Efeu - Die Kulturrundschau

Nur Katja gehört nie dazu

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09.08.2022. Aktualisiert: Emine Sevgi Özdamar bekommt in diesem Jahr den Büchner-Preis! Der Tagesspiegel bestaunt in der Fondation Cartier Werke der australischen Künstlerin Sally Gabori, die erst mit 81 Jahren zu malen anfing. Die Musikkritiker sind hin und weg von Barrie Koskys Salzburger Inszenierung von Leoš Janáčeks "Katja Kabanova": So geht Minimalismus, mit fabelhafter Personenführung! In der FAZ beklagt der ostukrainische Schriftsteller Wolodymyr Rafejenko, was der Krieg seiner Sprache angetan hat: Die russische Sprache an sich wurde obszön. Wie Rap-Texte zu Beweismitteln werden können gegen kriminelle Gangs, erklärt Zeit online.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.08.2022 finden Sie hier

Bühne

Káťa Kabanová 2022: Corinne Winters (Katěrina/Káťa). © SF / Monika Rittershaus


In Salzburg hatte Barrie Koskys Inszenierung von Leoš Janáčeks "Katja Kabanova" Premiere: Im leeren Felsendom, an den Seiten aufgereiht ein Puppenchor, der den Sängern, allen voran der verzweifelten Katja Kabanova, den Rücken zukehrt. Die Kritiker sind begeistert! "Vor den Puppenmenschen rast Káta durch den Raum, eingezwängt wie in einem Käfig. Sie tut es bereits zu den ersten Tönen der Philharmoniker und wirkt wie ein an der dörflichen Enge erstickender Sehnsuchtsmensch. Genau hat Kosky ihr Drama schon zu Beginn choreografiert", lobt Ljubiša Tošić im Standard.

Auch Jan Brachmann geht in der FAZ d'accord mit dieser Interpretation: "Barrie Kosky hat diese Oper aus dem Jahr 1921 bei den Salzburger Festspielen durch die Kostüme von Victoria Behr ganz in die Gegenwart geholt - in dem Wissen, dass die Zeit religiös geprägter Ehr- und Schuldvorstellungen, die Zeit sozialer Ausgrenzung von Normabweichlern, auch die eines harten Matriarchats, das durch Katjas Schwiegermutter, die Kabanicha, verkörpert wird, nicht vorbei sind. Diese Welt lebt weiter: in den streng katholischen Dörfern Ostpolens, in Rumänien und Albanien und wahrscheinlich sogar in manchen Strichen Niederbayerns. Europa ist etwas ganz anderes als das Bild, das sich die Espresso-Macchiato-Boheme in den Metropolen davon macht."

Kosky braucht überhaupt keine Requisiten, staunt Judith von Sternburg in der FR, er verlässt sich ganz auf seine "fabelhafte Personenführung": "Die Sängerinnen und Sänger lösen sich aus der Menge oder tauchen aus den schmalen Durchgängen auf, die sich zwischen ihr auftun. Nur Katja gehört nie dazu, ist zu lebendig, zu beweglich, rennt schon zum Vorspiel über die Bühne, ist unglücklich auf die Art, in der leidenschaftliche Menschen unglücklich sind." Auch Joachim Lange lobt in der nmz die Personenregie: "Davon profitiert allen voran die phänomenale Corinna Winters als Katja. Eine junge, hübsche Frau, eigentlich noch am Anfang ihres Lebens, doch eingesperrt und schon am Ende. Ein leichtfüßiger Wirbelwind mit beeindruckender vokaler Ausdruckskraft. Sie ist das Glanzlicht eines in jeder Hinsicht durchweg exzellenten Ensembles."

Fehlt noch die Musik. Und die, vom wie Janáček in Brünn geborenen Jakub Hrůša dirigiert, war auch ganz fabelhaft, schwärmt Michael Stallknecht in der SZ: "Es mag ein Klischee sein, dass jemand eine Musik 'im Blut' haben kann. Aber Hrůša gelingt bei 'Káťa Kabanová', wie die Festspiele das Stück philologisch korrekt nennen, tatsächlich, womit sich viele Dirigenten schwertun: die kleinteilig gebrochene Fraktur mit dem großen Gefühl zu versöhnen. Er schält die komplexen Rhythmen heraus und hält sie dabei flexibel. Er setzt harte Schnitte und klare Konturen, gibt aber immer dem Melos und, im richtigen Maß, dem Sentiment Raum."

Weiteres: In der taz berichtet Torben Ibs vom Berliner Festival "Tanz im August". Besprochen wird außerdem Rolando Villazóns Inszenierung von Rossinis "Il barbiere di Siviglia" mit Cecilia Bartoli in Salzburg (Standard).
Archiv: Bühne

Kunst

Sally Gabori, Dibirdibi Country, 2010. © The Estate of Sally Gabori, Cairns, et Alcaston Gallery, Melbourne, Australie. Photo © Simon Strong


Eine echte Entdeckung macht Christiane Meixner (Tagesspiegel) in der Fondation Cartier in Paris: Sally Gabori, eigentlich Mirdidingkingathi Juwarnda Sally Gabory, begann erst mit 81 Jahren zu malen und wurde innerhalb von zehn Jahren zu einem Star der australischen Kunstszene. In Europa ist sie noch völlig unbekannt: "Man schaut halt nicht so oft von hier nach Australien und verbindet vor allem mit der Malerei der Aborigines ein festes Vokabular aus Punkten und figurativer Darstellung. Gabori hingegen hat sich die Sprache der Abstraktion angeeignet - ohne Vorkenntnisse, sondern im Gegenteil mit einer biografischen Geschichte, die auf alles andere als eine späte Hinwendung zur Kunst deutet." Davon zeugen vor allem ihre Bilder von Bentinck Island, der Insel, auf der sie geboren wurde und die sie verlassen musste und die sie immer wieder aus der Vogelperspektive kartografierte.

Die Debatte um Jean-Jacques Lebels Installation mit Fotos von in Abu Ghraib gefolterten und getöteten Irakern auf der Berlin-Biennale führt für FAZ-Kritiker Niklas Maak direkt "ins Zentrum der seit Jahren schwelenden Frage, wer unter welchen Bedingungen Bilder von Gewalttaten zeigen kann, sollte und darf. ... Nun ist es eine Sache, ob etwa die Bilder von Erschießungen und von schreiend davonlaufenden nackten Kindern im Vietnamkrieg oder aktuell die der Opfer des Massakers von Butscha dazu beitragen, die Öffentlichkeit aufzuklären darüber, was passiert; oder ob hinlänglich bekannte, 'ikonische' Bilder von bekannten Gewalttaten im Kunstkontext verwendet werden. Hat die Kunst, die solche Bilder weiterverwertet, eine aufklärerische Funktion, oder macht sie die Bilder des Leidens zum Ornament einer Kritikalitätsästhetik, die ihren Aufklärungsanspruch gar nicht einlösen kann?"

Besprochen werden weiter die Ausstellung "Holzschnitt. 1400 bis heute" im Kupferstichkabinett am Kulturforum Berlin (FAZ) und Julius H. Schoeps' Band "Wem gehört Picassos 'Madame Soler'" (FR).
Archiv: Kunst

Design

Links das alte, rechts das neue (seit 2012) Logo für Yves Saint Laurent


Serifen gehen in immer mehr Markenlogos zum Teufel und Spielereien reihenweise flöten. Auch sonst herrscht im Corporate Design zunehmend Minimalismus. Maximal bedauerlich findet Gerhard Matzig von der SZ diesen nachgeschoben wirkenden Moderne-Trend: "Der eigentliche Grund, warum tradierte Logos und Signets in den vergangenen Jahren oft so auffallend drastisch angepasst werden, zumeist auf dem Ticket des Minimalismus reisend, liegt auch in der Digitalisierung. Logos müssen auf immer komplexeren Kanälen und in unterschiedlichen technisch-medialen Umfeldern ausgespielt werden. Simplizität ist hilfreich. Zudem geht es auch um die Aufmerksamkeitsökonomie: Abstrakte Darstellungen kann das menschliche Hirn leichter interpretieren - als komplexe Informationen. Von Netflix über Microsoft und Ebay sind es vor allem auch die Tech-Unternehmen, die sich derzeit schubweise versimpeln."

Im Bereich der Taschen ist allerdings derzeit Maximalismus angezeigt, bemerkt Tillmann Prüfer in seiner Stilkolumne für das ZeitMagazin: Dafür wird sie nicht "als vollgestopfter Sack mitgeführt, sondern allenfalls andeutungsweise gefüllt, weitgehend leer. So, als wäre sie ein weiteres Kleidungsstück. Sie deutet das Raumgreifende bloß an. ... Mit solch einer Tasche wird signalisiert, dass die Frau jederzeit auf wirklich Großes vorbereitet ist. Ständig wird mit überraschenden Gelegenheiten in einer Welt voller Möglichkeiten gerechnet. Dazu kommt, dass eine große Tasche ein Stück weit nachhaltig ist. Denn wer eine Maxibag mit sich führt, braucht sich bei der restlichen Kleiderwahl keine Mühe mehr zu geben."
Archiv: Design

Literatur

Als russischsprachiger Ostukrainer zählt der Schriftsteller Wolodymyr Rafejenko gerade zu jenen, die Russland schon seit der Krim-Annexion zu schützen vorgibt - und die von derlei väterlicher Fürsorge so begeistert sind, dass sie schon 2014 vom Fleck weg in den Westen des Landes geflohen sind. Doch damit nicht genug: Schon am ersten Tag der aktuellen Aggression befand er sich mitten im Kriegsgeschehen, schreibt er in der FAZ. An diesem "24. Februar habe ich mich entschieden, nie wieder auf Russisch zu publizieren oder zu schreiben. Ich möchte nichts mehr mit der Kultur der Mörder und Vergewaltiger gemeinsam haben. Es tut mir schon weh, wenn ich mir nur vorstelle, dass jemand aufgrund meiner Russischsprachigkeit denken könnte, ich wäre ein russischer Schriftsteller. Ich möchte mich nie wieder mit dem Diskurs der russischsprachigen Literatur in der Welt beschäftigen. ... Die russische Sprache an sich wurde obszön. Diese Sprache steht jenseits eines menschenwürdigen Diskurses. Und wenn ich sie einmal in einem privaten Gespräch verwenden muss, spüre ich nun immer ein Gefühl des Ekels, vermischt mit Scham, Schuld und körperlichem Schmerz."

In einem auf Englisch verfassten Kommentar für die Berliner Zeitung richtet sich die aus Uganda stammende, sich derzeit in Deutschland im Exil befindende Autorin und Anthropologin Stella Nyanzi an die internationale Community und fordert eine Anerkennung und Unterstützung des frisch gegründeten PEN Berlin. "Surely Germany is big enough of a country to be the home of two autonomous PEN chapters whose mandates can co-exist in a healthy manner."

Weitere Artikel: Eine Passage aus Tolstois Erzählung "Chadschi Murat" beschreibt den russischen Horror in der Ukraine ziemlich akurat, findet Oxana Matiychuk in der SZ. Der Schriftsteller Moritz Rinke erinnert sich in der SZ an seine schlimmste Lesung, die darin bestand, dass er an Günter Grassens Stelle aus Kellers "Der grüne Heinrich" las, was das wegen Grass gekommene Publikum ihm nicht dankte. Schriftsteller sollten aus ihren Büchern nicht öffentlich lesen und Zeitungen sollten keine Verrisse bringen, findet die Schriftstellerin Kristen Roupenian in ihrer SZ-Kolumne. Der Standard meldet, dass die Schriftstellerin und Schoah-Überlebende Zofia Posmysz gestorben ist.

Besprochen werden unter anderem Joan Didions Essaysammlung "Was ich meine" (Jungle World), Laura Cwiertnias "Auf der Straße heißen wir anders" (taz), Jennifer Daniels Comic "Das Gutachten" (taz), Hernan Diazs "Treue" (online nachgereicht von der Literarischen Welt), Claire Keegans "Kleine Dinge wie diese" (Dlf Kultur), Andreas Schäfers "Die Schuhe meines Vaters" (ZeitOnline), J. M. M. Nuanez' "Birdie und ich" (Zeit), Michael Kempes "Die beste aller möglichen Welten - Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Zeit" (SZ), Thomas Hürlimanns "Der Rote Diamant" (NZZ) und Steven Uhlys Novelle "Die Summe des Ganzen" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Nahost-Korrespondent Christian Meier empfiehlt in der FAZ die mehrteilige ARD-Doku "Mission Kabul-Luftbrücke", die eine auf eigene Faust organisierte Hilfsaktion zugunsten von Afghanen, die für Deutschland gearbeitet haben und nun unter den Taliban deshalb mit dem Schlimmsten rechnen müssen, beobachtet. Der Skandal, das Deutschland zahlreiche Menschen hängen lässt, spielt ebenfalls eine Rolle. "Das Material ist zutiefst beeindruckend. Zu sehen ist, wie afghanische Evakuierungshelfer ihr eigenes Leben gefährden, um Landsleuten bei der Flucht zu helfen. Einer von ihnen, ein Afghane namens Mojeeb, sagt, er habe als Kind immer ein Held sein wollen. Was er gerade tue, sei riskant; aber 'vielleicht werden ein oder zwei Leute stolz auf mich sein'. Es dürften etwas mehr sein: Etwa 2500 Menschen hat die Kabul-Luftbrücke im Laufe eines Jahres aus Afghanistan gebracht. Manche warten indessen bis heute auf das Visum für Deutschland."

In der FAZ amüsiert sich Paul Ingendaay in einer Randbemerkung darüber, dass vereinzelt - "kulturelle Aneignung!" - Kritik dagegen laut wurde, dass James Franco wohl Fidel Castro spielen wird: Dabei "war Fidel Castros Vater Galicier, also ein Spanier des äußersten Nordwestens, während James Franco portugiesische Vorfahren hat, die unmittelbaren iberischen Nachbarn also."

Besprochen werden Isabelle Stevers "Grand Jeté" (online nachgereicht von der FAS) und Peggy Holmes' auf Apple-TV gezeigter Animationsfilm "Luck" (taz).
Archiv: Film

Musik

Im englischsprachigen Raum gelten Raptexte in Strafverfahren mitunter als Beweismittel, informiert uns Julian Brimmers auf ZeitOnline. Im Zusammenhang mit den sogenannten Rico-Gesetzen, die mafiöse Strukturen zerschlagen sollen, wird zum Beispiel auch Gang-Kriminalität vor Gericht verhandelt, etwa im Fall von Young Thug und seiner Zugehörigkeit zum Gang-Dunstkreis rund um das Label YSL. "Das Besondere bei einer Verurteilung im Rahmen der Rico-Gesetze ist, dass man für jeglichen Beitrag zur kriminellen Vereinigung belangt werden kann, auch wenn man selbst nicht direkt an Straftaten beteiligt war. Bei der Anhörung wurde aus einer Vielzahl von Rap-Songs zitiert, die unter anderem Young Thugs Stellung in der Hierarchie von YSL untermauern oder generelle kriminelle Energie attestieren sollen, darunter Zeilen wie 'I'm ready for war like I'm Russia'."

Außerdem: Das auf ServusTV gezeigte Gespräch mit Teodor Currentzis (hier unser Resümee) ist für den NZZ-Kritiker Christian Wildhagen "ein skurriles Beispiel für journalistisches Versagen." Für die Jungle World hat Jens Uthoff mit Penelope Houston, der Sängerin der klassischen Punkband The Avengers gesprochen. Georg Rudiger resümiert für die NZZ das Festival in Gstaad. Wolfgang Sandner gratuliert in der FAZ dem Jazz-Schlagzeuger Jack DeJohnette zum 80. Geburtstag. Caroline Sullivan schreibt im Guardian einen Nachruf auf die Schauspielerin und Sängerin Olivia Newton-John. Natürlich unvergessen: ihr Auftritt in "Grease".



Besprochen werden ein Berliner Konzert der legendären feministischen Punkband Bikini Kill in Berlin, zu dem die Zeitungen allerdings ausschließlich Männer entsandten (taz, BLZ, Tsp), Grigory Sokolovs Auftritt bei den Salzburger Festspielen (Standard), eine Salzburger Aufführung von Mahlers Fünfter durch die Wiener Philharmoniker unter Andris Nelsons (Standard) und ein Konzert von Stefanie Heinzmann in Wiesbaden (FR).
Archiv: Musik