Efeu - Die Kulturrundschau

Das Ohr ist die Instanz

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.08.2022. Die FAZ liefert Hintergründe zum Prozess gegen die Schriftstellerin Tsitsi Dangarembga in Simbabwe. Der Tagesspiegel vermisst Psychologie in Bayreuth, die SZ hört lieber den Mythos in der Musik als echte Menschen zu sehen. Die FR freut sich auf die Douglas-Sirk-Retro in Locarno. Die NZZ ist genervt von der internationalen Sprachpolizei, die jetzt Beyoncé und Lizzo zur Änderung von Texten zwang. Zeit online findet das demokratisch: Via Social Media kommunizierten Fans und Stars jetzt fast auf Augenhöhe. Warum einige kubanische Künstler Angst haben, nach Kassel zu fahren, erklärt die Welt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.08.2022 finden Sie hier

Literatur

Cornlia Zetzsche liefert in der FAZ Hintergründe zu dem sich schleppenden, wegen hanebüchener Gründe geführten Prozess, den Simbabwe gegen die Schriftstellerin Tsitsi Dangarembga führt, weil sie gewagt hatte, mit einem Schild auf einer Demonstration für demokratische Reformen zu werben: "Präsident Emmerson Mnangagwe, seit dem Militärputsch und der Absetzung Mugabes 2017 der starke Mann im Staat, regiert mit eiserner Hand. Seit Jahren werden Gesetze verschärft. Der 'Peace and Order Act' macht jetzt Organisatoren für jegliche Gewalt verantwortlich, die auf ihrer Demonstration geschehen könnte, schränkt also zunehmend die Versammlungsfreiheit ein. Die 'Private Voluntary Organisation Bill' verbietet NGOs, die aus dem Ausland unterstützt werden, jede politische Einmischung. Prominenz schützt nicht vor Verhaftung und garantiert weder Freilassung gegen Kaution noch menschenwürdige Behandlung. Die Justiz sei ein Instrument der Repression geworden, sagen Beobachter."

Außerdem: Elke Heidenreich erinnert sich in der SZ an ihre schlimmste Lesung, die ihr so sehr an die Nerven ging, dass sie sich "freie Waffen für jeden" wünschte: "Was hätte ich für ein herrliches Blutbad anrichten können!" Ebenfalls in der SZ verrät Eva Menasse, was sie gerade liest ("Der nichtjüdische Jude" von Isaac Deutscher) und welches Buch sie viel zu spät gelesen hat ("Deutschstunde" von Siegfried Lenz). Thomas Lippold wirft für den Tagesspiegel einen Blick auf Neil Gaimans Comicklassiker "Sandman", den Netflix ab heute als Serienadaption anbietet.

Besprochen werden unter anderem Gabriele Riedles "In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg." (taz), Linda Boström Knausgårds "Oktoberkind" (Standard), Kirsten Boies Vorbei ist eben nicht vorbei" (Tsp), Senthuran Varatharajahs "Rot (Hunger)" (online nachgereicht von der FAZ), Claudio Magris' Erzählungsband "Gekrümmte Zeit in Krems" (SZ) und Ann Petrys "Harriet Tubman" (Tsp).
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Bühne

Der Walhalla-Clan. Waldvogel, Siegfried, Mime und Hagen. Foto: Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele 2022


"Götter sind auch nur Menschen, heißt die 'Ring'-Botschaft des Valentin Schwarz, "schreibt Wolfgang Schreiber in der SZ wenig aufgeregt ob dieser Erkenntnis über den "Siegfried" in Bayreuth, "der oberste Gott ist ein brutaler Clanchef moderner Mach(o)art. Korruption, Ausbeutung, Besitz, Macht, Sexismus sind sein Credo. Hier begegneten wir, so der Regisseur, 'hautnah Menschen in ihrer Tragik und in ihrer Komik, mit all ihren Ängsten und Träumen, die an der Wirklichkeit zerschellen'. Der Mythos, menschengerecht gemacht." Aber diese Banalisierung wird für Schreiber immer wieder durch Wagners Musik konterkariert. "Es ist die Musik, die den Mythos, die Verzauberung, notwendigerweise hervorbringt. Das Ohr ist die Instanz, so weit sich Valentin Schwarz mit seinem Theaterrealismus auch hervorwagt und dafür mit lautstarken Buhs bedacht wird."

Tagesspiegel-Kritikerin Christiane Peitz ist nur halb zufrieden mit den Sängern. Und auf der Bühne vermisst sie irgendeine Art von Personenführung: "Psychologie? Erübrigt sich, wenn die über Generationen konstante Verderbtheit längst feststeht. Die Zukunft gehört nur dem nächsten Gangsterpaar." Weitere Kritiken in nmz und FAZ.

Besprochen wird außerdem Gordon Kampes "Wut" bei den Salzburger Festspielen (nmz).
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Film

Bereits am Mittwoch hat das Filmfestival von Locarno begonnen, FR-Kritiker Daniel Kothenschulte freut sich vor allem auf die Douglas-Sirk-Retrospektive. Sirk, der als Detlef Sierk vor den Nazis in die USA geflüchtet war, hielt viel auf die Staaten. "Etwas allerdings trennte ihn von seinen amerikanischen Freunden: deren unerschütterlicher Optimismus. Seine anhaltende Beschäftigung mit der amerikanischen Mittelschicht war geprägt vom Erleben der Nazi-Diktatur, deren Nährboden er im Kleinbürgertum ausgemacht hatte. Seine späten Meisterwerke wie 'Was der Himmel erlaubt', 'In den Wind geschrieben' und der krönende Abschluss seiner Melodramen für Universal, 'Solange es Menschen gibt' handelten von der Doppelmoral aufstrebender Gesellschaftsschichten. Sein wichtigstes Requisit war dabei der Spiegel, den er in den meisten Filmkulissen unterbrachte. Dass sich das amerikanische Publikum genau diesen von ihm vorhalten ließ, lag wiederum an Sirks positivem Menschenbild. Er liebte seine gebrochenen Heldinnen und Helden."

Besprochen werden Kiyoshi Kurosawas "To The Ends of the Earth" (Tsp, unsere Kritik hier), die Actiongroteske "Bullet Train" mit Brad Pitt nach dem gleichnamigen Roman von Kōtarō Isaka (ZeitOnline, FAZ, Standard), die Netflix-Komödie "Buba" mit Bjarne Mädel (FAZ), Stefan Sarazins Nahost-Komödie "Nicht ganz koscher" (Tsp), Ron Howards "Dreizehn Leben" (SZ), der neue Eberhofer-Krimi "Guglhupfgeschwader" (Tsp, Welt), die Apple-Serie "Surface" (FAZ) und die auf Sky gezeigte Horrorkomödie "The Baby" (taz).
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Kunst

Die kubanischen Künstler und LGBTQIA+-Aktivisten Daniel Tirana und Amaury Pacheco waren zwar zur Documenta 15 nach Kassel eingeladen worden, haben jedoch abgesagt, weil ihnen bei der Rückkehr vermutlich die Einreise nach Kuba verweigert würde. So wird das Regime in letzter Zeit Kritiker los, berichtet Tobias Käufer in der Welt: "Zuletzt machte unter anderem die kubanische Aktivistin Anamely Ramos die Erfahrung, als ihr bei der geplanten Rückreise nach Kuba auf dem Flughafen in Miami der Zutritt zum Flugzeug in die Heimat verweigert wurde. Im Juli demonstrierte sie deswegen tagelang vor dem Weißen Haus in Washington, um das Schicksal der im Zwangsexil lebenden Kubaner aufmerksam zu machen. Die Kuba-Ausstellung auf der Documenta erfreut sich bei den Besuchern großer Beliebtheit. Gezeigt wird die massive Unterdrückung der unabhängigen Kunst und Kulturszene durch das sozialistische Regime in Havanna. Regierungskritischen Künstlerinnen und Künstler wird unverhohlen angedroht: Exil oder Gefängnis."

Alex Feuerherdt, Redakteur der Website mena-watch.de, weist bei audiatur-online.ch  auf das Phänomen der "Umwegkommunikation" hin, das bei postkolonialen Verfechtern des "globalen Südens" zu beobachten sei. Das was bei uns als antisemitisch gilt, sei es in Darbietungen des "globalen Südens" zu Israel nicht, weil der Kontext ein anderer sei. So erlauben diese Darbietungen zugleich stellvertretende Äußerungen über Israel, die man sich hierzulande nicht trauen würde. Nur ist der Kontext im "globalen Süden" nicht so anderes, wie die doch höchst konventionellen Documenta-Karikaturen zeigen, wendet Feuerherdt ein: "'Peoples' Justice' folgt einer Ästhetik, wie sie aus westlichen Agitprop-Bildern seit Jahrzehnten bekannt ist, und die Darstellung von Juden als Nazis und Schweine ist in jedem Kontext antisemitisch. Die Ikonografie des Antisemitismus ist zudem uralt und global, natürlich kennt man sie bei Taring Padi. Genauso hat die Gleichsetzung der israelischen Armee mit der deutschen Wehrmacht, wie sie im Zyklus 'Guernica Gaza' betrieben wird, in den palästinensischen Gebieten keine andere Bedeutung als in Europa. Die Botschaft lautet: Die Israelis sind wie die Nazis. Und so versteht man sie auch hier wie dort." Den Begriff der "Umwegkommunikation" übernimmt Feuerherdt aus einem FAZ-Beitrag von Leonard Kaminski.

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel fordert Susanne Krause-Hinrichs von der Flick Stiftung, Antisemitismus künftig im Grundgesetz zu ächten. "Eine Staatszielverpflichtung im Grundgesetz zur Antisemitismusprävention ... könnte vieles ändern. Was Antisemitismus sei und wie er zu bekämpfen ist, würde dann endgültig auch definitorische Aufgabe einer dynamischen Rechtsprechung werden. Die Länder Brandenburg und Sachsen-Anhalt haben ihre Verfassungen immerhin schon entsprechend geändert." Im Humbold-Forum freut sich Andreas Kilb (FAZ) über das neue Dach für das Männerhaus von Palau und ein neues Doppelrumpfboot, das Handwerker aus Fidschi im Auftrag der Staatlichen Museen nachgebaut haben. Peter Kropmanns feiert in der FAZ mit den Parisern 150 Jahre "Wallace-Brunnen", das sind die gußeisernen grünen Trinkwasserspender auf den Straßen.

Besprochen werden die Ausstellung "Allemagne / Années 1920 / Nouvelle Objectivité / August Sander" im Centre Pompidou (SZ) und die David-Hockney-Retrospektive im Kunstmuseum Luzern (FAZ).
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Musik

ServusTV hat das bereits seit einigen Tagen angekündigte Interview mit Teodor Currentzis ausgestrahlt. Würde der Dirigent sein Schweigen zum russischen Krieg gegen die Ukraine brechen? Von im bereits im Vorfeld gestreuten, vagen Äußerungen zu seiner Demokratieliebe ("Ich bin Grieche") abgesehen, war der Plausch allerdings nicht ergiebig, findet Moritz Baumstieger in der SZ: Zu kritischen Nachfragen kam es erst gar nicht. "Im Falle des Demokratiefans Currentzis könnte man etwa die Tatsache erwähnen, dass er eine von Wladimir Putin per Dekret gewährte russische Staatsbürgerschaft entgegennahm - und zwar 2014, nach der russischen Invasion der Krim. Doch Currentzis gegenüber saß in der holzvertäfelten Bibliothek von Schloss Leopoldskron keiner, der nachfragte. Ioan Holender, einst Direktor der Wiener Staatsoper, reichte seinem Gesprächspartner im schwärmenden Ton ein Stichwort nach dem anderen herüber."

Von denen sah sich Currentzis offenbar derart überhäuft, dass ihm gar nichts übrig blieb, als weiterhin nicht konkret zu werden, wenn man Stefan Weiss' im Standard geäußerten Eindrücken folgt: Auf ihn wirkte es, als hätte "der Dirigent gerne mehr über das Thema gesagt, nur, gefragt wurde er von Holender nicht." Dieser "wollte das Gespräch also aufs Künstlerische beschränken. Zum Beispiel darauf, dass Currentzis die 13. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch aufführte. Der stalin-kritische Komponist verarbeitete darin die NS-Massaker an Jüdinnen und Juden im ukrainischen Babyn Jar - ein Werk, das Interpretationsspielraum für beide Seiten des aktuellen Krieges bietet: Während Putin-Treue mit ihrer Erzählung von der 'Entnazifizierung' anknüpfen können, werden Ukrainer die einstigen NS-Okkupateure in den russischen Truppen wiedererkennen. Aber dazu freilich kein Wort im Gespräch, ebenso wenig dazu, dass die Gedenkstätte Babyn Jar in Kiew vor wenigen Monaten durch russischen Raketenbeschuss in Mitleidenschaft gezogen wurde."

Dass mit Lizzo und Beyoncé zwei Mega-Seller unter den Popstars kurz nach Erscheinen ihrer neuen Alben auf Vorwürfe, dass darauf diskriminierende Sprache zu hören sei, prompt reagierten und die Songs nachträglich bearbeiteten, zeigt eine Verschiebung im Pop, hält Aida Baghernejad auf ZeitOnline fest: Via Social Media kommunizieren Fans und Stars "jetzt fast auf Augenhöhe. ... Zur veränderten Kommunikation kommt die steigende Relevanz digitalen Musikstreamings im Vergleich zum Verkauf physischer Tonträger hinzu. Musik lässt sich jetzt auch nach dem Erscheinen eines Albums noch verändern, es sind nicht bereits Millionen CDs und Vinylplatten hergestellt, die man nur mit astronomischen Kosten wieder aus dem Handel und so aus der Welt bekäme. Ein Song ist damit theoretisch nie abgeschlossen und damit auch nicht mehr für die Ewigkeit festgehalten."

Völlig anders beurteilt Ueli Bernays in der NZZ das Manöver: "Die Welt ist wieder in Ordnung. Das haben wir einer engagierten internationalen Sprachpolizei zu verdanken. ... Die Mainstream-Pop-Musik scheint unter den Druck eines puristischen Idealismus zu geraten, den sie einst mitinspirierte durch ihr Eintreten für diverse Minderheiten. Wenn aber früher zumeist die Provokationen der Künstler den Skandal auslösten in der Pop-Szene, so sind es heute die Zensurforderungen von Empörungskollektiven aus dem Publikum." In der taz schwärmt Christian Werthschulte vom "enzyklopädischen Eifer", mit dem sich Beyoncé und ihre Produzenten durch die Geschichte schwarzer Popmusik arbeiten.

Außerdem: Jean-Martin Büttner erzählt in der NZZ die Geschichte von Don McLeans Popklassiker "American Pie". Besprochen werden der Auftritt der Rolling Stones in Berlin (Welt, FAZ, SZ), eine Prokofjew-Aufnahme des Pianisten Alexander Gadjiev (SZ), Rachel Margetts' "Don't Look Now" (taz) und Pisses Album "Lambada" (Jungle World). In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Jens Buchholz über Falcos "The Sound of Musik":

Archiv: Musik