Efeu - Die Kulturrundschau

Endzeit und Angstpotenzial allenthalben

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12.09.2022. Nicht gerade überzeugt sind die Kritiker vom Goldenen Löwen für Laura Poitras' Dokumentation über Nan Goldins Kampf gegen den Pharmahersteller Purdue. Die FR freut sich dagegen: Poitras verfolge nicht nur eine politische, sondern auch eine künstlerische Ethik. Die SZ bereitet sich mit Robert Wilson in Hamburg auf den Weltuntergang vor, die FAZ lassen dagegen Formwillen und Unvernunft ausnahmsweise kalt. Alle trauern um den spanischen Schriftsteller Javier Marías, mit dem komplexe Romane wieder populär  wurden.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.09.2022 finden Sie hier

Film

Politische und künstlerische Ethik nahe beisammen: "All the Beauty and the Bloodshed" von Laura Poitras

Die Filmfestspiele Venedig enden mit einem Goldenen Löwen für Laura Poitras Dokumentarfilm "All the Beauty and the Bloodshed" über den Kampf der US-Künstlerin Nan Goldin gegen den Pharmahersteller Sackler, der mit seinem Oxycontin-Schmerzmittel Millionen Menschen süchtig gemacht und etwa eine halbe Million auf dem Gewissen hat. Damit hatte niemand gerechnet, schreibt Hanns-Georg Rodek in der Welt - auch damit nicht, dass der Kritikerfavorit "Love Life" von Koji Fukada komplett leer ausgehen würde. Auch Rüdiger Suchsland staunt auf Artechock über diesen Löwen, wo doch sämtliche Kritiker andere Filme auf der Liste hatten. Aber "keine Überraschung war dieser Preis auf der anderen Seite, weil er sich allzu sehr in den engen Bahnen politischer Korrektheit bewegt." Patrick Wellinski vom Dlf Kultur sieht ebenfalls vor allem eine politische Würdigung - bei einem Kunstfestival komme die Kunst zu kurz, wenn sie einen Dokumentarfilm auszeichnet, findet er. Auch die übrigen Juryentscheidungen hält er für populär, aber mutlos - und vor allem sehr am englischsprachigen Kino entlang gedacht.

In der FR widerspricht ein alles in allem sehr zufriedener Daniel Kothenschulte: "Seine künstlerische Qualität offenbart dieser formal unauffällige Dokumentarfilm dabei auf den zweiten Blick - in einer Montage, die Kunst und Politik bruchlos in einem erzählt. Politische und künstlerische Ethik sind für Poitras nicht zu trennen." Auch freut er sich über eine Auszeichnung für Luca Guadagninos Kannibalenromanze "Bones and All": "Filme, die auf kunstvolle Weise Genrekonventionen weiterschreiben, sind selten und werden häufig übersehen. Es spricht für das Festival und seine Jury, dass Extreme gefunden und belohnt wurden - genau die braucht das Kino mehr denn je." Auch tazler Tim Caspar Boehme hält den Goldenen Löwen für Poitras für "eine gute Wahl bei ansonsten überschaubarer ernstzunehmender Konkurrenz". SZ-Kritiker Tobias Kniebe freut sich, dass bei all dem Elend, das der Wettbewerb in diesem Jahr umkreiste, mit Poitras' Film eine Erfolgsstory ausgezeichnet wird - dies erscheine "am Ende wie ein Aufbäumen, ein Gegenprogramm".

Im Wettbewerb gab es "Endzeit und Angstpotenzial allenthalben" zu erleben, berichtet Hans-Jürg Zinsli im Tagesanzeiger. Anke Leweke bespricht auf ZeitOnline Jafar Panahis mit einem Spezialpreis ausgezeichneten Film "No Bears" (mehr dazu hier), den der Regisseur noch vor seiner Verhaftung und erneut unter Umgehung seines Berufsverbotes gedreht und außer Landes gebracht hat. Weitere Resümees vom Festival schreiben Maria Wiesner (FAZ), Andreas Scheiner (NZZ) und Dominik Kamalzadeh (Standard).

Außerdem: Christoph Egger schreibt in der NZZ einen Nachruf auf den Regisseur Alain Tanner. Besprochen werden Ryūsuke Hamaguchis "Das Glücksrad" (Jungle World), die Netflix-Comicadaption "The Sandman" (Jungle World) und die Historienserie "The Serpent Queen" (FAZ).
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Literatur

Der spanische Schriftsteller Javier Marías ist gestorben. Literarisch liebte er "die hauchdünne Grenze zwischen Illusion und Wirklichkeit", ruft Michi Strausfeld in der NZZ in Erinnerung, "die diskreten Zwischentöne, er hatte eine Vorliebe für filigrane Andeutungen - und ihre Bedeutung erschließt sich oft erst nach mäandernden Ausführungen. Gerne beschrieb er Situationen, deren Konturen zwischen Licht und Schatten changieren, achtete dabei auf das präzis gewählte Wort und versuchte, dessen Musikalität einzufangen." Seiner Liebe zu "Proust verdanken wir vielleicht die Neigung zur Unterbrechung, zum Exkurs, zum Umweg und zur dezenten Assoziation. Manche seiner scheinbar uferlosen Sätze erstrecken sich über eine oder mehrere Seiten, aber immer gelingt es Marías, den Leser dank der Genauigkeit seiner Gedankenführung sicher ans Ende zu bringen. ... Er nimmt uns mühelos mit, so, als erkundeten wir gemeinsam mit dem Verfasser die verborgenen Winkel und Geheimnisse im Denken und Fühlen seiner Protagonisten."

Gerrit Bartels erinnert im Tagesspiegel daran, wie Marcel Reich-Ranicki Marías seinerzeit im Literarischen Quartett hierzulande schlagartig ins literarische Bewusstsein holte und im Anschluss geradezu eine Marías-Manie ausbrach: "Mein Herz so weiß" stürmte alle Bestsellerlisten. "Endlich hatte man wieder jemand, der einem Eco literarisch das Wasser reichen, der erzählen konnte und trotzdem literarische Ansprüche nicht verriet." Auch Paul Ingendaay in der FAZ staunt über die Versessenheit, mit der sich seinerzeit alle auf Marías stürzten: "Plötzlich las alle Welt komplexe Romane voller Anspielungen, langer Satzperioden, düsterer Reflexionen und kühner Gedankenabenteuer, in denen es um alte Rechnungen, tote Frauen und immer wieder um klingende Shakespeare-Zeilen ging. ... Die Eigenwilligkeiten des Erzählers Marías ließen sich bis in seine Gewohnheiten und Schrullen zurückverfolgen: Er hasste soziale Kontrolle, ungebetene Störung und neue Technologien. Deshalb mochte er sich von seiner elektrischen Schreibmaschine nicht trennen, auf der er alle seine Bücher schrieb, wie rasend und besinnungslos sich die Welt um ihn herum auch digitalisierte."

Außerdem: Die FAS spricht mit Edouard Louis über dessen neues Buch "Anleitung ein anderer zu werden". Der Schriftsteller Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Michel Friedman hat im Berliner Ensemble seine Memoiren "Fremd" vorgestellt, berichtet Katharina Teutsch in der FAZ. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Marc Reichwein daran, wie Martin Walser einmal seinem im Zug vergessenen Tagebuch hinterher jagte. In der SZ erinnert sich der Schriftsteller Wolf Wondratschek an seine schlimmste Lesung.

Besprochen werden unter anderem Jennifer Egans "Candy Haus" (Standard), Heinz Helles "Wellen" (Dlf Kultur), Alain Claude Sulzers Goncourt-Roman "Doppelleben" (Zeit), Nicolás Gómez Dávilas "Notas" (FR), Frank Flöthmanns Comic "Helden ohne Worte" (Tsp) und Dirk von Petersdoffs Novelle "Gewittergäste" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Joachim Sartorius über Gu Chengs "Natur":

"Ich mag eine lange Lanze im Flug
Die zehntausend Blätter an einem Baum
..."
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Bühne

Formalismus deluxe: Robert Wilsons "100 seconds to midnight". Foto: Lucie Jansch / Thalia Theater

Erhabene, aber auch sehr düstere Momente erlebte SZ-Kritiker Till Briegleb mit Robert Wilsons Inszenierung "H - 100 seconds to midnight" am Hamburger Thalia Theater, wo der amerikanische Regisseur mit Stephen Hawking, der libanesischen Dichterin Etel Adnan und Walter Benjamins Engel der Geschichte in den Weltuntergang reiste: "Wilson gestaltet spartanische architektonische Bilder und kalte Lichtstimmungen um die fünf Schauspielerinnen und Schauspieler, die das schwarze Drama der Menschheit nicht als Tragödie geben, sondern als stoische Erwartung des Unvermeidlichen." In der FAZ gibt Simon Strauß zu, dass auch er hingerissen ist von Wilsons unbedingtem Formwillen, Unvernunft und Bedingungslosigkeit. Trotzdem lassen ihn diese exakt ausgearbeiten Traumwelten kalt, wie er schreibt: "Denn wen Wilson nicht als Bedingung seiner Kunst anerkennt, sind die Schauspieler. Stets richtet er sie sich auf die gleiche Art und Weise her, weist ihre Individualität zurück und macht sie zu seinen Typen. Nicht sie selbst wirken dann auf der Bühne, sondern ihre Schminke, ihre Haltung, ihre abrupten Roboterbewegungen. Selbst ein so großartiger Einzelgängerspieler wie Jens Harzer kann sich dagegen an diesem Hamburger Abend nicht zur Wehr setzen - er wirkt trotz wunderbarer Szenen als tänzelnder Conférencier oder mokanter Witzeerzähler wie eine aufgezogene Puppe. Sein sonst so lebenskluger Manierismus wird hier durch Wilsons Stilregie fast schon karikiert."

Berührt berichtet Patrick Wildermann im Tagesspiegel vom ukrainischen Theaterabend "Sich waffnend gegen eine See von Plagen", mit dem der Regisseur Stas Zhyrkov und der Dramatiker Pavlo Arie an der Schaubühne die Schrecken des des Krieges erfahrbar machen wollen: "Rund zehn Interviews haben Zhyrkov und Arie geführt und eine handvoll davon zu schlaglichtartigen Erzählungen vom Wahnsinn des Krieges verdichtet. Das Stück soll nicht einfach dokumentarisch sein, sagt Arie. Was er sich wünscht, ist ein 'Theater der Zeugen'. Einer der Interviewten, Wowa Kovbel, bekennt einmal: 'Keine Angst habe nur Dumme und Verrückte… oder Tote.'" Nachtkritikerin Esther Slevogt bemerkt anerkennend, wie tief sich dieser Abend in "die emotionalen Gemengelagen und inneren Abgründe hereinwühlt, die dieser Krieg, seine Umstände, aber auch seine Propaganda auslösen, von Zynismus bis zu ohnmächtiger Verzweiflung."

Besprochen werden Luk Percevals Inszenierung von Feuchtwangers antifaschistischen Roman "Exil" am Berliner Ensemble (SZ, Tsp, Nachtkritik), Trajal Harrells Version von Federico Garcia Lorcas Stück "Bernarda Albas Haus", in der der amerikanische Choreograf Bernardas Töchter durchs Haus Dior voguen lässt (FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster ist überwältigt von der Extravaganz der Kostüme und der "Bewegungsbrillanz der durchweg charaismatischen Mitwirkenden", NZZ), Łukasz Twarkowskis bei der Ruhrtriennale gezeigte Mockumentary "Respublica" über eine Aussteiger-Community, die mit Raves in den litauischen Wäldern Glück und Miteinander sucht (taz), Nicolas Stemanns Inszenierung von Sophokles' "Ödipus Tyrann" am Zürcher Schauspielhaus (Nachtkritik), Johan Simons Inszenierung von Euripides' "Alkestis" am Schauspielhaus Bochumn (Nachtkritik) und Davide Enias Monolog "Finsternis" mit dem Freien Schauspiel Ensemble Frankfurt (FR).
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Kunst

"Und nun?" fragt Judith von Sternburg in der FR, nachdem das Expertengremium unter der Leitung von Nicole Deitelhoff der Documenta amtlich attestiert hat, nicht nur antisemitische oder antiisraelische Werke gezeigt, sondern auch keinen angemessenen Umgang mit problematischen Werken gefunden zu haben. Vor allem empfehlt die Kommission, den propalästinensischen Agitpropfilm "Tokyo Reels Film Festival" nicht mehr zu zeigen (ihre beiden Erklärungen  hier und hier). Ruangrupa hat auch schon im Namen der Lumbung-Gemeinde geantwortet. In der FAZ weiß Stefan Trinks zu schätzen, dass die kolossalen Shoma-Skulpturen aus Simbabwe im Schlosspark von Schwetzingen keinen Dialog der Kulturen einfordern, sondern einfach fremd bleiben. In der SZ erzählt Michael Moorstedt, dass auf einer Kunstmesse in Colorado erstmals ein von KI erstelltes Bild einen Kunstwettbewerb gewonnen hat.
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Musik

Im Standard plaudert Robbie Williams über sein neues Album "XXV", das allerdings nur Neuaufnahmen alter Hits liefert. Besprochen werden ein Konzert von Andris Nelsons mit seinem Gewandhausorchester beim Musikfest Berlin (Tsp), ein Konzert der Berliner Philharmoniker mit dem Geiger Pekka Kuusisto unter dem Taktstock des Komponisten Thomas Adès (Tsp), das neue Album von Sampa the Great (Tsp, mehr dazu bereits hier), ein Auftritt von Peter Maffay (FAZ, FR), neue, von Jordi Savall und Yannick Nézet-Séguin dirigierte Beethoven-Aufnahmen (FAZ) und Maggie Rogers' "Surrender" (taz).

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