Efeu - Die Kulturrundschau

Bis zum Ende ein Mensch

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03.09.2022. In der Literarischen Welt erzählt Jonathan Littell von seiner Reise durch die Ukraine: Es war auch der Hass aufs bessere Leben, der die russischen Invasoren zur Raserei trieb. Der Tagesspiegel lauscht gebannt, wenn Frederick Wiseman Schauspielerin Nathalie Boutefeu in Venedig aus den Tagebüchern von Sofia Tolstoi vorlesen lässt. Die SZ kriecht mit Thomas Krupa und Marlen Haushofer in Essen in ein Tiny House, die FAZ träumt vom eigenen Mini-Haus mit Garten. Und die taz taucht mit Geisterstimmen von Cuco gleich ganz ab in eine melancholische Traumwelt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.09.2022 finden Sie hier

Film

Frappierend zeitlos: Nathalie Boutefeu in Frederick Wisemans "A Couple"

Der große Dokumentarfilmer Frederick Wiseman ist auch im Alter von 92 Jahren noch für Überraschungen gut: Mit "A Couple" hat er erstmals einen Spielfilm gedreht, anders als seine oft ausufernden Dokumentarfilme ist er knackige 64 Minuten lang und zum ersten Mal hat er es damit auch in den Wettbewerb der Filmfestspiele in Venedig geschafft. Die Schauspielerin Nathalie Boutefeu liest darin an der bretonischen Küste aus den Tagebüchern von Sofia Tolstoi vor, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Sie schreibt über ihr Unglück, zur Rolle der Ehefrau des russischen Großschriftstellers und Mutter von dreizehn Kindern verdammt zu sein, seinen Unmut über ihre Versuche, Autonomie einzufordern, seine Eifersucht und ihre zunehmend schwankenden Gefühle. "A Couple" nimmt dabei konsequent die Perspektive einer Frau ein, die jung geheiratet hat und nun nach ihrer Stimme sucht. Der Films wirkt in seiner Konzentration auf Boutefeus Gesicht und dank Tolstois Text frappierend zeitlos. Es ist auch das erste Mal, dass Wiseman eine gesellschaftliche Institution, in diesem Fall die Ehe, von einer historischen Warte aus betrachtet - und dabei ein genauso präzises und emphatisches Bild entwirft wie in seinen mehrstündigen Dokumentarfilmen." Aus Venedig besprochen werden außerdem neue Filme von Bobi Wine und Alejandro González Iñárritu (Artechock) sowie von Luca Guadagnino (FAZ).

Der Spiegel berichtet (hinter einer Paywall) von seinen Recherchen, nach denen Ulrich Seidl beim Dreh in Rumänien seines neuen Films, des Pädophilendramas "Sparta", "Kinder ohne ausreichende Vorbereitung und Betreuung mit Szenen rund um Alkoholismus, Gewalt und Nacktheit konfrontiert" haben soll, wie die Agenturen zusammenfassen. "Außerdem sollen Regeln zur Arbeit mit Kindern nicht eingehalten worden sein" und den Laiendarstellern nicht transparent genug vermittelt worden sein, was die Thematik des Films ist. Auch die Polizei vor Ort soll wegen Gewalt gegen Kinder ermittelt haben. Weitere Hintergründe liefert Katharina Rustler im Standard. Der Regisseur selbst hat bereits eine Stellungnahme veröffentlicht: "Anders als im Spiegel behauptet, habe ich auch in vielen Einzelgesprächen gemeinsam mit einer Übersetzerin die Eltern vor den Dreharbeiten über alle wesentlichen Inhalte des Films unterrichtet. ... Es ist kein Kind nackt oder in einer sexualisierten Situation, Pose oder Kontext gedreht worden. Solche Szenen waren niemals meine Intention und wurden auch nicht gedreht."

Außerdem: Isabella Caldart untersucht für die taz die Gründe den Abo-Schwund, unter dem Netflix gerade leidet. Die Produzenten der neuen (in der Zeit besprochenen) Amazon-Fantasyserie "Die Ringe der Macht" plaudern in der FAZ darüber, wie sie Tolkiens Erzähluniversum erneut zum Leben erweckt haben. Nachdem das Copyright zu "Pu der Bär" ausgelaufen ist, erlebt der Knuffelbär ein Comeback in einem Horrorfilm, staunt Karl Fluch im Standard. In der morgen erscheinenden Literarischen Welt erinnert sich Georg Stefan Troller an seine Begegnung mit Roman Polanski.

Besprochen werden Werner Herzogs Memoiren "Jeder für sich und Gott gegen alle" (Tsp), Max Linz' "L'Etat et moi" mit Sophie Rois (Tsp), Laurent Larivières "Die Zeit, die wir teilen" mit Isabelle Huppert und Lars Eidinger (SZ), George Millers "Three Thousand Years of Longing" mit Tilda Swinton und Idris Elba (SZ), die dritte Staffel von Lars von Triers "Hospital der Geister" (NZZ, taz, mehr dazu hier) und Dan Trachtenbergs Horrorfilm "Prey" (Standard).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus Anna Karenina. Bild: Moritz Schell

Nachtkritikerin
Andrea Heinz wird nicht recht warm mit Amelie Niermeyers Inszenierung von Armin Petras' Theaterfassung von Tolstois "Anna Karenina" am Wiener Theater an der Josefstadt. Spielerisch mag die Inszenierung auf Schlittschuhen sein, aber es wird einfach zu viel gesprochen, seufzt sie: "Da scheint zu vieles, das Regisseurin Niermeyer unbedingt noch unterkriegen und erzählen wollte, Lewins religionsphilosophische Überlegungen etwa. Man hat vollstes Verständnis dafür, nur fehlt dem Abend dadurch eben Stringenz, eine Linie." Zu "simpel" ist Niermeyers Weltbetrachtung, zu "gestrig" die Übertragung in die Gegenwart, stöhnt auch Standard-Kritiker Uwe Mattheiß: "Theater wird an diesem Abend einmal mehr zur Nivellieranstalt. Auf der Suche nach dem vermeintlichen Kern einer allgemeinmenschlichen Wahrheit verheddert sich die totgelaufene Idee der Interpretation darin, jedweden Stoff auf den Horizont wohlfeiler Alltagserfahrungen 'herunterzubrechen'. In der geschichtsvergessenen Verblendung des Gegenwärtigen verlieren die Kunstwerke ihren utopischen Gehalt."

Filmstill aus "Die Wand"

Nicht nur in ein Tiny House, nein direkt in die Psyche der Heldin aus Marlen Haushofers "Die Wand" blickt Christiane Lutz (SZ) mit Thomas Krupas Virtual-Reality-Inszenierung am Schauspiel Essen. Ein "Theater-Wunderwerk", jubelt sie: "Wenn auch deutlich sparsamer dosiert als im Roman, lässt diese Inszenierung immer wieder Momente des Innehaltens zu, das Staunen über die Natur, den unbedingten, fast rührenden Willen der Dinge zu leben. Immer mehr werden Frau und Haus in dieser Inszenierung verschlungen von der Natur, bis alle Grenzen verschwimmen. Im Buch hingegen bleibt die Frau bis zum Ende ein Mensch, der zwar über seine Rolle in der Natur reflektiert und nach ihren Regeln lebt, aber nicht in ihr verschwindet."

Besprochen werden Trajal Harrells Tanzstück "The Köln Concert", das die Wiesbaden Biennale eröffnet (FR) und Jan Bosses Inszenierung von Shakespeares "Der Sturm", die zunächst bei den Bregenzer Festspielen und nun am Deutschen Theater in Berlin gezeigt wird (Tagesspiegel, FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Jonathan Litell erzählt auf mehreren Seiten der morgen der WamS beiliegenden Literarischen Welt von seiner Reise von Kiew nach Butscha, wo sich der Schriftsteller selbst ein Bild der fassungslos machenden Gräueltaten macht. Für die größten Exzesse ist wohl eine Einheit verantwortlich zu machen, die sich aus Sibirien und dort aus den ärmsten Bevölkerungsschichten rekrutiert. "Eher als durch ideologischen Hass auf die sogenannten ukrainischen 'Nazis' wurden die Invasoren aus dem Kiewer Gebiet offenbar durch klassenbedingte Ressentiments zur Raserei getrieben. Anatoli Fedoruk, der Bürgermeister von Butscha, berichtete mir von den Worten eines russischen Soldaten, der seine Mutter oder Frau anrief: 'Kannst du dir das vorstellen? Sie haben warmes Wasser in den Häusern und Keramiktoiletten!' Dass die Straßen in den Dörfern asphaltiert waren, erschien ihnen unverständlich. In einem Online-Video sieht man, wie ein russischer Soldat einen Kühlschrank öffnet und ruft: 'Oh, Nutella! Verdammt, die haben keine Hemmungen.' Ein Satz, der unter den Einheimischen kursiert und den ich mehrfach gehört habe, fasst diese Stimmung zusammen: 'A kto wam razrechil zhit tak chorocho? Wer hat euch die Erlaubnis gegeben, so gut zu leben?'"

Wenn der Germanist Philipp Theison ein Buch namens "Einführung in die außerirdische Literatur" schreibt, dann handelt es sich dabei erstaunlicherweise um keine Abhandlung über Science-Fiction, sagt er im Gespräch mit der Literarischen Welt. Science-Fiction ist für ihn in erster Linie ein Erzählverfahren, das etwa im Weltall lediglich ein nützliches Werkzeug findet. "Extraterrestrische Literatur beschreibt hingegen aus meiner Sicht ein Medium innerhalb eines Machtverhältnisses, und zwar des Machtverhältnisses zwischen dem Weltraum und der Erde." So kommt "extraterrestrische Literatur" für ihn auch "gar nicht von der Erde", denn "in dem Moment, in dem es uns zur unabweislichen Gewissheit wird, dass der Raum außerhalb der Erde als ein Lebensraum vorgestellt werden kann und muss (...) wird unser Denken von einem außerirdischen Bewusstsein umspült. ... Das All ist uns ein unbewusster Begleiter, eine Souffleuse, die unser Tun kommentiert und fortwährend zu uns spricht. Und ich glaube, unter diesen Bedingungen zu schreiben ist grundsätzlich etwas anderes, als in einem Medienszenario zu schreiben, in dem die Sterne einfach göttliche Zeichen sind."

Außerdem: In der NZZ setzt der Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. In Irland spricht man mit Blick auf die Romane von Sally Rooney, Naoise Dolan, Megan Nolan und Louise Nealon bereits als "Trin-Lit" - und bezeichnet damit den Umstand, dass alle vier Schriftstellerinnen auf dem Trinity College Dublin waren und aus einer ähnlichen Motivlage (Frauen zwischen 20 und 30, Alkohol, die falschen Männer) schöpfen, schreibt Elena Lynch in der NZZ. Die Berliner Moderatorin und Autorin Shelly Kupferberg erzählt in der taz die Geschichte ihres jüdischen Urgroßonkels Isidor Geller, der als reicher Kommerzialrat in Wien von den Nazis gefoltert und ausgeraubt wurde und über den sie eben ein Buch geschrieben hat. In der taz spricht Michel Friedman über seine Memoiren, die er gerade veröffentlicht hat. Benedict Neff holt in der NZZ den Schriftsteller Soma Morgenstern aus dem Schatten seines langjährigen Freundes Joseph Roth. Das Literarische Leben der FAZ dokumentiert Tilman Allerts Abschiedsvorlesung als Soziologe.

Besprochen werden unter anderem Gabriele Riedles "In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg" (Standard), Julia Frieses "MTTR" (taz), Norbert Scheuers "Mutabor" (SZ), J.K. Rowlings Krimi "The Ink Black Heart" (NZZ), Taiyō Matsumotos Manga "Ping Pong" (Tsp), Lauren Groffs "Matrix" (Literarische Welt) und Kristina Gorcheva-Newberrys "Das Leben vor uns" (FAZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Bild: Moritz Bernoully

Einer Studie zufolge haben die Landgemeinden seit 2020 knapp zwei Drittel an Einwohnern dazu gewonnen, weiß Niklas Maak in der FAS. Und nach dem Besuch der Ausstellung "Schön hier. Architektur auf dem Land", die das Frankfurter Architekturmuseum im Museumsdorf des Hessenparks zeigt, versteht er auch weshalb: Im Katalog "zu sehen sind aufregend renovierte alte und neu aus Holz gebaute Häuser, in denen auch Großfamilien und Wohngemeinschaften leben und arbeiten können wie im bretonischen Erdeven; intelligent wiederbelebte Dorfkerne wie der des schweizerischen Dorfs Cressier, wo LVPH Architekten den verstreuten Häusern ein neues Zentrum implantiert haben, das die Lebendigkeit alter Dorfplätze zurückbringen soll. Die hochverdichtet gebauten Dorfhäuser im französischen Dorf Batilly, wo die Alten nicht ins Heim abgeschoben werden, sondern jeder in einem eigenen Mini-Haus mit Garten betreut wird."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Landflucht

Kunst

Die Berliner Zeitung veröffentlicht eine Stellungnahme des Galeristen Johann König zu den Missbrauchsanschuldigungen der Zeit. (Unsere Resümees) Ein Gespräch mit ihm sei von den AutorInnen abrupt beendet worden, zur Freigabe der Zitate sei ihm nur eine Stunde eingeräumt worden, schreibt er. Eine Strafanzeige gegen ihn habe es entgegen der Behauptung nie gegeben. Seine "ausschweifende und impulsive Art zu feiern, zu tanzen und zu sprechen", hätte dazu führen können, "dass sich Frauen oder auch Männer von mir bedrängt gefühlt" hätten. "Was ich jedoch sicher weiß, ist, dass ich in diesen Momenten niemals absichtsvoll handelte (...)." In der FAZ gratuliert Stefan Trinks dem Berliner Extremkünstler Wolfgang Flatz zum Siebzigsten.

Besprochen werden Julian Rosefeldt Filminstallation "Euphoria" auf der Ruhrtriennale (FAZ) und
 die Donatello-Ausstellung in der Berliner Gemäldegalerie (FAS).
Archiv: Kunst

Musik

Detlef Diederichsen von der taz schwelgt im neuen Album "Fantasy Gateway" von Cuco: "'We will go where no one has gone / where the dreamworld and purgatory cross', verkündet eine Geisterstimme im Opener 'Heaven Is Lucid Dreaming'. Diese Traumwelt wird bestimmt von einer Sehnsucht nach einem 'Universum, das sich etwas leichter anfühlt und etwas wehmütig', wie er Pitchfork erzählte. Er beschwört Melancholie und eine Nostalgie 'nach etwas, woran man sich erinnert, was aber erst in der Zukunft passiert'. Zugleich setzt er sich dort mit den Depressionen und Angstzuständen auseinander, die ihn regelmäßig heimsuchen. ... Ein feines Hin- und Herschwanken zwischen Düsterkeit und Hoffnung charakterisiert die Texte, während sich die Musik zwischen Erfindungsreichtum, hoher Sophistication und offener Sentimentalität bewegt."



Weiteres: Lotte Thaler berichtet in der FAZ vom Carl-Nielsen-Festival in Dänemark, wo unter anderem Daniil Trifonov auftrat. Daniel Gerhardt verabschiedet sich auf ZeitOnline von der Hiphop-Combo Fettes Brot, die ihre Auflösung bekanntgegeben hat. Besprochen wird eine Berliner Aufführung von Florence Price' erster Sinfonie durch das Philadelphia Orchestra unter Yannick Nézet-Séguin (Tsp).
Archiv: Musik