Efeu - Die Kulturrundschau

Auf und unterm Küchentisch

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25.08.2022. Die Zeit überlässt ihr Feuilleton diese Woche ukrainischen Künstlern: "Der Krieg verdichtet die Zeit", schreibt Serhij Zhadan, über Sein und Zeit im Krieg meditierend. Der mündige Leser kann selbst entscheiden, ob er Winnetou lesen will oder nicht, meint Dlf Kultur angesichts der Entscheidung des Ravensburger Verlags, die Winnetou-Bücher aus dem Programm zu nehmen. Außerdem: Karl May war kein Kulturaneigner, sondern ein Kultur-Hochstapler, meint Zeit online zärtlich. Die taz betrachtet das Leben dreier jüdischer Generationen in Kornél Mundruczós "Evolution". NMZ erliegt den betörenden Stellen in Carlo Pallavicinos Oper "L'amazzone corsara".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.08.2022 finden Sie hier

Literatur

Die Zeit hat ihr Feuilleton einigen ukrainischen AutorInnen und KünstlerInnen überlassen. Der kuratierende Essayist Jurko Prochasko schreibt: "Kultur ist nicht unbedingt ein Gegensatz von Gewalt. Sie kann nur in seltensten Ausnahmefällen Gewalt bändigen oder verhindern. Wird eine Kultur vom Krieg betroffen, muss sie sich damit auseinandersetzen, mit der menschlichen Gewalt und dem, was sie anrichtet. Ich kenne keinen Künstler in der Ukraine, der von diesem Krieg unverändert geblieben wäre." Der designierte Friedenspreisträger Serhij Zhadan meditiert in dem Dossier über Sein und Zeit im Krieg: "Der Krieg verdichtet die Zeit, macht sie ungreifbar, unsichtbar. Sie lässt sich einfach nicht spüren. Du befindest dich in einem dickflüssigen Fluss, der dich immer weiter wegträgt von einem friedlichen, normalen Leben. ... Unsere Tage sind verdichtet, aber unsere Zeit ist nicht verschwendet. Hinter uns liegt eine gut gemachte Arbeit. Ich weiß nicht, ob wir in Zukunft gut schlafen werden, aber ich bin mir sicher, dass wir uns nicht schämen werden für unsere Schlaflosigkeit."

Die Karl-May-Kontroverse um die Entscheidung des Ravensburger Verlags, zwei Kinderbücher aus dem Sortiment zu nehmen, die einen neuen "Winnetou"-Film (unsere Kritik) als Merchandise flankierten und auf Social-Media auf Gegenwind gestoßen sind, verlagert sich von einer Film- (hier und dort unsere Resümees) zu einer Literaturdebatte. Das Publikum werde durch solche Entscheidungen entmündigt, sagt Ijoma Mangold im Dlf Kultur und macht den souveränen Leser stark, der auch ohne an die Hand genommen zu werden weiß, dass Fiktion nie der Wirklichkeit entspricht.

Karl May war kein Kulturaneigner, lautet Magnus Klaues Befund auf ZeitOnline, sondern ein Kultur-Hochstapler - schließlich habe May an den faktischen Welten der fernen Prärie de facto kein Interesse gehabt. "Mays Hochstapelei war erfolgreich, weil sie kulturindustriell organisierte Spinnerei ohne jede kolonialistische oder antikolonialistische Absicht gewesen ist. Ihn ausgerechnet dafür posthum bestrafen zu wollen, zeugt von Fantasielosigkeit und historischem Gedächtnisverlust, aber nicht von politischer Intelligenz."

Dass sich Sigmar Gabriel im Zuge dieser Geschichte zu einem melodramatischen Tweet hinreißen ließ, nimmt Johannes Franzen, der viel Verständnis dafür hat, wenn man sich von dieser öden Debatte sehr gelangweilt fühlt (danke!), auf 54books zum Anlass, um über die politischen Emotionen und Jugendlese-Erlebnisse nachzudenken: "Mit der Unschuld kindlicher Kulturrezeption verteidigen Erwachsene auch die eigene politische Unschuld. Anders lässt sich nicht erklären, dass auf eine dermaßen unreflektierte Art die Tatsache beiseitegeschoben wird, wie politisch Kinderliteratur tatsächlich ist."

Außerdem: Jochen Hörischs im Buch "Poesie und Politik" vorgetragenes Gedankenexperiment, deutsche Schriftsteller der Gegenwart sollten doch mal für einen Tag die Geschicke der Republik übernehmen, hält Gustav Seibt in der SZ für einen "eher platten Einfall" aus "Sektlaune". Der Schriftsteller Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. In der FAZ gratuliert Tobias Döring dem Schriftsteller Howard Jacobson zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Emily Segals "Rückläufiger Merkur" (ZeitOnline), Norbert Gstreins "Vier Tage, drei Nächte" (NZZ), Anna Kims "Geschichte eines Kindes" (FR), Thomas E. Schmidts "Große Erwartungen" (Tsp), Andreas Unterwegers "So long, Annemarie" (Standard), Ferdinand von Schirachs "Nachmittage" (SZ) und Ilma Rakusas lyrisches Tagebuch "Kein Tag ohne" (FAZ).
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Architektur

Das Taipei Performing Arts Centre. Foto: OMA Architekten


Gina Thomas besucht für die FAZ das neue Taipei Performing Arts Centre von Rem Koolhaas und David Gianotten und stellt fest: "In den vierzehn Jahren, die seit dem internationalen Architekturwettbewerb, bei dem OMA sich gegen mehr als 130 Konkurrenten durchsetzte, vergangen sind, hat sich die mehrschichtige Identität der Inselbewohner unter der ständigen Bedrohung durch China zusehends gefestigt. Das macht sich an zahlreichen Äußerlichkeiten bemerkbar, angefangen mit der staatlich geförderten Vielsprachigkeit anstelle des Verbots lokaler Dialekte, das die Militärdiktatur erlassen hatte, bis hin zum neuen Reisepass, auf dem der Landesname 'Taiwan' viel prominenter hervorgehoben ist als die Bezeichnung 'Republik China' ... Das TPAC ist aus dem Geist dieser neuen Zeit entstanden, was auch im Veranstaltungsprogramm Niederschlag findet."
Archiv: Architektur

Film

Das Mosaik brüchiger Erinnerung: "Evolution"

Vom Horrorfilm zur Romanze wandelt sich Kornél Mundruczós "Evolution", der darin das Leben dreier jüdischer Generationen erzählt. Tazlerin Barbara Schweizerhof war der Film in seinem Kunstwollen - weite Strecken des Films werden virtuos in einer einzigen Einstellung gedreht - dann aber doch zu kunstfertig, insbesondere gegen Schluss: "Anders als in den Teilen zuvor drängt sich die Dramaturgie des 'Alles in einer Einstellung drehen' nun in den Vordergrund und zerstört das Atmosphärisch-Suggestive. Plötzlich wird schwerfällig und pädagogisch, wo zuvor disparate Elemente das Mosaik brüchiger Erinnerung und Identifikation formten."

Abendgarderobe und Moderation, höhere Ticketpreise, mehr Einkaufsmöglichkeiten in der Lobby, Freundeskreis-Initiativen, bessere Filmförderung für intellektuelles Kino, Kooperationen mit Streamingdiensten und mehr Klassiker im Programm - das sind die sieben sehr erwartbaren und alles andere als Zuversicht schaffenden Ideen, die die SZ im Betrieb aufgeschnappt hat, um die aktuelle Kinomisere - im Vergleich zum letzten Vorpandemie-Jahr sind die Zahlen um 30 Prozent eingebrochen - zu überwinden.

Besprochen werden Joanna Hoggs "The Souvenir - Part II" mit Tilda Swinton (taz), Amjad Abu Alalas sudanesischer Debütfilm "Mit 20 wirst Du sterben" (FR, taz), die Amazon-Serie "Schickeria" über das Münchner Nachtleben der Siebziger und Achtziger (FAZ), Baltasar Kormákurs Tierhorrorfilm "Beast - Jäger ohne Gnade" mit Idris Elba (Tsp, Freitag), Adrian Goigingers Heimatfilm "Märzengrund" (FR), Marc-Uwe Klings neuer "Känguru"-Film (taz, Standard, SZ) und die auf Sky gezeigte Comicverfilmung "DMZ" (taz).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus Carlo Pallavicinos "L'amazzone corsara" in Innsbruck. Foto © Birgit Gufler


Eine beglückende Entdeckung macht nmz-Kritiker Roland H. Dippel bei den 46. Innsbrucker Festwochen der Alten Musik, wo Carlo Pallavicinos Oper "L'amazzone corsara, ovvero L'Alvilda regina de' Goti" aufgeführt wurde. "Der Opernkomponist Carlo Pallavicino (1630-1688) agierte quasi auf halber Zeitstrecke zwischen Monteverdi und Händel. Er beschleunigte die Entwicklung zur Kontrastierung von Rezitativen und Arien, setzte auf orchestrale Harmoniefülle. Das war in der Premiere von 'L'amazzone corsara' zu hören. In jeder Partie gibt es packende und betörende Stellen. Der Dirigent Luca Quintavalle lässt so manche Arie nur von einem Instrument begleiten und greift dann wieder in einen der Szene angemessenen instrumentalen Farbtopf. Alles klingt vom Barockorchester Jung straff, leicht und mit einer Vielzahl von Schattierungen."

Paul McCarthy und Lilith Stangenberg in "A&E / Adolf & Eva / Adam & Eve". Foto: Thomas Aurin


Nachtkritikerin Katrin Ullmann kommt dagegen mit einem in die Stirn gemeißelten Fragezeichen aus einer Performance-Installation am Hamburger Schauspielhaus: "Ist das schon Kunst oder noch schlechter Sex? Ein volltrunkenes Paar spielen Paul McCarthy und Lilith Stangenberg in 'A&E / Adolf & Eva / Adam & Eve' am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Ein toxisches, das sich, kaum ist es ins eigene Zuhause gestolpert, unkontrolliert belitert, dabei beschimpft, bespuckt und besteigt. In der Küche, auf und unterm Küchentisch, später auf dem Wohnzimmerteppich. ... Die beiden spielen mal Adolf Hitler und Eva Braun, mal Adam und Eva, mal Filmproduzent und Schauspielerin und sowieso das Böse im Menschen."
Archiv: Bühne

Kunst

Peter Gauditz, spectrum Photogalerie Hannover, Straßenansicht, 1972, © Peter Gauditz


Vor fünfzig Jahren gründete sich in Hannover die Spectrum Photogalerie, seit 1979 im Sprengel Museum untergebracht, die bald international bekannt wurde. Freddy Langer hat für die FAZ die Jubiläumsausstellung besucht und ist beeindruckt: "Wer sich mit der Fotografie der Nachkriegszeit beschäftigt, kann sie nicht anders als ehrfürchtig betrachten. Dabei überrascht die Vielfalt der Ansätze, die von Einzelpräsentationen aus der ersten Fotografenriege der Zeit bis zu thematischen Ausstellungen etwa zur 'Generativen Fotografie' oder solch Meilensteinen wie 'Aspekte amerikanischer Farbfotografie' im Jahr 1980 reichen. Mit historischen Abzügen aus der Sammlung Lebeck wurde auch einem Überblick aus der Frühzeit des Mediums Raum gegeben."

Weitere Artikel: Seit der zweiten Machtübernahme der Taliban lebt in Afghanistan kein einziger Jude mehr. "Es ist ein Bild, das sich in der ganzen arabischen Welt abzeichnet: Von den schätzungsweise neunhunderttausend Juden, die vor der Staatsgründung Israels in der Levante und Nordafrika lebten, sind heute nur noch wenige Tausend geblieben", schreibt Quynh Tran in der FAZ: Eine Ausstellung im Israel Museum in Jerusalem dokumentiert jetzt die zerstörte Zentralsynagoge in Aleppo als virtuelle Rekonstruktion. Ingeborg Ruthe besucht für die Berliner Zeitung die Sommerschau "Rohkunstbau" auf Schloss Altdöbern im Spreewald. Annegret Erhard schlendert für die FAZ über die Kunstbiennale in Pristina.

Besprochen werden Arnold Stadlers Erinnerungen an den Maler Mark Tobey (Tsp) und eine Ausstellung von Bruce Nauman in der Konrad Fischer Galerie in Berlin (Tsp).
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Musik

Ein Verlust: Mit gerade einmal 39 Jahren ist Jaimie Branch völlig überraschend gestorben. Die der Chicagoer Szene entsprungene Trompeterin vereint "Jazz mit Postrock und Improvisation mit einem immer wieder durchschimmernden Punkgestus", schreibt Benjamin Moldenhauer in der taz. "Dass man diese Musik sofort versteht, liegt auch an den eingängigen Melodien, die Branch aus ihrer Trompete hervorquellen lassen konnte. Bei aller Eingängigkeit spielte sie auch virtuos und ideenreich, und zwar in einer Selbstverständlichkeit, mit der andere Menschen atmen." Auch Harry Nutt von der FR trauert: "Improvisation entwickelte sie aus einem inneren Drang nach Präzision und Genauigkeit heraus. Nichts an ihr wirkte auf den ersten Blick lässig, aber ihre Musik verführte nach wenigen Klängen in jeweils eigene Gedankenwelten. Ihre stilistische Ungebundenheit, etwa in dem Stück 'Prayer for Amerikkka' war immens."



Wladimir Jurowski, seit der Spielzeit 2021/22 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, spricht in der SZ mit Wolfgang Schreiber unter anderem über seine Entscheidung, nur wenige Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine beim Konzert den geplanten Tschaikowsky-Programmposten durch die ukrainische Nationalhymne und die Symphonische Ouvertüre Nr. 1 von Mychajlo Werbyzkyj zu ersetzen. Tschaikowsky aus den Programm zu verbannen, hält er dennoch für falsch: "Tschaikowsky war ein Freund der Ukraine, er war aber auch ein monarchistisch gesinnter Mensch, ließ sich von der Glorie des Russischen Reichs blenden. ... Patriotismus, nationaler Stolz waren damals keine Schimpfwörter. Ich finde es immer ein bisschen problematisch, wenn man die Menschen von damals für die Verbrechen von heute in irgendeiner Weise verantwortlich macht."

Besprochen werden ein Auftritt von Tai Verdes (BLZ), ein Konzert des Budapest Festival Orchestras unter Iván Fischer (NZZ), ein Konzert der Arctic Monkeys (NZZ) und ein neues Album der Saxofonistin Theresia Philipp und ihres Trios Pollon (FR).
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