Efeu - Die Kulturrundschau

Diese neuen, mächtigen Generatoren

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29.08.2022. Warum müssen Schulen eigentlich rechtwinklig gebaut werden, fragt die SZ und empfiehlt die unordentlichen Bauten des Architekten Peter Hübner. Für die FAZ verfolgt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger den Prozess gegen die Schriftstellerin  Tsitsi Dangarembga in Simbabwe. Die Nachtkritik feiert den Schauspieler Rezo Tschchikwischwili, der in Essen in Kafkas "Bericht für eine Akademie" brilliert. Die Welt freut sich: Der türkische Staat zeigt Gülşen die Krallen, und die Popikone im Gegenzug noch mehr nackte Haut.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.08.2022 finden Sie hier

Architektur

Wohnen im Polyeder: Haus des Architekten Peter Hübner. Foto: plus bauplanung

Für die SZ besucht Laura Weißmüller den Architekten Peter Hübner, der als "Meister unordentlicher Häuser" gegen betonierte Einförmigkeit und deutsche Bauordnung Gebäude entwerfen wollte, die Menschen inspirieren: "Besonders fatal wird diese Einförmigkeit in der Architektur im Schulbau. Hübner nennt die Gebäude 'ein Verbrechen an der jungen Generation' und stemmt sich seit Jahrzehnten gegen die strikten Schulbaurichtlinien, die kaum kreative Freiheit zulassen. Bis auf den Zentimeter ist darin vorgegeben, was eine gute Klasse sei. Rechtwinklig soll sie sein, von einer Seite belichtet, die Stühle linear zur Tafel aufgestellt. Kisten, die auf den ersten Blick nicht viel von Kasernen unterscheidet. Hübners Schulen, Kindergärten und Jugendzentren sehen anders aus. Da wird eine Säule zum Saurierknochen und das Dach vom Dinokopf überragt. Da gibt es Teiche im Inneren, Wendeltreppen und lichte Deckenkonstruktionen, gekurvte Wände und dschungelartige Bepflanzung. Viele der Gebäude sind Waldorfschulen."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Hübner, Peter

Literatur

In dem haarsträubenden, mitunter absurde Entwicklungen nehmenden Prozess, den Simbabwe gegen Tsitsi Dangarembga führt (sie hatte auf einem Schild demokratische Reformen gefordert), wurde das angekündigte Urteil erneut vertagt. Die Schriftstellerin und Friedenspreisträgerin hat sich dem Prozess freiwillig gestellt, obwohl sie im sicheren Deutschland weilte, berichtet Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in der FAZ: "Simbabwe zu verlassen, kam für sie nicht in Frage. Mein Eindruck nach einem langen und bewegenden Gespräch in Harare mit ihr ist: Selten hat eine Verfechterin eines aufgeklärten Afrikas mit mehr Leidenschaft für die Sache gekämpft. Und ist dabei so hartnäckig und unerschrocken. Ihre künstlerische und intellektuelle Verbundenheit mit dem Heimatland Simbabwe zeigt sich nicht nur in ihrem Werk. In ihrem Roman 'Aufbrechen', der teilweise biografische Bezüge aufweist, zeigt Dangarembga die traditionelle Rolle von Frauen in Simbabwe. Kaum Zugang zu Bildung oder Arbeit, keine Selbstbestimmung in der Lebensführung - was bedeutet es, aus solchen Strukturen auszubrechen? Tumbudzai Sigauke, die Protagonistin in 'Aufbrechen', erlebt Gewalt, Unterdrückung und familiäre Entfremdung. Im heutigen Simbabwe geht es auch wieder um zerschlagene Hoffnungen."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Die Schriftstellerin Goldie Goldbloom spricht in der NZZ darüber, wie sie ihre chassidischen Überzeugungen und ihre dazu im Widerspruch stehende Queerness unter einen Hut bekommt: Nur Gott kann ihr Richter sein, nicht andere Gläubige. Im ZeitOnline-Gespräch durchleuchtet der Psychoanalytiker Stefano Vastano die Pier Paolo Passolinis politische Positionen. Bei Karl May geht es queerer zu als man gemeinhin glauben mag, schreibt Matthias Heine in der Welt. Der Thriller-Autor Mick Herron spricht auf ZeitOnline über seine Arbeit. Nicolas Freund resümiert für die SZ das PoetInnenfest Erlangen. Der Schriftsteller Christian Baron würdigt in der SZ seinen Berufskollegen John Williams, der heute 100 Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden unter anderem neue Joan-Didion-Ausgaben (FAS), Bei Daos "Das Stadttor geht auf" (Standard), Sigrid Nunez' "Eine Feder auf dem Atem Gottes" (FAS), Joshua Groß' "Prana Extrem" (Tsp), Thomas Stangls "Quecksilberlicht" (FR), Ferdinand von Schirachs "Nachmittage" (Tsp), Marcel Jouhandeaus "Die geheime Reise" (NZZ), eine Biografie über den Anwalt Hans Litten, der vor der Machtübernahme der Nazis gegen Hitler vorging (Dlf Kultur), der Band "Thomas Bernhards Salzburg (Freitag), zwei E.T.A.-Hoffmann-Ausstellungen (FAZ) und Tanja Raichs "Schwerer als das Licht" (Standard).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Rüdiger Görner über John Clares "Lied":

"Ich wollt ich wär wo ich gern wär
Mit meiner Lieb allein
Doch wär ich sie, sie ich, nicht mehr
..."
Archiv: Literatur

Bühne

Rezo Tschchikwischwili in Kafkas "Bericht für eine Akademie". Foto: Matthias Jung / Theater Essen


Fasziniert verfolgt Karin Yeşilada in der Nachtkritik, wie Zafer Tursun im Essener Grillo Theater Kafkas "Bericht für eine Akademie" in Szene setzt - mit "syrischem Akzent" und "georgischen Timbre", wofür der große Rezo Tschchikwischwili sorge: "Zappeln, in Pose setzen, das Publikum fixieren, nervöses Lächeln, ein Anlauf, noch ein Anlauf, dann erhebt er sich, steht aufrecht - und er spricht! So ähnlich muss sein Durchbruch gewesen sein, vom Affen zum Menschen. Er spricht, mit sonorem Timbre, großer Geste und einer unschlagbaren Erfahrung des Lebensweges vom Opfer zum Star, zum Verzauberer des faszinierten Publikums - wir. Und dann als Berichtender für die 'Werte Akademie!' - wieder wir. Wozu aber berichtet er? Das mag sich schon Kafkas Lesepublikum 1917 bei Erscheinen der Erzählung gefragt haben. Worüber entscheiden wir Akademiemitglieder? Über die gelungene Menschwerdung des Affen? Über die Assimilation des zum Scheitern Verurteilten?"

Besprochen werden Gus Van Sants Andy-Warhol-Musical am Hanburger Schauspielhaus (dessen unkritische Oberflächlichkeit Till Briegleb in der SZ zur Verzweiflung treibt), Michel Houellebecqs "Serotonin" in der Bühnenfassung des Theaters Willy Praml (das FR-Kritikerin Sylvia Staude zufolge gut Houellebecqs herzlosen Scharfsinn rüberbringt) und die Choreografien beim Festival "Tanz im August" (Tsp).
Archiv: Bühne

Kunst

Richard Gerstl: Selbstbildnis, lachend, 1908, Belvedere, Wien
"Müsste einer, der keine Schönheit findet für seine Leinwände, nicht eher Musiker werden - blind für die weltliche Anmut vielleicht, aber mit einem Gehör ausgestattet für das Leid, das sich darunter verbirgt?" NZZ-Kritiker Philipp Meier denkt über das Leben und Schaffen des österreichischen Malers Richard Gerstl nach, der sich so gar nicht mit dem Leben versöhnen wollte - anders als sein Freund Arnold Schönberg, dessen Ehe er allerdings zerstörte. Das Kunsthaus Zug widmet ihm eine Ausstellung: "Als einer der Allerersten führte Gerstl gleichsam das Prinzip des Hässlichen in die Kunst ein, ohne das die Moderne nicht zu denken wäre. Darin war Gerstl seiner Zeit voraus. Ungewohnt frei ging er mit Farbe um. So hatte er das Bild der Familie Schönberg 'bereits um die Jahrhundertwende im Stil von de Kooning gemalt', bemerkte der österreichische Maler Herbert Brandl zu Recht. Solch bildwütige Ausfälle auf den Leinwänden, die manchmal fast an Jackson Pollock erinnern, hätte man einem Wiener um 1900 nicht zugetraut - zu einer Zeit, als Klimt den Jugendstil zelebrierte und Schiele sich gerade im Expressiven zu üben begann."

Die Zeit, in der KI humoristische, aber untaugliche Bilder generierte, ist vorbei, fürchtet Hans Christoph Böhringer in der FAZ. Seit ein Journalist des Atlantic-Magazins eine künstlich erzeugte Illustration für seinen Newsletter benutzte, weil es schneller und billiger ging als ein Pressefoto, ist klar, was DALL-E 2 bedeutet: "Diese neuen, mächtigen Generatoren sind die surrealistische Schlagseite ihrer Vorgänger fast gänzlich losgeworden. Sie können Bilder erzeugen, die aussehen wie hochauflösende Porträtfotos von Menschen. Sie können Albumcover oder ganze Comics in Sekunden zeichnen. Sie können Geld machen. Geld, das dann auch an die Tech-Start-ups geht, die sie produziert haben. Damit haben die träumenden Maschinen ihre Unschuld schneller verloren, als der Schriftsteller Clemens J. Setz vor ein paar Monaten in der Süddeutschen Zeitung vermutete (unser Resümee). Nicht durch Erkenntnis, sondern durch Business."

Besprochen wird außerdem die an die Utopien der Sci-Fi-Schriftstellerin Ursula Le Guin anknüpfende Ausstellung "Nature and State" in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden (taz).
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Film

Zwischen erhellender Erfahrung und Kitsch: "Evolution"

Kata Wébers und Kornél Mundruczós "Evolution", ein Episodenfilm über das Nachwirken der Shoah in den nachfolgenden Generationen der Überlebenden, irritiert Bert Rebhandl in seiner online nachgereichten FAZ-Kritik eher etwas: "Mit dem problematischen Begriff der 'Evolution' soll es vielleicht darauf hinauslaufen, dass sich ein allgemeinerer Humanismus gegenüber dem identifizierenden Rassismus durchsetzen könnte", dass etwa "die kulturelle Evolution endlich die Differenzen überwinden könnte, die in fanatischer Verblendung bis zu den Gaskammern führten. Ein positives jüdisches Selbstverständnis wäre in dieser Evolution aber auch nur mehr kombinatorisches Material. Insgesamt ein reichlich merkwürdiger Film, eher ein stark thesenhaft durchsetztes Konstrukt als eine nachvollziehbare Menschenbeobachtung." Perlentaucher-Kritiker Sebastian Markt sah "Bilder, die zwischen erhellender Erfahrung und deren Festschreibung im Kitsch changieren".

In der längst in den Niederungen der Vertrottelung dümpelnden Winnetou-Kontroverse ruft Bert Rebhandl im Standard als Stimme der Vernunft in Erinnerung, dass Karl Mays romantische Fantasien und mehr noch dessen schwülstigen Verfilmungen schon vor zwanzig Jahren in Bully Herbigs "Schuh des Manitou" deftig, aber immens erfolgreich durch den Kakao gezogen wurden - wenn auch in einer Geste der nostalgischen Umarmung. Auch in anderer Hinsicht sieht Rebhandl "genügend Ansatzpunkte für eine postkoloniale Lektüre nicht nur von Winnetou, sondern auch seiner großen Kolportage-Reißer wie 'Das Waldröschen'. Dafür fehlen letztlich doch die Voraussetzungen. Das hat mit dem falscheren Bewusstsein zu tun, dem das deutsche Kino im Unterschied zum amerikanischen immer noch oft unterliegt: Das Fake-Hollywood der Nazis hat über die Heimatfilme (zu denen auch die blockfreien Western mit Pierre Brice und Lex Barker zählen) Nachwirkungen bis in eine Gegenwart, die kulturelle Räume gar nicht anders als in Form von Besitzständen sehen kann."

Außerdem: Der Schauspieler Claude-Oliver Rudolph spricht in der NZZ über seine Zeit bei Russia Today. Claus Löser schreibt in der Berliner Zeitung einen Nachruf auf den Filmhistoriker Ralf Schenk (mehr dazu bereits hier).

Besprochen werden die Werner-Herzog-Ausstellung im Filmmuseum Berlin (taz, online nachgereicht von der FAZ), Amjad Abu Alalas Regiedebüt "Mit 20 wirst du sterben" (Tsp, unsere Kritik), Carla Simóns Berlinale-Gewinner "Alcarràs" (Standard, unsere Kritik) und eine Berliner Aufführung von Arnold Fancks Stummfilm "Berg des Schicksals" (FAS).
Archiv: Film

Design

Besprochen werden die Ausstellung "Otl Aicher. Olympia 72" im Bröhan-Museum in Berlin (taz, mehr zu Aicher bereits hier und dort) und die Ausstellung "The Art of Everyday Life" im Wiener Designforum mit Grafiken aus Nordkorea (Standard).
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Stichwörter: Nordkorea, Olympia

Musik

Die in der Türkei populäre Popmusikerin Gülşen muss in Untersuchungshaft. Der Vorwurf? "Volksverhetzung". Was war geschehen? Gülsen hat auf der Bühne einen nicht sonderlich spektakulären unfrommen Witz über die Zustände an den türkischen Religionsschulen gemacht. Mit einer tatsächlichen Haftstrafe rechnen Oppositionelle zwar nicht, berichtet Deniz Yücel in der Welt. Dass Erdogan und seine Vasallen sich hier allerdings einen derart populären Star vornehmen, hat eine neue Qualität: In der Türkei gilt Gülsen als "Ikone eines säkularen Lebensstils und einer selbstbestimmten weiblichen Sexualität. Erzkonservative Kreise kritisierten immer wieder ihre freizügigen Bühnenkostüme, worauf Gülşen im Gegensatz zu vielen ihrer Musikerkolleginnen nicht mit heimlichen Zugeständnissen reagierte, sondern mit noch mehr nackter Haut." Dieses "Hafturteil gegen Gülşen steht in einer Reihe mit über einem Dutzend Verbotsverfügungen gegen Festivals und Konzerte. Schon seit Jahren beklagt Erdogan, dass seine Partei zwar die politische Macht übernommen habe, die kulturelle Hegemonie aber weiterhin seine Gegner hätten." Hintergründe liefert auch Jürgen Gottschlich in der taz.



Weitere Artikel: Stephanie Grimm resümiert in der taz das Festival Pop-Kultur Berlin. Jan Brachmann warnt in der FAZ vor einem sich immer weiter verschärfenden Musiklehrermangel. Taylor Swift ist für das Video des Jahres ausgezeichnet worden, meldet unter anderem die Presse.



Besprochen werden neue Bücher von Joachim Hentschel und Jens Balzer zur Geschichte der deutschen Popmusik (FAS), der Saisonauftakt der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko (Tsp, FAZ), ein Gershwin-Abend des NDR Elbphilharmonie Orchesters unter Alan Gilbert in Hamburg (Welt), ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Esa-Pekka Salonen (Standard), eine neue EP von Dog Dimension (taz), ein Auftritt der Death-Metal-Band Cannibal Corpse (taz), "I Am The Moon" von der Tedeschi Trucks Band (FAZ) und die Debüt-CD des Tenors Jonathan Tetelman mit unter anderem Verdi- und Verismo-Aufnahmen (FAZ).
Archiv: Musik