Efeu - Die Kulturrundschau

Disparater Wechselbalg

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30.07.2022. Zehn AutorInnen haben für Salzburg Schnitzlers "Reigen" umgeschrieben. Das Ergebnis? Debatte statt Sex. Nachtkritik, SZ und FAZ sind mäßig beeindruckt. Die FAS besucht die Manifesta in Prishtina. Der Filmdienst begutachtet in der Berliner Ausstellung "No Master Territories" die Geschichte des feministischen Kinos der Siebziger- und Achtzigerjahre. Der Standard fängt sich ein aufgegamseltes Schleckerbussi von Beyonce ein.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.07.2022 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Reigen" in Salzburg. Foto: © SF / Lucie Jansch


Gleich zehn AutorInnen haben Schnitzlers "Reigen" für die Salzburger Festspiele neu bearbeitet. Geht das gut? "Kein Sex, nirgends", notiert Gabi Hift in der nachtkritik. Das war das einzige, über das sich die AutorInnen, die jeder eine Szene übernahmen, ohne sich auszutauschen, offenbar einig waren. Sex "scheint zu einem Anachronismus aus einem vorigen Jahrhundert geworden zu sein, in einer Reihe mit Duellen und Pferdekutschen. Statt einer formstrengen, runden Versuchsanordnung bekommt man hier einen merkwürdigen, disparaten Wechselbalg vorgesetzt. Aber nach einer Weile, wenn die erste Enttäuschung überwunden ist, entwickelt der Abend eine immer dichter werdende Atmosphäre - jedenfalls in der ersten Hälfte. Was Einheit schafft, ist einerseits die schräge, phantasievolle Regie von Yana Ross mit ihrem formidablen Ensemble. Andererseits ist es der faszinierende Raum, erschaffen von Márton Ágh. Anders als bei Schnitzler spielt hier alles an einem Ort: in einem riesigen Luxusrestaurant. ... Vorne oben schließt das Restaurant mit einer Lamellenjalousie ab, die sich zu einer Videoleinwand schließen lässt, auf der man andere Räume des Gebäudes sieht: ein Hotelzimmer, in dem eine Schauspielerin via Laptopkamera gestalkt wird; den Überwachungsraum des Security-Manns. Das öffnet das Bild in mehrere Dimensionen."

"Kein Sex ist also auch keine Lösung", erkennt SZ-Kritikerin Christiane Lutz. Vor allem, wenn als Alternative Debattentheater herhalten muss. "Nach dem Motto: Welche aktuellen Themen müssten dringend auf die Bühne? Lasst uns eine Liste machen! Dem daneben direkt subtilen Original gibt sie gar nicht erst die Chance, eben jene Debatten auch anzuregen, dabei liegen schon bei Schnitzler Klassismus, Sexismus, Unterdrückung der Frauen und soziale Abhängigkeit im Text. Das heißt nicht, dass die neuen Tabus nicht relevant sind und nicht auch ins Theater gehören. Es ist nur fraglich, ob es in der Kunst immer der schlauere Weg ist, alles wegzuradieren, was an Geschichten schon da ist und drüberzupinseln, vermeintlich Problematisches wie Sexszenen zu streichen, statt sie klug zu inszenieren, nur, um moralisch unbedingt auf der sicheren Seite zu stehen." In der FAZ fragt Sandra Kegel, warum man einen Schnitzler komplett überschreibt, statt einfach ein eigenes Stück zu schreiben.

Weiteres: Im Tagesspiegel berichtet Eberhard Spreng vom Theaterfestival in Avignon. Dorion Weickmann hat sich für die SZ mit dem japanischen Tänzer und Choreografen Saburo Teshigawara unterhalten, der in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Besprochen werden außerdem "Nach Tristan" in Bayreuth (nmz) und die szenische Aufführung von Wolfgang Rihms Oper "Jakob Lenz" in Salzburg (FAZ).
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Kunst

Waterpeople. © Speculative Tourism. Foto: Manifesta


Etwas fremd fühlt sich Laura Helena Wurth auf der Manifesta in Prishtina. Aber das geht in Ordnung, meint sie in der FAS. Man hat ja wirklich keine Ahnung vom Kosovo, oder wenn man für fast jedes Land ein Visum braucht, das nur selten gewährt wird, wie ihr Selma Selman bei der Eröffnungsperformance entgegenschleudert. "Und so ist eines der Hauptthemen der Menschen hier und deswegen auch dieser Biennale: Isolation. ... Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt, der Kosovo hat die jüngste Bevölkerung Europas, und sie fühlen sich gefangen im eigenen Land. Die Manifesta will das ändern, will das Land durch Kultur öffnen und an eine international vernetzte Szene anschließen. Aber sie will auch die städtische Struktur vor Ort ändern. Das ist es, was die Manifesta von anderen Kunst-Biennalen unterscheidet: Die Kunst ist der Anlass, die eigentliche Arbeit liegt aber in der Stadtentwicklung und einer Bedarfsstudie, die der Manifesta vorausgeht."

Die Darstellungen in der algerischen Broschüre "Présence des Femmes" sind nicht antisemitisch, meint Alexander Farenholtz, Interims-Geschäftsführer der Documenta, im Interview mit dem Tagesspiegel. Oder vielmehr: sie sind "strafrechtlich nicht relevant. Es wurde auch auf Antisemitismus-Themen überprüft und man ist damals zu dem Ergebnis gekommen, dass man es wieder in die Ausstellung einbringen kann. Vor allem, weil das Material dokumentarischen Charakter hat, es stammt aus den 1980ern und adressiert einen Konflikt der Zivilbevölkerung mit dem Militär." Doch seien "handwerkliche Fehler passiert. Man hat die Beschwerdeführerin nicht über den Umgang mit der Beschwerde auf dem Laufenden gehalten. Das führt dazu, dass sie ihre Beschwerde, bei einem erneuten Besuch, bei dem sich aus ihrer Sicht nichts verändert hatte, an eine andere Stelle weitergegeben hat. Der zweite Fehler war, dass die künstlerische Leitung der Documenta nicht aktiv entschieden hat, ob für diese Broschüre in der Ausstellung eine Kontextualisierung notwendig ist - oder eben nicht. Man hat sie einfach wieder hineingelegt." Jetzt wolle man sie kontextualisieren.

Antisemitisch? Zeichnung des palästinensischen Karikaturisten Naji al-Ali


Die Bilder in der algerischen Mappe sind nicht antisemitisch, betrachtet man sie im Kontext, meint auch Joseph Croitoru in der Berliner Zeitung. So kritisierte etwa der palästinensische politische Karikaturist Naji al-Ali häufig die "in seinen Augen viel zu passive Haltung der arabischen Regime gegenüber der palästinensischen Sache. Dies ist nun auch das Thema einer seiner in dem algerischen Heft enthaltenen Karikaturen. In der Mitte erscheint eine traditionell gekleidete robuste Frau, die einem sich krümmenden israelischen Soldaten kräftig in den Unterleib tritt. ... Rechts im Hintergrund sind zwei Fußpaare zu sehen, die auf einen Geschlechtsakt hindeuten. Die beiden mittleren Füße tragen Davidsterne, auf den äußeren steht auf Arabisch: 'Die unterwürfigen Regime'. Anders als in den kursierenden, voreiligen Interpretationen behauptet, geht es hier keineswegs um die Vergewaltigung einer Araberin durch einen Israeli. Vielmehr geißelte al-Ali so die Tatenlosigkeit der arabischen Regime, die die Palästinenser nicht nur im Stich ließen, sondern sich Israel - im übertragenen Sinne - sogar hingäben. Nicht zuletzt die starke Präsenz der Frauenfigur im Bild, die hier als Symbol für Palästina fungiert, dürfte seinerzeit das ARFA-Kollektiv inspiriert haben, die Karikatur in seine Materialsammlung mit aufzunehmen."

Weiteres: Auf Zeit online beschreibt Dirk Peitz in einem epischen (zahlbaren) Artikel den Stand der Antisemitismusdiskussion in Deutschland anhand des Umgangs mit der Documenta-Kuratorin Autorin Emily Dische-Becker. Mehr dazu, wenn auch deutlich polemischer, im Verfasssungsblog. In der FAZ bewundert Andreas Platthaus den bengalischen Tiger Pascha, der für das Museum Wiesbaden präpariert wurde. Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Design & Dynastie. 250 Jahre Hofleben Oranien-Nassau" im Stadtschloss Fulda (Tsp), Patricia Wallers Ausstellung "Verlorenes Paradies" in der Berliner Galerie Deschler (BlZ) und die Foto-Ausstellung "Unverschämte Schönheit" in den Kölner Kunsträumen der Michael Horbach Stiftung (taz).
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Literatur

Der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann ist in Berlin zum Schweizer Patrioten geworden, erkennt aber auch die alte Schweiz vor lauter Wandel nicht wieder, erklärt er im langen NZZ-Gespräch. Der Schriftsteller Norbert Hummelt erzählt in der NZZ von seinen Wanderungen in Sizilien auf den Spuren des Satanisten Aleister Crowley, der dort eine Abtei für magische Rituale betrieb und an dem er einen Narren gefressen hat, seit Ozzy Osbourne ihn besang. Im Dlf Kultur spricht Dorothea Westphal mit Katja Petrowskaja, Sabine Kalff und Yuriy Gurzhy über ukrainische Kriegstagebücher. Das "Literarische Leben" der FAZ dokumentiert Ilija Trojanows Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen.

Besprochen werden unter anderem Patrick Modianos "Unterwegs nach Chevreuse" (Tsp), Serhii Plokhys "Die Frontlinie" (FR), Imre Kertészs Arbeitstagebuch zur Entstehung seines "Roman eines Schicksallosen" (taz), Marc Hamers "Vom Blühen und Vergehen" (FR) und Viktor Schklowskis "Zoo - Briefe nicht über Liebe, oder Die dritte Heloise" (FAZ).
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Film

Die von Krisen und Skandalen gebeutelte Hollywood Foreign Press Association, die die Golden Globes verteilt, tritt die Rechte an der Filmauszeichnung an den Milliardär Todd Boehly ab - die Globes sollen künftig eine kommerzielle Veranstaltung werden. Jürgen Schmieder erklärt in der SZ die Hintergründe: Boehly festigt damit seinen - eh schon gegebenen - Einfluss in Hollywood, außerdem erhalten die Mitglieder der HFPA künftig statt Zuwendungen, Aufmerksamkeiten, Vorteilen und Geschenken ein Gehalt. Es kursiert die Zahl von 75.000 Dollar pro Jahr. "Wer nun fragt: Moment, die HFPA-Leute kriegen statt Geschenken nun einfach ein Gehalt? Antwort: Ja, genauso scheint es auszusehen. Die sogenannten weitreichenden Veränderungen führen doch eher dazu, dass vieles bleiben könnte wie bisher. Auch der Unterhaltungsbranche könnte der Deal nützen. Es war eine haarsträubende Heuchelei, dass viele so taten, als müsse nur die HFPA an den Pranger gestellt werden - obwohl alle wussten, was da lief, machten sie dennoch mit, solange es sich für sie lohnte."

Im Filmdienst legt uns Esther Buss die Ausstellung "No Master Territories" im Berliner Haus der Kulturen der Welt ans Herz. Es geht um die Geschichte des feministischen Kinos der Siebziger- und Achtzigerjahre zwischen Fiction und dokumentarischen Formen. "Häusliche Sphären und weibliche Arbeit sind nur einer von vielen möglichen Eingängen" in diese Ausstellung, schreibt Buss. Das Kuratorenteam "setzt auf eine dezentrale Präsentationsform ohne Kapitel und vorgegebenen Parcours. Man könnte ihn auch mit 'Near the Big Chakra' (1971) beginnen, einer Collage von Alice Anne Parker (Severson), die 38 Vulven von Menschen im Altern von drei Monaten bis 63 Jahren in Großaufnahme aneinandermontiert. Oder mit 'Pour mémoire' (1987), einem kurzen Erinnerungsfilm an Simone de Beauvoir. Ein Jahr nach ihrem Tod suchte die Schauspielerin und Videoaktivistin Delphine Seyrig ('Jeanne Dielman') ihr Grab auf dem Friedhof von Montparnasse auf."

Besprochen werden Lesia Kordonets' Dokumentarfilm "Pushing Boundaries" über ukrainische Paralympics-Athleten (NZZ), Barry Levinsons Holocaustdrama "The Survivor" (SZ), die Satire "Der perfekte Chef" mit Javier Bardem (SZ, Filmfilter) und die Amazon-Serie "Paper Girls" (Berliner Zeitung).
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Musik

"Eine Wiedergeburt durch Strahlentherapie mit Discokugel" ist Beyoncé mit "Renaissance", ihrem ersten regulären Studioalbum seit sechs Jahren gelungen, meint Christian Schachinger im Standard. Vom Homeoffice geht es zurück in die Clubs: "Reine verschwitzte Körperlichkeit wird in Stücken wie 'Cuff It' verhandelt. Zärtlich wird da die männliche 'Hydraulik' während eines nächtlichen Ausritts geknufft, bevor sie ausgequetscht wird. ... Auch im phänomenalen Song 'Alien Superstar' werden die Music-Lovers dieser Welt tatsächlich mit Opulenz überfahren und aufgegamselte Schleckerbussis verteilt. Abgesehen davon, dass im Stück 'Move' neben der jungen nigerianischen Sängerin und Produzentin Tems Studio-54-Veteranin Grace Jones höchstselbst für einen Gastbeitrag vorbeischaut, handelt es sich bei 'Alien Superstar' um eine hart pumpende Hommage an die jamaikanische Disco-Königin der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre." Ja, die "die Königin des R&B marschiert rückwärts durch die Jahrzehnte", pflichtet auch Lena Karger in der Welt bei. "Alles, was Spaß macht, speist sie ein in die Riesenmaschine 'Renaissance'", schwärmt auch Julia Lorenz auf ZeitOnline. "Eine mächtige Stunde lang dauert Beyoncés Fahrt durch die Clubmusikgeschichte, ohne Stopp, mit blitzsauberen Übergängen, die Brücken schlagen zwischen dunkel losbollernden Dancestücken, federnden Funksongs und Retrofuturistischem."



Weiteres: Den Kritikern kultureller Aneignung hält Harry Nutt in der FR die Geschichte des legendären - und von den deutsch-jüdischen Migranten Alfred Lion und Francis Wolff gegründeten - Jazzlabels Blue Note Records entgegen, die auch als kulturelle Aneignung gelesen werden könnte: "Wer es so betrachtet, verkennt die oft mitreißenden Verzweigungen einer vielschichtigen Kulturgeschichte." In der NMZ ärgert sich Carl Parma darüber, dass Berliner Bibliotheken ihren einst reich gefüllten und sorgfältig kuratierten Musikfundus immer weiter abbauen. Sky Nonhoff führt für Dlf Kultur durch die Geschichte des Glamrock. In der FAZ gratuliert Gerald Felber dem Geiger und Dirigenten Reinhard Goebel zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden ein von Christian Thielemann dirigiertes Bruckner-Konzert bei den Salzburger Festspielen (Standard), die Memoiren der britischen Folkmusikerin Vashti Bunyan (taz), ein neues Album von Josh Rouse (FR), eine Arte-Doku über Italo-Disco (FR, ZeitOnline), Konzerte von Sting (Berliner Zeitung) und Katie Melua (NZZ) sowie der Auftakt des Popfests Wien (Standard).
Archiv: Musik