Efeu - Die Kulturrundschau

Ich bin eine alte Aufklärerin

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30.08.2022. Im New Yorker fordert jetzt auch David Remnick den Nobelpreis für Salman Rushdie. Die FAZ feiert mit dem Choreografen Trajal Harrell und Joni Mitchell die Introvertiertheit. In der Bremer Kunsthalle blickt sie gebannt auf das nackte männliche Knie. Der Filmdienst erkundet, wie Dieter Kosslick mit der deutschen Filmförderung eine Riesenrad in Bewegung setzte. Tagesspiegel, SZ und RBB feiern den Auftakt des Berliner Musikfests mit Mahlers Sechster und dem Concertgebouw unter Klaus Mäkelä. Die FAZ nicht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.08.2022 finden Sie hier

Literatur

Seinerzeit hatte die Schwedische Akademie Khomeinis Mordaufruf gegen Salman Rushdie mit Schweigen quittiert statt ihn zu verurteilen. Dieses Versäumnis könnte sie ja nun mit einem Literaturnobelpreis wettmachen, findet David Remnick im New Yorker. "Als literarischer Künstler hat sich Rushdie diese Auszeichnung wohlverdient und seine Rolle als zu keinen Kompromissen bereiter Verteidiger der Freiheit und Symbol der Widerstandskraft macht dieses Anliegen nur noch dringlicher. Zwar könnte keine solche Geste die Welle des Illiberalismus brechen, die weite Teile der Welt umspült. Aber nach all ihren irritierenden Entscheidungen hat die Schwedische Akademie hier nun einmal die Gelegenheit, auf die Hässlichkeit eines staatlich verordneten Todesurteils mit der Würde ihrer höchsten Auszeichnung zu antworten und damit all die Kleriker, Autokraten und Demagogen - darunter unsere eigenen -, die ihre Anhänger auf Kosten der Freiheit der Welt galvanisieren, auf ihren Platz zu verweisen. Die freie Meinungsäußerung, wie uns Rushdies Martyrium erinnert, kam noch nie umsonst, aber der Preis, den wir dafür zahlen, ist diesen Preis wert."

Im NZZ-Gespräch blickt die Literaturkritikerin Sigrid Löffler auf ihr Werk zurück. "Ich bin kein Mythos", sagt sie als Reaktion darauf, dass sie als hartnäckig gilt. "Ich habe nur lernen müssen, dass man als Frau nicht zugleich erfolgreich und bei allen Männern wohlgelitten sein kann. ... Ich bin eine alte Aufklärerin. Wenn man in Österreich aufgewachsen ist, ist das eigentlich unumgänglich. Als Journalistin habe ich mich an den österreichischen Geschichtslügen abgearbeitet, etwa der bequemen Nachkriegslüge, dass Österreich das erste Opfer Hitlers gewesen sei. Dieses klerikofaschistische Milieu war in den fünfziger Jahren noch von einer bedrückenden Dichte. Man konnte sich nur in Literatur flüchten."

Weitere Artikel: In der NZZ setzt der Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Matthias Ubl hat für ZeitOnline die Karl-May-Stiftung in Radebeul besucht, deren Leiter Kevin Manygoats ein Angehöriger der Navajos ist und viele aktuelle Diskurs-Exzesse eher amüsiert beobachtet. Die Zeit präsentiert Lyrik aus der Ukraine. Anna Flörchinger resümiert in der FAZ das Erlanger Poetenfest. Die Berliner Zeitung plaudert mit dem Schauspieler Matthias Matschke, der mit "Falschgeld" sein Romandebüt vorgelegt hat. Auch der Filmregisseur Dietrich Brüggemann ist jetzt unter die Schriftsteller gegangen und plauscht mit der Welt über seinen ersten Roman "Materialermüdung". Außerdem präsentiert die Jury des Tagesspiegels die besten Comics des Quartals - an der Spitze: Bruno Duhamels "Falsche Fährten".

Besprochen werden unter anderem Werner Herzogs Memoiren "Jeder für sich und Gott gegen alle" (NZZ), Marta Orriols' "Sanfte Einführung ins Chaos" (SZ) und Zakiya Dalila Harris' "The Other Black Girl" (FAZ).
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Bühne

Trajall Harrell: The Köln Concert". Foto: Reto Schmidt / Schauspielhaus Zürich

Beim Berliner "Tanz im August" gastierte Trajal Harrell mit einer Choreografie zu Keith Jarretts "Köln Concert", und FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster schwebt im siebten Himmel, zumal Harrell vor Jarretts Musik auch noch Joni Mitchells 'The Last Time I saw Richard' spielt: "Es ist einer der schönsten Songs aller Zeiten und erzählt die Geschichte des desillusionierten Künstlers in der postromantischen Phase seiner Existenz: 'Richard got married to a figure skater / And he bought her a dishwasher and a coffee percolator / And he drinks at home now most nights with the TV on / And all the house lights left up bright.' So beginnt auch Trajal Harrell: Das Publikum sitzt im hellen Licht, und der Choreograph, indem er allein zu tanzen beginnt, rechts vorne am Bühnenrand, schaut über die Zuschauer hinweg. Mitunter aber schaut er uns auch an: Mit der ihm eigenen Insichgekehrtheit, die nichts Ablehnendes hat, aber doch unmissverständlich darauf verweist, dass wir einer für das Theater im Moment des Spielens geschaffenen Persönlichkeit zuschauen."

Weiteres:  In der taz stellt Katja Kollmann die russische Schauspielerin Tschulpan Chamatowa vor, die in Russland ein Star war und jetzt im lettischen Exil in Riga mit dem Regisseur Alvis Hermanis Theater macht. Christine Dössel freut sich in der SZ über die Goethe-Medaille für Nimi Ravindran und Shiva Pathak vom indischen Sandbox Collective, zwei Theatermacherinnen, Schauspielerinnen und Initiatorinnen eines Gender Bender Festivals in Bangalore. Besprochen wird Tschechows "Drei Schwestern" in der Regie von Dušan David Parízek am Theater Bremen (und Nachtkritiker Jens Fischer zufolge auch mit nur zwei Schwestern beeindruckend und unbedingt sehenswert).
Archiv: Bühne

Kunst

Sebald Beham; Der Tod und das unzüchtige Paar, 1529. Bild: Kunsthalle Bremen

Berauscht wandelt FAZ-Kritiker Stefan Trinks durch die Ausstellung "Manns-Bilder", mit der die Bremer Kunsthalle den männlichen Akt auf Papier feiert. Hier ist alles Körper, Linie, Spannung, Licht: "Es ist aber beileibe nicht nur der makellos schöne und dadurch oft auch langweilige Körper, der von den Künstlern verewigt wurde; gerade die griechische Skulptur legte enormen Wert auf Schultern, Knie und Füße, weit weniger auf primäre Geschlechtsmerkmale der Männerakte, die in der griechisch-römischen Antike ohnehin größenmäßig unterdurchschnittlich gezeigt wurden. Wohldurchgeformte Körperlandschaften im Bereich der Schultern, der Kniezone um die Patella oder eben der Waden und Füße erlaubten den Künstlern, das Spiel des Lichts auf den zahlreichen Höhen und Tiefen dieser Körperlandschaften tanzen und den Marmorstein leicht werden zu lassen."

Bereist gestern sprach das Kuratorenkollektiv Ruangrupa im Tagesspiegel-Interview mit Nicola Kuhn über die Antisemitismus-Vorwürfe, ihre Unterstützung für BDS ("friedlich, aber hörbar") und die Debatte, die sie losgetreten haben, ohne zu ahnen, was für ein Tusunami auf sie zukommt: "Als sich Politik und Medien einschalteten, entstand eine neue Dynamik. Daraus lernten wir, dass wir besser erklären müssen, was wir machen. In Indonesien schert sich niemand groß um uns. Die Documenta ist dagegen fast eine Staatsangelegenheit. Diese Größenordnung hätte uns früher klar sein müssen."

In der FR springt der belgische Kunstkritiker und Kurator Philippe Pirotte dem angegriffenen Kollektiv zur Seite: "Ich denke, dass mögliche Missverständnisse vor allem damit zu tun haben, dass eine Organisationsart angewendet wurde, die eigentlich in Deutschland nicht akzeptiert ist. Man kann sich hier kaum ein anderes gesellschaftliches Modell vorstellen als das eigene. Diese lockere Organisation, stark basierend auf gegenseitigem Vertrauen, wird als skandalös erfahren... In vielen Artikeln in der Presse wurde über Kontrollverlust, Aufarbeitung, usw. geschrieben; das sind Termini einer typischen deutschen Verwaltungskultur."

Im taz-Interview mit Bostjan Bugaric spricht die slowenische Kuratorin Alenka Gregorič über ihre Pläne für die Cukrarna, Ljubljanas neue Kunsthalle in einer alten Zuckerfabrik: "Ich sage immer, dass Kunst mich nicht schlagen soll. Manchmal braucht es nur eine freundliche Geste, eine wirklich sanfte, die dein Verständnis der Dinge durcheinanderwirbelt."
Archiv: Kunst

Film

Im zweiten Teil seiner Textreihe über die Geschichte der deutschen Filmförderung (hier unser Resümee zum ersten Teil) blickt Daniel Kothenschulte auf die Zeit von 1980 bis 2000 als die Filmförderung von Grund auf auf neue Füße in Richtung Wirtschaftsförderung gestellt wurde. Einer Person misst er hier eine zentrale Bedeutung zu: Dieter Kosslick, dem späteren Leiter der Berlinale. "Am 27. Februar 1991 gründete die nordrhein-westfälische Landesregierung gemeinsam mit dem WDR die Filmstiftung Nordrhein-Westfalen, ausgestattet mit einem damals unerhörten 50-Millionen-DM-Etat. Der SPD-Mann Kosslick war der ideale Kandidat für den Chefsessel", um das Kohleland NRW zu einem Medienland zu transformieren. Mit einem Mal drehte man hier international: "Wer sich an den Eindruck erinnert, den die internationalen Produktionen in der Region hinterließen, konnte Kosslicks Politik nur begrüßen. Sie beschleunigten die Professionalisierung der regionalen Filmindustrie und leisteten auch eine kulturelle Aufgabe. Leos Carax hätte seinen Film damals allein in Frankreich kaum realisieren können."

Außerdem: Jürg Zbinden sammelt in der NZZ filmhistorische Beispiele für Fake-Darstellungen von Native Americans. Besprochen werden Laurent Larivières "Die Zeit, die wir teilen" mit Isabelle Huppert (FAZ), Srđan Kečas "Museum of the Revolution" (Jungle World) und der auf Amazon Prime gezeigte Superheldenfilm "The Samaritan" mit Sylvester Stallone (Standard).
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Musik

Der junge Dirigentenstar Klaus Mäkelä und das Concertgebouworkest Amsterdam haben das Musikfest Berlin eröffnet (eine Aufzeichnung davon gibt es bis zum 3. September hier). Clemens Haustein von der FAZ war bei der Darbietung von Mahlers Sechster äußerst unzufrieden. Mäkela "feuert an, versucht mit schiebenden Bewegungen Energie ins Orchester zu pumpen, lässt keinen Akzent, kein überfallartiges Crescendo ungenutzt vorüberziehen. Man kann Mäkelä nicht vorwerfen, dass er die Partitur nicht kennen würde. Die beherrscht er merklich. Aber entsteht musikalischer Sinn daraus? Wozu das alles: diese heftigen Klangreize, die Spitzen und Schläge? Es wird nicht klar, weil Mahlers düsterer Hintergrund nicht spürbar wird." So zeigt sich letztlich, "dass Mäkelä kaum in der Lage ist, abseits der bloßen Intensität auf den eigentlichen Klang des Orchesters einzuwirken." Das Konzert ist "ein Desaster. So ein Abend darf einem Orchester dieser Liga eigentlich nicht passieren."

Damit steht Haustein allerdings ziemlich alleine. Tagesspiegel-Kritiker Ulrich Amling feiert Mäkelas "unprätentiöse Autorität": "Die Beherrschung der gewaltigen Partitur kostet ihn keinerlei Mühe, vor allem aber lenkt sie ihn nicht davon ab, Kontakt zu seinen Musikerinnen und Musikern zu halten. Mäkeläs Aufmerksamkeit ist überall, seine Klangvorstellungen sind klar und deutlich, aber zugleich scheint er gefeit davor, in die Rolle des Dozenten oder Kontrolleurs abzurutschen. Was Kirill Petrenko immer wieder schwerfällt, beherrscht der gerade erst halb so alte Kollege: loslassen, Vertrauen verschenken, das Orchester auch einfach mal spielen lassen." Auch Wolfgang Schreiber hält in der SZ mit klaren Ansagen nicht zurück: "Das Eröffnungskonzert hätte nicht musikalisch fesselnder, überzeugender ausfallen können. ... Mäkelä und seine Amsterdamer stürzen sich mit einer Spiellust und Wucht in die Mahler-Symphonie, dass des Staunens achtzig Minuten lang kein Ende ist." Im rbbKultur lautet Andreas Göbels Fazit: "Eine der besten Mahler-Aufführungen der letzten Jahre, eine absolute Sternstunde",

Weitere Artikel: Die über den türkischen Popstar Gülşen wegen eines harmlosen Scherzes verhängte Untersuchungshaft (mehr dazu hier) wird fürs Erste in einen Hausarrest umgewandelt, melden die Agenturen. Dennis Hoffmeyer resümiert in der NZZ die MTV Music Video Awards, bei denen Johnny Depp einen Überraschungsauftritt hinlegte.

Besprochen werden das neue Album von Muse ("eine wüste Anhäufung abgegriffener Riffs mit Elton-John-Piano und aufwühlenden Schlagwörtern", schreibt Karl Fluch im Standard), ein Salzburger Konzert der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko (Standard), ein Auftritt von Anne-Sophie Mutter beim Lucerne Festival (NZZ), Marcus Kings Album "Young Blood" (Presse), Friederike Bernhardts neues, unter den Pseudonym Moritz Fasbender veröffentlichtes Album "13 Rabbits" (Tsp), das neue Album von Eyedress (ZeitOnline), ein Konzert des Countertenors Philippe Jaroussky mit dem Gitarristen Thibaut Garcia in Wiesbaden (FR) und neue Popveröffentlichungen, darunter das Debüt der Retro-Soul-Band Thee Sacred Souls (Standard).

Archiv: Musik