Rahmen ausgestellt zu werden. Wer mit öffentlicher Unterstützung und in öffentlichen Häusern auftritt, entscheiden die Leitungen der jeweiligen Institutionen. Man darf erwarten, dass sie diese Entscheidung selbstständig treffen und verantworten können und dass sie Maßstäbe haben, die ihnen ein solches Urteil auch erlauben. Stattdessen wünschen sich die gut dotierten und praktisch unkündbaren Großkopferten des Betriebs einen Freibrief der Politik, der sie von jeder Verantwortung entbindet."

Ruangrupa hat unterdessen auf e-flux.com einen offenen Brief an den Aufsichtsrat der Documenta publiziert, auf das Stefan Laurin bei den Ruhrbaronen verweist: "Wir möchten Sie daran erinnern, dass wir im vergangenen Mai versucht haben, mit dem Forum 'Wir müssen reden! Kunst, Freiheit und Solidarität' im vergangenen Mai versucht haben, einen Dialog zu beginnen, wobei wir einen ehrenwerten, aber vergeblichen Versuch unternommen haben, eine gute Antwort auf eine schlechte Frage zu formulieren. Wir möchten Sie auch daran erinnern, dass der Dialog nach intensiven Gesprächen mit den Forumsteilnehmern, bei denen deutlich wurde, dass eine freie und produktive Diskussion unmöglich war, eingestellt wurde." Die Gruppe beklagt auch, dass sie Opfer des Rassismus geworden sei und der Aufsichtsrat dies ignoriert habe.

Weiteres: Der britische Künstler Damien Hirst will den Teil seiner Kunstwerke verbrennen, die er als NFTs verkauft hat, berichtet Alexander Menden in der SZ.
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Film

Javier Bardem bei der Fantasiearbeit: "Der Perfekte Chef"

Für epdFilm hat sich Thomas Abeltshauser mit Javier Bardem zu einem großen Gespräch über dessen Werk getroffen. Aktuell ist der Schauspieler im Kino in der Satire "Der perfekte Chef" zu sehen. "Er müsse einer Figur glauben, müsse verstehen, warum sie etwas tut, und schränkt gleich ein: 'Was ich nicht muss, ist, wie diese Figur zu fühlen. Ich glaube nicht an Method-Acting. ... Es ist Fantasiearbeit. Ich muss nicht mit meiner ganzen Persönlichkeit mit dieser Figur verschmelzen.' Stattdessen gründet er seine Körpersprache bisweilen auf Tiere. Als Drogenkönig Escobar in 'Loving Pablo' etwa waren es die Bewegungen eines Nilpferds, als psychotischer Killer in 'No Country for Old Men' imitierte er einen Hai."

Arnold Schwarzenegger 1974. Foto: RMY Auctions / Wikipedia


Arnold Schwarzenegger wird (morgen) 75. Sein Körper war immer schon Gegenstand feuilletonistischer Diskussionen, Projektionen und Sehnsüchte. Als "Schließmuskelmann in Vollendung" bezeichnete ihn vor sehr, sehr vielen Jahren Peter Sloterdijk. Ganz anders liest sich, was heute der Kunstprofessor und Bodybuilder Jörg Scheller in der NZZ über Schwarzenegger schreibt: Der männliche Muskelkörper ist ironiebegabt - im Gegensatz zur dumpfen Männerei eines Putin etwa. "Alles an Schwarzenegger ist künstlich. Spiel. Zitat. Hyper, hyper. Pop eben. Putin indes gibt in pseudogelehrten, geschichtsphilosophesken Schwadronaden vor, Russland zu entpopifizieren. Zurück zum heiligen Ernst! Krieg. Essenz. Tiefe. Authentizität. Tradition. Schwarzenegger ist nicht nur in Form, sondern auch, wie einst sein Freund Andy Warhol, ein postmoderner Mensch der Form. Eine Form hat feste Grenzen, aber man kann sie mit diversen Inhalten befüllen. Die festen Grenzen Schwarzeneggers sind Kapitalismus, Liberalismus, Demokratie. Innerhalb dieser ist Raum für Freiheit und Eigensinn, für Fluides, Spielerisches, Experimentelles." In der taz führt Jenni Zylka durch Schwarzeneggers Leben und Werk.

Weiteres: Claudia Roth stellt sich tot, ärgert sich Rüdiger Suchsland in seiner Artechock-Glosse darüber, dass die grüne Bundeskulturpolitik in Sachen Filmbranche außer Gießkannen für Streamingdienste eine Vogel-Strauß-Strategie fährt. Ebenfalls ärgern sich auf Artechock die beiden Filmemacherinnen Ella Cieslinski und Felicitas Sonvilla über den nun auch bis zum Statuenregen beim Deutschen Filmpreis anhaltenden Erfolg von Andreas Kleinerts Thomas-Brasch-Biopic "Lieber Thomas", das ihnen viel zu viril ausgefallen ist: "Weiberhelden dieser Art sollten out sein." Peter Kremski schreibt auf Artechock einen Nachruf auf den Schauspieler Christian Doermer.

Besprochen werden ein Band mit den Gesprächen zwischen Pier Paolo Pasolini und Gideon Bachmann (Filmdienst), C.B. Yis "Moneyboys" (Tsp, unsere Kritik hier), Hanna Bergholms Horrorfilm "Hatching" (Freitag, mehr dazu hier), die im Netz mit viel Häme übergossene Netflix-Jane-Austen-Verfilmung "Überredung" ("nicht so schlimm, wie manche Rezensionen glauben machen", findet Kathleen Hildebrand in der SZ), die Satire "Der perfekte Chef" mit Javier Bardem (Artechock, Presse, Standard)  und Vincent Maël Cardonas "Die Magnetischen" (Artechock, taz).
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Literatur

Gerrit Bartels (Tsp) und Patrick Bahners (FAZ) gratulieren dem Schriftsteller Sten Nadolny zum 80. Geburtstag. Besprochen werden unter anderem Linda Boström Knausgårds "Oktoberkind" (Dlf Kultur), Mariana Lekys "Kummer aller Art" (FR), Lukas Maisels Novelle "Tanners Erde" (ZeitOnline), Tom Kummers "Unter Strom" (NZZ), Gabriele Climas "Der Geruch von Wut" (Dlf Kultur), neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Marisa Reichardts "Immunity" (SZ), und Michael Krügers Essay "Über Gemälde von Giovanni Segantini" (FAZ).
Archiv: Literatur
Stichwörter: Krüger, Michael

Architektur

Günter Behnisch, Alten- und Pflegeheim Reutlingen, 1971-1977. Behnisch & Partner


Einfach großartig findet SZ-Kritikerin Laura Weißmüller die Ausstellung zum 100. Geburtstag des Architekten Günter Behnisch in Stuttgart, ein Plädoyer für das "Bauen für eine offene Gesellschaft", wie auch der Ausstellungstitel lautet. "Nicht um die 'Organisation der Masse', sondern um das Sichbewusstwerden des Individuums in der Gesellschaft ist es Günter Behnisch gegangen. Er wolle, sagte er einmal, 'alles, was klein, unorganisiert, schwach, individuell ist' unterstützen. 'Auf keinen Fall den 'Apparat'!' Worte von einem, der als einer der jüngsten U-Bootkommandanten im Zweiten Weltkrieg kämpfte, danach Jahre in der Kriegsgefangenschaft in England verbrachte, aus der er leicht hingetupfte, traurig-schöne Kinderzeichnungen nach Hause schickte. ... Der Krieg erweckte in Behnisch den unbedingten Willen zur Demokratie - und zwar nicht nur, 'wie sie ist, sondern wie sie sein sollte'. Niemand sonst hat diese Staatsform in derart lichte, transparente, aber eben auch auf das menschliche Maß berechnete Architektur übertragen."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Behnisch, Günter

Bühne

Im Interview mit der Berliner Zeitung erklären Yolanda Rother und Shawn Williams, Gründer des Beratungsunternehmens The Impact Company, wie ihre "Dienstleistungen in Fragen von 'Diversity, Audience & Culture'" - derzeit vom Berliner Ensemble in Anspruch genommen - aussehen. Welche konkreten Mängel sie in der Probe angesprochen haben, wollen sie allerdings nicht sagen.

Besprochen werden Bartók und Orff bei den Salzburger Festspielen (Zeit online, NZZ), "Nach Tristan" bei den Bayreuther Festspielen (Tsp), eine konzertanten Wiederaufführung von Wolfgang Rihms Oper "Jakob Lenz" in Salzburg (Welt, Standard) und die Ausstellung "VolksWagner" in Bayreuth (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Christian Schachinger vom Standard hat die Zukunft des Pop gesehen und sie heißt Moonchild Sanelly. Die südafrikanische Musikerin ist "der neue Star eines futuristischen Pop, der international gerade steilgeht. Sie selbst bezeichnet ihre Kunst als 'Future Ghetto Punk'. Derbe afrikanische Dancefloorstile wie Kwaito, Gqom oder Ampiano werden mit japanischer Soundterroristik aus Pachinko-Hallen kombiniert. Dazu werden Casio-Billigorgelsounds gemeinsam mit hektischen Beats auf eine Pulsfrequenz aus dem Leistungssport gepappt. Den Teilnehmenden am Sprintbewerb wirft man dann gern Prügel zwischen die Beine." Wir hören rein:



Virtual-Reality-Brillen, Light-Shows, Adaptionen von Videospiele-Soundtracks und dergleichen: Junge Generationen für Klassik zu begeistern, kann "besonders dann gelingen, wenn Klassik zum alle Sinne ansprechenden Erlebnisabend wird, der Leidenschaften entfacht", schreibt Thomas A. Herrig im Tagesspiegel etwas verkitscht und berichtet unter anderem vom "360 Cinema Concert" in den Niederlanden: "Im Auftrag des Dirigenten und Unternehmers Marcel Thomas Geraeds wurde ein holografisches Konzerterlebnis kreiert, passend zu 'Mars, der Kriegsbringer' aus der Planeten-Suite von Gustav Holst. Durch die Augmented-Reality-Brille eröffnet sich eine zusätzliche Dimension: Wer so ausgestattet im Konzertsaal sitzt, kann erleben, wie auf einem über dem Orchester schwebenden holografischen Mars glühende Asteroiden einschlagen."

Weitere Artikel: Im Kommentar zu einer auf Social-Media tobenden Kontroverse um eine bis dato unbekannte weiße Reggaeband, die Rastas trägt, was den Abbruch eines Konzerts zur Folge hatte, wünscht sich Christian Schachinger vom Standard weniger "verkniffene Besserwisserei in einem Woke-Safe-Space", sondern lieber Zusammenhalt und Klassenkampf. Kristoffer Cornils stellt auf ZeitOnline Streamingplattformen vor, die auf andere Formen der Entlohnung als das Penny-Dumping von Spotify setzen. Gunda Bartels resümiert im Tagesspiegel das Maultrommelfestival in Berlin.

Besprochen werden "Special" von Lizzo ("ein Album der Liebe", schreibt tazlerin Diviam Hoffmann, die sich allerdings auch etwas komplexere Musik gewünscht hätte) und John Scofields nach ihm selbst benanntes Soloalbum, auf dem er laut tazler Andreas Schäfler "demonstriert, wie ein aufgeklärtes Jazz-Vokabular mühelos Einsprengsel von Blues über Rock bis Country absorbieren kann". Im Podcast von ECM Records plaudert Scofield über seine Kunst:

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