Efeu - Die Kulturrundschau

Frei und voller Pirouetten

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10.08.2022. Die Feuilletons jubeln: Der Büchner-Preis geht an Emine Sevgi Özdamar, "eine der magischsten, poetischsten und üppigst schreibenden Frauen der deutschen Literaturgegenwart", wie der Freitag schreibt. Die SZ prüft genau, wer zur Kontextualisierung der antisemtischen Werke auf der Documenta berufen wurde, die Welt schaut indes schon, was bereits kontexualisiert wurde. Die NZZ gönnt sich ein wenig "erlesene Weltflucht" auf britischen Landsitzen. Die FAZ findet das Haus der Zukunft ausgerechnet auf der Berliner Kurfürstenstraße. Und alle trauern um Olivia Newton-John und Issey Miyake.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.08.2022 finden Sie hier

Literatur

Der Georg-Büchner-Preis geht in diesem November an die Schriftstellerin, Schauspielerin und Theaterregisseurin Emine Sevgi Özdamar, die erst 2021 nach vielen Jahren mit "Ein von Schatten begrenzter Raum" ein von der Kritik weitgehend gefeiertes literarisches Comeback hinlegte. Özdamar ist nach Elias Canetti erst die zweite nicht deutschsprachig aufgewachsene Person, die mit dem Preis ausgezeichnet wird, unterstreicht Deniz Yücel in der Welt: Die Entscheidung für eine Autorin, die 1965 als Fabrikarbeiterin nach Deutschland kam, ist "eine kluge, eine gute Wahl - und eine überaus passende." In ihrer Sprache verwebt sich ihr Muttersprachschatz mit dem Deutschen: "Das Dazwischen, aus dem heraus und über das Özdamar schreibt, ist nicht allein ein geografischer Ort, sondern, mehr als das, ein Raum der Erinnerung, der Reflexion - und damit ein Ort der Sprache, wie es in ihren Büchern ja immer wieder auch um die Sprache selber geht. Um eine Sprache, mit der man nicht nur die Welt um sich herum versteht."

Viel zu lange hat es gedauert, bis Özdamar in die Literatur zurückkehrte, meint Marie Schmidt in der SZ: Beim Erscheinen ihres Comeback-Romans hatte man "das Gefühl, keinen Tag hätte die deutsche Literatur ohne diese Erzählerin auskommen dürfen. Ohne ihre mit den Dingen, Menschen, Tieren, Städten, Zeitstimmungen atmende Sprache, die nicht nur eine Sprache ist. Sondern eher eine körperliche Erfahrung, die sich schlank macht und gleich darauf dröhnend, weit schwingend und kurz knatternd wie eine Drum Machine. Eine Sprache, die durch das Türkische, das Griechische, das Französische gewandert ist und sich ausgerechnet ins Deutsche eingelebt hat."

Auch und insbesondere wegen dieses Comebacks findet auch Andreas Platthaus von der FAZ diese Entscheidung ganz hervorragend: Zu machen "ist eine singuläre Leseerfahrung. Das 'Hochpoetische' darin ist gerade nicht nur 'Sound', sondern Elementarerfahrung dieser Autorin, die in der Welt eine Schönheit (der Menschen, Straßen, kleinen Dinge, aber auch des Widerstands) zu entdecken versteht, die nur in diesem individuellen Tonfall verständlich gemacht werden kann mittels Wiederholungen, Variationen, Übersetzungen. Sie erzeugen einen rhetorischen Echoraum, der nicht von unserer Sprache ist, sondern in dem das Sprechen des ganzen Europas vom Bosporus bis an den Ärmelkanal widerhallt."

Eine überraschende, aber zeitgemäße Entscheidung, findet auch Gerrit Bartels im Tagesspiegel: "Özdamars autobiografisch nicht nur grundierte, sondern fest ausgepinselte Romane (...) sind Sprachkunstwerke ganz eigener Art: naiv und genau, märchenhaft, frei und voller Pirouetten, voller farbiger, ungewöhnlicher Satz- und Wortspiele. Diesen Spielen mit der Sprache und nicht zuletzt der Form setzt Özdamar immer einen politischen Stoff entgegen." Und ihr aktueller Roman "mutet an wie ein riesiges Tableau mit seinen sprechenden Krähen und Mücken, mit seinen sprechenden Wänden und sprechenden Toten, mit seinen vielen surrealen und grotesken Szenen, die sich mit nüchternen, fast dokumentarischen Stationenbeschreibungen abwechseln." Özdamer ist "eine der magischsten, poetischsten und üppigst schreibenden Frauen der deutschen Literaturgegenwart", freut sich Ebru Taşdemir im Freitag. In der NZZ erinnert sich Roman Bucheli daran, wie er einst "staunend vor diesem Sprachkunstwerk" stand, als 1992 Özdamars Debütroman erschien. Dlf Kultur führte vergangenen Herbst ein großes Radiogespräch mit Özdamar. Ihre Bücher finden Sie natürlich in unserem Onlinebuchladen Eichendorff21 - mit einem Erwerb dort unterstützen Sie unsere Arbeit.

Außerdem: In Simbabwe geht ab heute der Schauprozess gegen die Schriftstellerin Tsitsi Dangarembga weiter, berichtet Simone Schlindwein in der taz. Gerhard Gnauck schreibt in der FAZ einen Nachruf auf die Schriftstellerin Zofia Posmysz.

Besprochen werden unter anderem Wole Soyinkas "Die glücklichsten Menschen der Welt" (NZZ), Marica Bodrožićs Essay "Die Arbeit der Vögel" (SZ), Krimis von Dorothy B. Hughes und Max Annas (online nachgereicht von der FAS) und Miriam Mandelkows Neuübersetzung von James Baldwins Essays "Von einem Sohn dieses Landes" (FAZ).
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Kunst

Marion Ackermann, Chefin der Kunstsammlungen Dresden, gehört dem siebenköpfigen Experten-Gremium, dass die Documenta auf antisemitische Werke überprüfen soll. Da schaut Gürsoy Doğtaş (SZ) doch mal in die "Online-Collection" von Ackermanns eigenem Haus - und siehe da: "Die öffentliche Sammlung enthielt bis vor wenigen Tagen etliche frei einsehbare antisemitische Werke, ohne jeden Kommentar, ohne jede Distanzierung, also ohne jene Kontextualisierung, die auf der Documenta vorgesehen ist. Nach einer Anfrage der SZ wurden die Bilder zunächst offline genommen." Etwa "eine von Hegenbarth illustrierte Ausgabe der Novelle 'Taras Bulba' von Nikolai Gogol war bis eben in der Online-Collection der Staatlichen Kunstsammlungen zu finden. Das Buch bedient unverblümt den Antisemitismus. Damit er die Kosaken heroisieren kann, zeichnet Gogol die Juden im Kontrast als körperlich, moralisch und geistig unterlegen. Hegenbarth hat die passenden Bilder dazu geschaffen, etwa 'Der Jude rühmt die Schönheit der Woiwodentochter' und 'Der Jude zahlt dem Heiducken Geld', beide um das Jahr 1928 entstanden, beide groteske, abwertende Darstellungen."

Für die Welt liest Kevin Culina die "Kontextualisierung" einiger algerischer Zeichnungen der Künstlergruppe "Archives des luttes des femmes en Algérie", denen ebenfalls Antisemitismus vorgeworfen wurde. Der Text stammt von der Gruppe selbst. Die Zeichnungen dienten der Illustration eines Kinderbuchs des palästinensischen Schriftstellers Ghassan Kanafani. Dieses Buch erzählt, wie eine Gruppe von Palästinensern von zionistischen Milizen brutal ermordet wird. Die Milizen werden entmenschlicht und roboterhaft dargestellt. Culina zitiert Susanne Urban von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (Rias Hessen). "'Statt sich mit der geäußerten Kritik am Antisemitismus auseinanderzusetzen, wird behauptet, die Kritiker verstünden einfach den Kontext der Bilder nicht', so Urban zur Welt." Außerdem werde Kanafani nicht kontextualisiert sondern "dekontextualisiert", weil seine Mitgliedschaft in der Terrororganisation Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) in dem Papier der Künstlergruppe nicht thematisiert werde.

Außerdem: Im Tagesspiegel schreibt Christiane Meixner einen Nachruf auf den im Alter von 55 Jahren verstorbenen Maler Carsten Kaufhold. Besprochen wird eine Ausstellung des Berliner Bildhauers Daniel Hölzl in der Galerie Dittrich & Schlechtriem (Berliner Zeitung)
Archiv: Kunst

Bühne

Káťa Kabanová 2022: Corinne Winters (Katěrina/Káťa) © SF / Monika Rittershaus

Im Tagesspiegel verneigt sich heute auch Eleonore Büning vor Barrie Koskys Inszenierung von Leoš Janáčeks "Katja Kabanova" bei den Salzburger Festspielen. Vor allem leuchte die junge amerikanischen Sopranistin Corinne Winters: "Sie hatte schon als Jenufa in Genf bewiesen, dass ihre Stimme bestens geeignet ist für die ausdrucksintensiven Da-Capo-Klangreden Janáceks, die direkt dem Duktus der Sprache, den Geräuschen der Natur abgelauscht sind. Leicht beweglich, nicht sehr laut, bringt sie doch Durchschlagskraft, Schmelz und Farbe mit. Und Winters geht, wofür vor allem Jakub Hrusa sorgt mit seiner brillantklaren Durchdringung der Partitur, immer wieder wundersam tröstliche symbiotische Verbindungen ein mit einzelnen Orchesterstimmen der Wiener Philharmoniker - mit den Hörnern, der Flöte, der Violine."

Eine besonders "erlesene Weltflucht" gönnen sich die Briten mit den "country-house operas", staunt Marion Löhndorf in der NZZ. Immer mehr privat finanzierte Opernhäuser auf dem Land sind in England zu finden, kleine "Gesamtkunstwerke" in Schlössern und Herrenhäusern, bespielt von exzellenten Künstlern. Den Anfang machte die 1934 von John Christie gegründete Oper in Glyndebourne, weiß Löhndorf: "Der Charme des Ungewöhnlichen stellte sich aufgrund seiner einsamen Lage ein - und der eineinhalb Stunden langen Pausen wegen. Zwischen den Akten beginnt in Glyndebourne und bei seinen Nachahmern das gesellschaftliche Ereignis. Die Rasenflächen werden zum Picknick mit Tafelsilber, Kristallgläsern und Champagner genutzt, auch bei unklarer Wetterlage. Das alles in Abendkleid und 'black tie', die auf dem Land noch immer erwünscht sind, während der Dresscode in den Städten lax gehandhabt wird."

Außerdem: Wie hält es die Ballettszene mit Nonbinarität, Transidentität und Genderfluidity, fragt Dorion Weickmann in der SZ: "Schon ein Engagement zu ergattern, ist für Profis, die den Cis-Standard sprengen, schwierig." Besprochen wird Georg Quanders Inszenierung von Carl Heinrich Grauns Oper "Silla" in Innsbruck (FAZ).
Archiv: Bühne

Design

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Der Modeschöpfer Issey Miyake ist tot. Er "strebte nach Perfektion", schreibt Michele Coviellio in der NZZ, "aber nicht nur nach der optischen. Seine Kleidungsstücke mussten mehr erfüllen. Sie sollten leicht sein, angenehm zu tragen, Reisen in Koffern und Waschmaschinen aushalten. Nicht einmal knittern sollten sie. Und das, obwohl sie mit vielen gewollten Falten gestaltet waren. Er wickelte Stoffe zwischen Papierschichten ein und legte sie in eine Wärmepresse. Die plissierten Kleidungsstücke behielten so dauerhaft ihre akkordeonartige Form. Er ließ sie an Tänzern testen, um zu überprüfen, wie gut sich diese darin bewegen konnten. Wer sie trug, sprach von seidenartigem Gefühl." Und wissen Sie noch, der Rollkragenpullover von Steve Jobs? Dreimal dürfen Sie raten, wer den gestaltet hat.
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Architektur

So "japanisch leicht", transparent und flexibel könnte das Haus der Zukunft aussehen, jubelt Niklas Maak (FAZ): Auf der Berliner Kurfürstenstraße hat das Berliner Architektenteam June 14 mit Kufu 142 ein achtgeschossiges, 25 Meter hohes Wohnhaus erschaffen, das wie ein "urbanes Theater" wirkt, staunt Maak: "Die gläserne Fassade wirkt wie eine Membran, die deutlich dünner und durchlässiger ist als in anderen Bauten - zumal man einen Teil aufschieben kann. Dadurch, dass sich die Türme horizontal und vertikal überschneiden, könnten in den 'Kollisionszonen' etwa Küchen oder Wohnräume gemeinsam genutzt werden. Die opulente Deckenhöhe von mehr als fünf Metern gibt auch den kleinen Einheiten etwas Palastartiges. Dank der Verglasung und der aufschiebbaren Flügelpaneele hat man das Gefühl, im Außenraum, aber doch geschützt wie unter einem Felsvorsprung oder auf einem Plateau über der Stadt zu wohnen, die gerade nachts intensiver zu funkeln und zu glitzern scheint; ist die Fassade geöffnet, wehen die Geräusche der Autoreifen auf dem nassen Teer und die Stimmen der Passanten ungefiltert in den Wohnraum."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Bauen, June 14, Kufu 142

Film

Mit Exzentrik zum Ziel: "Nope"

Staunend kommt Standard-Kritiker Bert Rebhandl aus dem Kinosaal, in dem er gerade Jordan Peeles neuen Horror-Science-Fiction-Film "Nope" gesehen hat. Auf das Publikum wartet "ein visuelles Ereignis ersten Ranges. Aber auch ein intellektuelles", schwärmt er. Der Film spielt auf einer Pferdefarm im Niemandsland vor den Toren Hollywoods - und trotz einiger Western- und Horrorkreuzung in der Filmgeschichte "hat nie jemand versucht, ernsthaft den Geist von John Ford und Ed Wood mit gleichem Recht und gleicher Leidenschaft zu beschwören." Mit viel "Exzentrik" und noch mehr Zeit gelingt Peele "zu seinem Kernanliegen vorzudringen: eine Begegnung der dritten Art, die zu einem Medienereignis verhelfen soll. Beinahe könnte man meinen, dass Peele zu viele Fäden auslegt", doch "am Ende fügt sich das zu einem ganz großen Film zusammen, zu einer verwegenen Legende von Dingen, die Hollywood so von sich nie wissen wollte."

Außerdem: Regisseure laufen Sturm gegen den Tarifvertrag, den Verdi mit Netflix ausgehandelt hat, meldet Helmut Harting in der FAZ. Besprochen werden Kaspar Kasics' Doku-Porträt über die Feministin Erica Jong (TA), die Filme "Dreizehn Leben" und "The Rescue", die beide die Rettung von in eine Grube gestürzter thailändischer Kinder schildern (ZeitOnline), die Netflix-Adaption von Neil Gaimans Kult-Comic "Sandman" (Presse) und der neue Eberhofer-Krimi "Guglhupfgeschwader" (Standard).
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Musik

Die Feuilletons trauern um die Sängerin und Schauspielerin Olivia Newton-John. In den Siebzigern galt sie dem Juste Milieu als Inbegriff der Uncoolness, erinnert sich Jan Feddersen in der taz: "Ihr Showtalent blieb freilich unentdeckt, in den Zeiten des Rock, später des Glam oder gar des Punk war sie jene, die Kindern gefiel und deren Eltern - aber nicht Heranwachsenden: Olivia Newton-John war die skandalloseste Sängerin im Abermillionenumsatzsegment, verzweifelt von ihren Produzenten (alles Männer) mal auf diese, mal auf jene Spur gesetzt. ... Olivia Newton-John war vielleicht viel zu gutgelaunt, selbstbestimmt definierend, lebenszugewandt, als dass sie mäkelige Rock- und Popkritik - die nie auch nur ein gutes Haar an ihr gelten ließen, alles an ihr sei falsch und flach - hätte interessieren müssen." Mit dem Aerobic-Song "Physical" gelang ihr seinerzeit ein Imagewechsel ins Verruchte, erinnert sich Torsten Groß auf ZeitOnline: "Animalischer Sex und ein postorgasmischer Gesichtsausdruck: Das alles beflügelte zwar adoleszente Fantasien, war aber doch ein Umfeld, in dem man Newton-John bis dahin nicht verortet hatte."

Um 1980 war Newton-John schier omnipräsent, schreibt Joachim Hentschel in der SZ. Doch "der Grund, warum man zu ihr kam, war allerdings: die Stimme, ihr Gesang. Die komplett einzigartige Mischlegierung aus rieselndem Silber und warm leuchtendem Gold. Aus varietétauglicher Showsicherheit, Autorität und einer Melancholie, die spüren ließ, dass trotz allem immer etwas zu fehlen schien. Die sich um einen leise bebenden Schmerz drehte." Heutzutage hat man fast "schon vergessen, was für ein großer Star Olivia Newton-John war, als die Disco-Ära endete. 'Grease', Auslöser eines Rock'n'Roll- Revivals, war nur ein Höhepunkt ihrer langen und vielfältigen Karriere", schreibt Christian Schröder im Tagesspiegel. Jürg Zbinden hat für die NZZ nachgezählt: "Fünf Nummer-eins-Hits und 25 Singles, die es in die Top 40 schafften, sind ein Leistungsausweis, den ihr nur die australisch-britische Landsfrau Kylie Minogue streitig macht."



Besprochen werden ein Konzert des European Union Youth Orchestras mit dem Geiger Renaud Capucon und dem Dirigenten Gustavo Gimeno (Tsp), ein gemeinsames Album von Panda Bear und Sonic Boom ("die alten Analogsynthesizer flirren und sirren, pulsieren und perlen fröhlich-repetitiv aus den Schaltkreisen", freut sich Christian Schachinger im Standard), neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album der Viagra Boys (Standard), und das neue ProgRock-Album von Black Midi (SZ).

Archiv: Musik