Efeu - Die Kulturrundschau

Diese Liberalität in ihrer edelsten Form

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16.08.2022. Die SZ erinnert daran, wie gekränkt sich der Westen von der Fatwa gegen Salman Rushdie fühlte. Die NZZ blickt einer Flut von Biopics entgegen, die die Streamingdienste den Ikonen der Vergangenheit widmen. Das Van Magazin enthüllt, auf welchem Humus die besten Opernideen gedeihen. ZeitOnline erinnert an das desaströse Woodstock-Revival von 1999. Monopol schleckt ein letztes Eis mit Natalia LL.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.08.2022 finden Sie hier

Literatur

Marie Schmidt ruft in der SZ in der Erinnerung, was für ein Beben es damals war, als Khomeini 1989 zum Mord an Salman Rushdie und allen, die die "Satanischen Verse" zugänglich machen, aufrief.  Für den Westen war dies "die erste prägende Erfahrung mit einem fanatisierten Islam, der Kunst und Kultur zum Ziel seiner Angriffe machte. Verlagshäuser, in denen Rushdies Bücher erschienen, und ihre Mitarbeiter auf der ganzen Welt wurden unter Polizeischutz gestellt, es gab Anschläge auf Buchhandlungen. Verleger fürchteten um die Sicherheit ihrer Mitarbeiter", weshalb in Deutschland etwa Reinhold Neven Dumont von einer Veröffentlichung absah. "Worauf ihn unter anderem Hans Magnus Enzensberger der Feigheit zieh. Schließlich gründeten an die 100 deutsche Verlage die GmbH 'Artikel 19' um zusammen die von anonym bleibenden Übersetzern hergestellte deutsche Version herauszubringen." Nach dem Mauerfall gefiel man sich darin "die westlichen Demokratien und ihre betont liberalen Kulturen als Sieger am Ende der Geschichte zu sehen. Dazu passte es allerdings nicht, dass genau diese Liberalität in ihrer edelsten Form, einer respektlos freien Kunst, den Hass und Zerstörungswut des politischen Islam auf sich zog."

Das deutsche PEN-Zentrum hat Rushdie nach dem Anschlag zum Ehrenmitglied ernannt. Er ist damit der 107. Autor, der diese Zuwendung erfährt. Dabei wäre ja wohl schon 1989 "eine Ehrenmitgliedschaft angebracht gewesen", kommentiert ein sichtlich irritierter Andreas Platthaus in der FAZ. "Aber der PEN beschreibt diese Zeit des verzweifelten Untertauchens in seiner Presseerklärung zur Ernennung von Rushdie als 'ein Leben im Luxus-Käfig', und damit hatte sich Rushdie offenbar für eine Ehrung disqualifiziert. Was hat sich aber nun geändert? Musste Rushdie erst tätlich angegriffen und fast umgebracht werden, damit das PEN-Zentrum Deutschland endlich 'in große Sorge' (noch ein Zitat aus der Presseerklärung) um ihn geraten konnte?"

Thomas Hummitzsch spricht für die taz mit der Schriftstellerin Miku Sophie Kühmel, die sich in ihrem zweiten Roman "Triskele" mit dem Suizid einer Frau auseinandersetzt - eine Leerstelle der Literatur: "Wenn man dann noch die abzieht, zu denen es vermeintlich wegen eines Mannes gekommen ist, wird es sehr schnell sehr dünn. ... Wenn ich ehrlich bin, gibt es nichts, was ich mache, das nicht mindestens feministisch motiviert ist. Das steht für mich außer Frage. Hier noch einmal besonders, wenn es um den weiblich gelesenen Körper geht. Denn wenn ich über diesen schreibe, dann jenseits von reiner Ästhetisierung. Dann möchte ich da hinschauen, wo wir als Mädchen nicht hinfassen durften. Dann schreibe ich über Scheidenpilz und Endometriose. Über das Lebendige, Klebrige, manchmal Eklige, über das Schmerzhafte und manchmal Schöne."
 
Weitere Artikel: Manfred Rebhandl spricht für den Standard mit dem Autor Kurt Palm. Im Interview mit der Berliner Zeitung gibt Romandebütant Domenico Müllensiefen unter anderem Einblick in seinen Brotjob als Monteur für Telefonangelegenheiten.

Besprochen werden unter anderem Nino Haratischwilis "Das mangelnde Licht" (NZZ), Frederick Douglass' "Mein Leben als amerikanischer Sklave" und Clint Smiths "Was wir uns erzählen" (Standard), Peter Handkes "Innere Dialoge an den Rändern" (FR) Ralph Waldo Emersons "Tagebücher 1819-1877" (Tsp) und J. M. G. Le Clézios Erzählband "Bretonisches Lied" (FAZ).
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Kunst

Natalia LL: "Sztuka Postkonsumpcyjna" (Postkonsumistische Kunst), 1975

Auf Monopol schreibt die Kuratorin Joanna Warsza zum Tod der polnischen Fotografin Natalia Lach-Lachowicz, die als Natalia LL zur Ikone der feministischen Kunst in Osteuropa wurde. Obwohl ihre Arbeiten durchaus doppeldeutig waren, wie etwa ihre bekannteste Serie "Consumer Art", die zwischen 1972 und 1975 entstand und auf deren Bildern Frauen übertrieben erotisch Bananen verputzen oder Eiscreme schlecken: "'Consumer Art' wurde zum ersten Mal 1973 in der Galerie Permafo gezeigt. Und wie viele der Werke von Natalia LL, die Nacktheit, Weiblichkeit und Sexualität zeigen, wurde es heftig kritisiert und musste schließlich aus der Ausstellung entfernt werden. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass die Künstlerin politischer und moralischer Zensur unterworfen wurde. Im kapitalistischen Westen wurde 'Consumer Art' hingegen sehr begeistert aufgenommen und landete 1976 auf dem Cover des Magazins Flash Art. Das lag auch daran, dass der westliche Liberalismus die Objektivierung und den Tokenismus von Frauen im sozialen Bereich förderte, wo Kapitalismus und erotische Motive häufig miteinander einhergingen. Daher kann 'Consumer Art' heute sowohl als eine Mischung aus Sehnsucht nach Konsum und der Freiheit des sexuellen Ausdrucks als auch als Kritik am westlichen Patriarchat, der Werbekultur und der Fetischisierung gelesen werden.

In der Berliner Zeitung meldet Ingeborg Ruthe den Tod des Malers Dmitry Wrubel, dem die East Side Gallery den Bruderkuss von Breschnew und Honecker verdankt.

Besprochen werden die Retrospektive "Les pieds dans l'eau" über den frühen französischen Naturfilmer Jean Painlevé im Pariser Jeu de Paume (FAZ), die Ausstellung der Künstlerin Wenke Seemann über die Plattenbau-Siedlungen der DDR in der Kunsthalle Rostock (taz) und die Ausstellung "Der Schlüssel zum Leben" zu 500 Jahren mechanische Figuren und Automaten im Lipsiusbau Dresden (taz)
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Bühne

Aida und die bösen bärtigen Männer. Foto: Ruth Waltz / SF

Für die Salzburger Festspiele hat die iranische Filmemacherin und Fotografin Shirin Neshat ihre "Aida"-Inszenierung überarbeitet, in der SZ hat Egbert Tholl nur wenig Freude an der edlen Ästhetik ihrer aneinandergereihten Bilder: "Tatsächlich dringt sie nun zum Wesenskern ihres künstlerischen Tuns vor, baut eigene Videoarbeiten ein, Filme und soghafte Porträts von erlesener Bildqualität. Von Personenführung hat sie indes immer noch keine Ahnung." Sängerisch ist die Inszenierung aber formidabel, meint Ljubisa Tosic im Standard: "Eve-Maud Hubeaux ist eine phänomenale Amneris, sie vereint Durchschlagskraft, Ausdauer und heftigen Gefühlsausdruck. In Elena Stikhina hat sie eine scheinbar unterwürfige Aida als Konkurrentin, der Stikhina vokal Dramatik, große Leichtigkeit und Virtuosität verleiht. Edel auch Piotr Beczala als Radamès. Diese Mischung aus sattem Timbre und Kraft entschädigt für die doch sehr oft statuarische Figurengestaltung."    

In einem Überblick zu den Opernproduktionen der Salzburger Festspiele erkennt Eleonore Büning im Van Magazin auch den Unterschied zwsichen Intendant Markus Hinterhäuser und seinem Vorgänger Gerard Mortier: "Nach wie vor reagieren die Festspiele auch, stärker als andere anderswo, auf die politische Gegenwart, so, wie es exemplarisch von Gerard Mortier betrieben wurde, der auch Hinterhäuser einst förderte und prägte. Nur ist das nun schon eine Weile her, 'Gegenwart' und 'Politik' buchstabiert sich inzwischen anders. Auch kommt Hinterhäuser nicht, wie Mortier, aus dem hintertreppenreichen Opernbetrieb, in dem die besten Einfälle oftmals auf diesem speziellen Humus aus Intrige, Zufall und verpasster Gelegenheit sprießen. Er hält sich also, was Stückauswahl und Casting anbelangt, gern an ein solides zeitloses Motto und an die Erfahrungen der eigenen Jugend. Was das Opernprogramm anbelangt, ist Hinterhäuser ein Fortsetzer. Kein Neuerer."
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Film

Eine neue Welle Biopics rollt auf uns zu, beobachtet Marion Löhndorf von der NZZ bei dem Blick auf die Startlisten und Produktionsbücher der Filmgesellschaften. "Elvis" war eben schon im Kino, demnächst befasst sich Netflix mit Marilyn Monroe, desweiteren folgen Filme über Robert Oppenheimer, Audrey Hepburn und Bob Dylan. Doch "jedes verfilmte Leben, egal, wie sorgfältig es der Figur folgt, enthält Deutungen, Straffungen und Hinzufügungen und arbeitet häufig an einer Legendenbildung mit, einer Heiligsprechung oder Verdammung. Die drei Generationen der Presley-Familie jedenfalls zeigen sich sehr einverstanden mit dem Mythos Elvis, den Luhrmanns Produktion ihrer Meinung nach glücklich fortschreibt. Berühmte Frauen, Frida Kahlo, Marilyn, Jean Seberg, Judy Garland, werden gern zu Märtyrerinnen stilisiert. Auch Olivier Assayas' kürzlich erschienener Film über Prinzessin Di, 'Spencer', lässt sich auf den Mythos seiner Figur ein, dabei ist er so schräg wie ein düster geratenes Stück Fan-Fiction."

Außerdem: Michael Ranze (FAZ), Daniel Kothenschulte (FR) und Irene Genhardt (Filmdienst) ziehen nach dem Filmfestival Locarno Bilanz (unser Resümee). Gina Lollobrigida (95) möchte in Italien für einen Sitz im Senat kandidieren, meldet Bert Rebhandl im Standard. In der Welt porträtiert Hanns-Georg Rodek den britischen Schauspieler Timothy Spall.

Besprochen werden die Netflix-Serie "Kleo" (FAZ) und das Buch "Queer Cinema Now" mit über 200 Texten zu queeren Filmen, darunter auch viele Kritiken von Perlentaucher-Autoren (Filmdienst).
Archiv: Film

Design

Versace, Giambattista Valli und Marc Jacobs präsentieren in ihren neuen Kollektionen Plateauschuhe. Verantwortlich für diesen Trend ist TiKTok, schreibt Tillmann Prüfer in seiner Stilkolumne im ZeitMagazin. "Hier gehört die Bühne den sogenannten E-Girls, den electronic girls. Und E-Girls tragen eben besonders gerne Plateauschuhe. Die Jugendlichen stylen sich irgendwo zwischen Emo, Punk, Barbie und einem Manga-Charakter." Doch die "E-Girls sind meist keine Influencerinnen, die sich von Modemarken ausstaffieren lassen und dafür Selfies posten, auf denen sie an allen möglichen coolen Orten zu sehen sind. ... Sie wollen nicht den Rahmen des Smartphone-Glases verlassen. Das unterscheidet den E-Girl-Look von vielen anderen. Früher war das Nachtleben die Inspirationsquelle der Mode."
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Musik

Im Angesicht des Leerguts: die Netflix-Doku "Absolutes Fiasko: Woodstock '99"

Zusammenbruch der Infrastruktur, Randale, Brandstiftung, Festivalabbruch: Woodstock '99 führte zu einem atemberaubenden Desaster. Eine Netflix-Dokureihe von Jamie Crawford arbeitet die Geschehnisse nun auf. ZeitOnline-Kritikerin Aida Baghernejad sitzt allerdings mit gemischten Gefühlen vor dem Bildschirm: "In der unkommentierten Gegenüberstellung von Aussagen der Organisatoren, von Mitarbeitern des Festivals, Besuchern, dem Bürgermeister der angrenzenden Gemeinde und Musikern zeigt sich, dass die Eskalation vermeidbar war. ... Doch auf der Jagd um die besten Bilder und die skandalöseste Erzählung verpassen es Crawford und Netflix, noch kritischer mit den Aussagen der Festivalorganisatoren umzugehen."

Besprochen werden Bartók-Abende bei den Salzburger Festspielen (SZ), ein Tschaikowski-Konzert der Wiener Philharmoniker unter Riccardo Muti (Standard) und das Album "Seriana Promethea" des Brave New World Trios (FR).
Archiv: Musik