Efeu - Die Kulturrundschau

Es swingt zeitversetzt

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26.08.2022. Der internationale Museumsrat ICOM hat eine neue Definition von Museum verabschiedet, meldet Hyperallergic: Museen zeigen jetzt nicht mehr nur Kunst, sondern fördern Vielfalt und Nachhaltigkeit und argumentieren ethisch. Sascha Lobo zeigt sich auf Spon megaüberrascht, dass auf der Documenta Filme mit antisemitischer Terrorpropaganda gezeigt werden. In Ingolstadt wurde ein Theaterneubau bei einem Bürgerentscheid als "Elitenkultur" abgelehnt, berichtet die SZ. Dem Kino steht ein harter Herbst bevor, warnt der Tagesspiegel. Die taz hört House der "Sons of".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.08.2022 finden Sie hier

Kunst

Der internationale Museumsrat ICOM hat eine neue Definition von Museum verabschiedet, berichtet Jasmine Liu bei Hyperallergic. "Mit der neuen Definition werden Begriffe wie 'Zugänglichkeit', 'Inklusivität', 'Vielfalt' und 'Gemeinschaft' eingeführt, die eine horizontalere und demokratischere Konzeption des modernen Museums darstellen. ... Die vollständige neue Definition lautet nun wie folgt: 'Ein Museum ist eine gemeinnützige, dauerhafte Einrichtung im Dienste der Gesellschaft, die materielles und immaterielles Erbe erforscht, sammelt, bewahrt, interpretiert und ausstellt. Museen sind für die Öffentlichkeit offen, zugänglich und integrativ und fördern Vielfalt und Nachhaltigkeit. Sie arbeiten und kommunizieren ethisch, professionell und unter Beteiligung von Gemeinschaften und bieten vielfältige Erfahrungen für Bildung, Vergnügen, Reflexion und Wissensaustausch.'"

Noch ein antisemitisches Kunstwerk auf der Documenta entdeckt? Diesmal in Form pro-palästinensischer Agit-Prop-Filme aus den Siebzigern und Achtzigern? Auf Spon rollt Sascha Lobo mit den Augen und verweist auf Jakob Baiers Artikel in der taz vom Dienstag: "Natürlich könnte man solche Filme, führt Jakob Baier aus, mit Fug und Recht zeigen, wenn man sie einordnete. Tatsächlich geschieht fast das exakte Gegenteil. Denn es gibt kommentierende Stimmen aus dem Off zwischen den Filmen. Die aber schwärmen laut Baier regelrecht von der antisemitischen Terrorpropaganda. Die Stimmen der beiden Sprecher erklären, welche Clips ihre Lieblingsfilme seien, sie loben einen Film, der den Märtyrertod kleiner Kinder feiert, als 'sehr literarisch' und deuten so erschütternd wie absurd die geopferten Kinder zu 'Freiheitskämpfern' um. Uff. Uff. Superuff. Das ist israelbezogener Antisemitismus allerreinsten Wassers und kindermissbrauchend obendrein. ... BDS-Künstler machen antisemitische Kunst. Megaüberraschung."

Die systematische Prüfung aller Exponate auf der Documenta auf Antisemitismus gehörte nie zu den Aufgaben der in Kassel eingesetzten Expertenkommission, erklärt im Interview mit der SZ die Leiterin der Kommission, Nicole Deitelhoff: "Wir sind als fachwissenschaftliches Gremium einberufen mit dem Ziel, herauszuarbeiten, wie es zu den antisemitischen Vorfällen auf der Documenta kommen konnte und wie dies zukünftig zu verhindern ist. In diesem Zuge sollen wir auch vertiefende Analysen zu antisemitischer Bildsprache umstrittener Werke und zu den Organisationsstrukturen der Documenta anstoßen beziehungsweise durchführen. ... Wichtig ist, sich in öffentlichen Auseinandersetzungen darüber klar zu werden, was man in einer freiheitlichen Gesellschaft auch ertragen können muss."

Besprochen werden eine Ausstellung von Bill Viola im Museum der Moderne in Salzburg (FAZ), die Ausstellung "Zeichnen im Zeitalter Goethes" im Deutschen Romantik-Museum Frankfurt (FAZ) und die Ausstellung "Sand !Hū Sand" im Kunsthaus Hamburg (taz).
Archiv: Kunst

Literatur

Zumindest die intellektuelle Wertschätzung von Übersetzungsarbeit ist in den letzten Jahren merklich gestiegen - wenngleich die finanzielle noch spürbar hinterher hinkt, sagt Jürgen Jakob Becker vom Deutschen Übersetzerfonds in der taz. Neu ist etwa auch, dass "Übersetzerinnen wie etwa Miriam Mandelkow in ihren Nachworten zu den James-Baldwin-Übersetzungen den eigenen Ansatz offenlegen und übersetzerisches Wissen anschaulich machen. Auch die postkoloniale Debatte hat das Übersetzen thematisiert und das Bild vom kulturellen Brückenbauer hinterfragt." Und "es wird sich einiges verändern. Früher sorgten die Google-Übersetzungen von Proust-Sätzen für Lacherfolge in Übersetzerdiskussionen. Das ist heute anders, die Fortschritte, die die Maschinen machen, sind ganz verblüffend. Ich glaube nur, dass es noch eine ziemliche Zeit dauern wird, bis das beim 'hochliterarischen' Übersetzen richtig ins Gewicht fallen wird."

Weiteres: Die NZZ sammelt Stimmen aus der Schweizer Literatur zum Anschlag auf Rushdie. Der Schriftsteller Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Ronald Pohl vom Standard kann nicht verstehen, dass britische Universitäten die Lyrik von Philip Larkin von ihren Listen streichen: Sein Ruf als "rechtslastiger Griesgram" ist zwar begründet, aber "sind, rundheraus gefragt, menschlich unerfreuliche Erscheinungen es nicht wert, dass man sich ihrer Leistungen erinnert?"

Besprochen werden unter anderem das "Jahrbuch der Lyrik 2022" (Perlentaucher), Joshua Groß' "Prana Extrem" (Dlf Kultur), der von Wolf Kaiser herausgegebene Band "Der papierene Freund. Holocaust-Tagebücher jüdischer Kinder und Jugendlicher" (Dlf Kultur), Max Annas' Krimi "Der Fall Daniela Nitschke" (Dlf Kultur), Christian Barons "Schön ist die Nacht" (ZeitOnline) und Lisa Eckharts "Boum" (Standard).
Archiv: Literatur

Bühne

Ingolstadt sollte ein neues Ausweichtheater bekommen, während das alte Theater saniert wird. Und was passierte? Die Bürger lehnten es bei einem Bürgerentscheid ab: Man wolle keinen "Palast" für "Elitenkultur", hieß es. Die Kritiker, berichtet Christine Dössel in der SZ, argumentierten mit dem Wegfall von vierzig Bäumen und den Kosten von 45 Millionen Euro. "Dies alles wurde - das war das Perfide - als Projekt der Hochkultur ausgespielt gegen Soziales, gegen die 'Hausaufgaben der Stadt', die wichtiger seien als Kammerspiele. 'Jugend auf der Straße, Theater im Palast', hieß es auf einem der Plakate, mit denen die Freien Wähler unter dem Motto 'David gegen Goliath' in den Kampf zogen. Auf dem Foto dazu sah man einen eingemummelten Jugendlichen einsam an einer Straßenecke kauern - der Pennäler als Penner."

Besprochen wird Gus Van Sants Musical über Andy Warhol "Trouble" beim Sommerfestival im Hamburger Kampnagel (nachtkritik).
Archiv: Bühne
Stichwörter: Kampnagel

Film

Heftiger Publikumsschwund, steigende Energiekosten und Ende des Jahres zur besten Saison auch noch eine Fußball-WM: Dem Kino steht ein "harter Herbst" bevor, warnt Andreas Busche im Tagesspiegel. Vor allem im Arthouse-Segment bleibt die Zielgruppe immer häufiger lieber zuhause. "Die Signale aus der Politik" sind auch "nicht sehr ermutigend. Der Ruf nach einer grundlegenden Überarbeitung des Filmfördergesetzes zur nächsten Novelle 2024 wird immer lauter - in der dann die wichtige Funktion der Sparten Verleih und Kino endlich monetär gewürdigt wird. Stattdessen stockte Claudia Roth im Mai noch einmal den 2015 eingeführten German Motion Picture Fund auf neunzig Millionen Euro auf. Geld, das - so der Vorwurf des Hauptverbands Deutscher Filmtheater (HDF) - fast ausschließlich in die Serien-Produktion fließt. Auch so kann Politik Fakten schaffen. Der Pandemiesieger Streaming bindet immer mehr Kapital aus der sogenannten Filmförderung, die auch im Kulturstaatsministerium unter 'Wirtschaftsförderung' firmiert."

Weitere Artikel: Der Branchenverband German Films schickt Edward Bergers Ende des Monats in den Kinos startende Netflix-Produktion "Im Westen nicht Neues" ins Oscar-Rennen, meldet Christian Schröder im Tagesspiegel. In der Welt erinnert Hanns-Georg Rodek aus diesem Anlass an die Randale, mit der die Nationalsozialisten 1930 in Berlin auf Lewis Milestones Verfilmung des Remarque-Romans reagierten. In der FAZ sprechen die beiden Produzenten Ryan Condal und Miguel Sapochnik über ihre Arbeit am "Game of Thrones"-Ableger "House of the Dragon".

Besprochen werden die Werner-Herzog-Ausstellung im Filmmuseum Berlin (FR, Tsp), Kornél Mundruczós "Evolution" (Tsp, Perlentaucher, ZeitOnline, mehr dazu hier), Amjad Abu Alalas "Du wirst mit 20 Jahren sterben" (Perlentaucher), Louis C. K.s Komödie "Fourth of July" (NZZ, unsere Kritik), Baltasar Kormákurs Tierhorrorfilm "Beast" mit Idris Elba (FAZ) und die Pornobranchen-Seifenoper "Nur für Erwachsene" (FAZ). Außerdem erklärt uns die SZ, welche Filme sich diese Woche wirklich lohnen.
Archiv: Film

Musik

Die Musiker Sam Prekop und John McEntire verbinden Kenner vor allem mit Postrock Chicagoer Prägart. Auf ihrem gemeinsamen Album "Sons of" huldigen sie elektronischen Klängen und dem House, erklärt Julian Weber in der taz. Die Sounds aus dem Club "überführen sie in ein transzendentales Gesamtrauschen", was so wirkt, "als würde Michelangelo Antonioni einen Film über Deephouse drehen. ...Das In-your-face-mäßige von elektronischem Dancefloor wird in den Händen der beiden Künstler zum abstrakt-expressionistischen Klangfarben-Pow-Wow. Es swingt zeitversetzt und etwas verschachtelter als die Norm, gelassen, bisweilen geisterhaft kommt diese Musik daher. Obwohl die Beats schnurgerade sind, sind sie quasi dreidimensional inszeniert, als flögen sie im Dreieck über die Hooklines und Melodien hinweg."



Geradezu forensisch arbeitet sich Diedrich Diederichsen für die taz durch die Box "Words & Music, May 1965", die Lou Reeds Sessions eben jenes Monats dokumentiert, also den Zeitpunkt unmittelbar vor der eigenen Apotheose und endgültigen Stilfindung. Spätere Velvet-Underground-Hits sind hier bereits in ersten Versionen zu hören oder zu erahnen, auch wenn sie hier "in ihrer lagerfeurig-präpotenten Aufgeregtheit noch wenig von der Coolness abstrahlen, für die sie später berühmt werden sollten." Aber "wie und wann kam es zu dem Schritt vom um Understatement allenfalls bemühten, durchweg eher aufgekratzten und viel zu frischen Greenwich-Folk-Style zu jener grandios zelebrierten Passivität, zu tausendjähriger Müdigkeit, Lob des Masochismus, zum Aufstieg von Noise und Rhythmusgitarre und antikalifornisch-nihilistischer Ungesundheitsperformance?" Nun, "eigentlich lässt die kleine Männertruppe nur das Dylanisieren sein und das Klampfen hinter sich, weiß aber nicht gleich, was stattdessen hilft."



Außerdem: Tobi Müller schreibt einen Nachruf auf die Jazztrompeterin Jaimie Branch (weitere Nachrufe bereits hier). Jonathan Fischer schreibt in der SZ zum Tod des Jazzproduzenten Creed Taylor. Unter anderem zeichnete er für den wunderbaren Sound dieses ewigen Klassikers verantwortlich:



Besprochen werden das neue Muse-Album ("grauenvoll", findet es SZ-Kritiker Jakob Biazza, "aber auf die absolut brillanteste Art") und ein Konzert von Igor Levit in Salzburg (SZ).
Archiv: Musik