Efeu - Die Kulturrundschau

Nass in nass mit groben Pinselstrichen

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13.09.2022. Le Monde und Libération trauern um William Klein, den französischsten aller amerikanischen Fotografen. Die FAZ nimmt freudig die Herausforderung an, die die australische Künstlerin Sally Gabori für ihr Weltverständnis bedeutet. In der Welt berichten Reza Heydari und Mina Kavani von den Dreharbeiten zu Jafar Panahis neuestem Film unter klandestinen Bedingungen an der türkisch-iranischen Grenze. Ausgerechnet im ND schwelgt Berthold Seliger mit Franz Welser-Möst Schubert-Glanz: Die Oboe wie von einem anderen Stern!   
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.09.2022 finden Sie hier

Kunst

William Klein ist tot. Libération trauert um den französischsten aller amerikanischen Fotografen, der in den fünfziger Jahren in Paris den Faustschlag in die Kunst einführte und dort nun im Alter von 96 Jahren gestorben ist. Die Zeitung bringt auch eine eindrückliche Bilderstrecke. In Le Monde erinnert Claire Guillot an Kleins legendären Band "Life is Good & Good for You in New York": "Das 1956, zwei Jahre vor Robert Franks 'The Americans' erschienene Buch wirkte wie der blanke Hohn auf die Tradition der Reportage, der Dokumentarfotografie und der klassischen Kunstfotografie: William Klein sammelte unscharfe, abgeschnittene Bilder, er zeigte Menschen, die aus dem Bild geschnitten oder gequetscht wurden, häufte auf den Seiten Wörter und Werbereklamen an und zeichnete das ätzende Porträt einer vom Konsumwahn ergriffenen Stadt. Kleins freier und rauer Stil erregte Aufsehen und wurde überall kopiert, doch der Fotograf ruhte sich nie auf seinen Lorbeeren aus: Er wechselte von der Straßenfotografie zur Mode und dann zum Kino mit offen politischen Filmen. Er zögerte nicht, sein Werk zu überarbeiten, zu übermalen, seine Bilder maßlos zu vergrößern oder spektakuläre Hängungen zu erfinden."

Sally Gabori: Dulka Warngiid, 2007. Bild: Fondation Cartier

Zwei Schauen in Berlin und Paris befassen sich gerade mit der Kunst der australischen Aborigines: Das Humboldt-Forum folgt den berühmten "Songlines", den Traumpfaden, die Fondation Cartier stellt das Werk der Künstlerin Sally Gabori aus. In der FAZ ist Ursula Scheer von beiden Ausstellungen gleichermaßen überwältigt, die ihr eine Ahnung vermitteln, dass sich die Welt auch ganz anders deuten lässt: Zu Gabori schreibt sie: "Der Reiz ihrer Kunst wird im Kontext postkolonialer Debatten, durchaus auch der verklärenden Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und Gegendiskursen, nur größer: In Gaboris Bildern entfaltet sich selbstbewusst die visuelle Erzählung einer zuvor als vermeintlich unzivilisiert Entrechteten und Marginalisierten... Ihre Bilder stehen für die Unterdrückungsgeschichte der australischen Ureinwohner, weisen aber nicht zuletzt durch ihre Rezeptionsgeschichte darüber hinaus Richtung Anerkennung und Versöhnung. Das Kolorit strahlt Optimismus aus. Doch die abstrakten, nass in nass mit groben Pinselstrichen angelegten, ineinandergreifenden Farbflächen fordern das westliche Verständnis von Bild, Darstellung und Repräsentation heraus. Gaboris Gemälde sind Vergegenwärtigung der verlorenen Heimat, mythischen Geschehens und Porträts geliebter Menschen zugleich."

In der SZ liest Nils Minkmar fassungslos, mit welcher aggressiven Weinerlichkeit das Kuratorenkollektiv der Documenta auf die Befunde des Expertengremiums regaiert, das den problematischen Umgang der Kunstschau mit antisemitischen Werken und Stimmungen vorwirft (sie sehen sich als Opfer von Rassismus und Ignoranz, mehr hier): "Nicht die Juden, die in der wichtigsten deutschen Kunstschau monatelang als Aggressoren und Übeltäter dargestellt und diffamiert werden, sind also die Leidtragenden, sondern jene, denen man nahelegt, weniger zu hassen und zu diffamieren." Auch in der FAZ liest Claudius Seidl den Antwortbrief von Ruangrupa et al. wie eine Bestätigung der Vorwürfe, die das Expertengrium den Documenta-Kuratoren macht.

Weiteres: Juliane Liebert ist in der SZ zwar nicht überzeugt von der Kunst, mit der Pete Doherty in Berlin aufschlug und die sie an die Reimerei mit Kühlschrankmagneten erinnert, aber sein neuer Lebensstil geht für sie völlig in Ordnung: Lieber ein strahlender Dicker als schlecht gelaunter Heroin Chic. Nicola Kuhn blickt im Tagesspiegel auf die Berlin Art Week voraus, die mit gleich drei Ausstellungen die Londoner Bildhauerin Mona Hatoum würdigen wird. Dass die Schau auch den gefährdeten Uferhallten ihre Solidarität bekundet, freut Kuhn.

Besprochen werden die Retrospektive zu Niki den Saint Phalle im Kunsthaus Zürich (SZ) und die Ausstellung "Islam in Europa 1000-1250" im Dommuseum Hildesheim (taz).
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Film

Die Ahnung von Gefahr: "No Bears" von Jafar Panahi

Peter Beddies spricht in der Welt mit Reza Heydari und Mina Kavani, den beiden Hauptdarstellern aus Jafar Panahis neuem Film "No Bears", den der iranische Regisseur noch vor seiner Verhaftung unter klandestinen Bedingungen gedreht und außer Landes gebracht hat und der nun beim Filmfestival in Venedig mit einem Spezialpreis ausgezeichnet wurde. Der Film spielt im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Iran: "Wir wussten immer, dass die Behörden kommen könnten und uns von dort verjagen", erzählt Heydari - tatsächlich kam nach wenigen Tagen die Polizei. Überhaupt gab es ständig die Ahnung von Gefahr: "Im Film gibt es Szenen, die wir genau auf der Grenze zwischen der Türkei und Iran gedreht haben. Die spielen mitten in der Nacht. Wir sind zu dieser Stelle mit dem Auto gefahren. Die Beleuchtung hatten wir ausgeschaltet, um nicht entdeckt zu werden. Beim Drehen haben wir nur das Mondlicht benutzt. Auf einmal blitzte es von irgendwo her. Wir hatten keine Ahnung, was das war und sind sofort in Deckung gegangen."

Der Wettbewerb von Venedig wirkte mit seinem Fokus aufs englischsprachige Kino "monolithisch-einseitiger denn je", stellt Olaf Möller in seinem Festival-Fazit für den Filmdienst fest (weitere Festivaleinschätzungen hier) und tröstete sich darüber bei den Filmen "außer Konkurrenz" hinweg: Bei denen "ist alles möglich" und diese zu sehen, "fühlte sich ein wenig so an, als würde man das Kino noch einmal wiederentdecken. War der Wettbewerb voller Filme, die wie Ich-AGs dauernd ihre eigene "Bedeutung" und "Originalität" zur Schau stellen und ihre "Relevanz" behaupten mussten, die sich also zum "Ereignis" stilisierten, wirkte "Außer Konkurrenz" als Ganzes wie ein Kosmos, der sich niemandem beweisen muss und wo die mit der heißen Nadel gestrickte Propaganda ähnlich bescheiden daherkam wie die geduldig über die Jahre als Vermächtnis geschaffene Avantgarde. Das Kino war bei sich und mit dem Publikum." Außerdem blickt Thomas Abeltshauser im Freitag auf das Filmfestival Venedig zurück.

Weiteres: Jürg Zbinden resümiert in der NZZ die Verleihung der Emmy Awards. In der NZZ interessiert sich Nadine A. Brügger dafür, wie sich alle Welt für das Baby der Schauspielerin Jennifer Lawrence interessiert.
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Bühne

Lola Arias: "Mother Tongue". Foto: Ute Langkafel / Gorki-Theater

Eine Pionierarbeit sieht Nachtkritikerin Christine Wahl im Rechercheabend "Mother Tongue", mit dem Regisseurin Lola Arias' neue Lebens- und Familienmodelle auffächert. In der taz goutiert Katrin Bettina Müller das Stück über Coparenting, Kinderwunsch, queere Familienformen zunächst als "Enzyklopädie der Reproduktion im einundzwanzigsten Jahrhundert", findet die aufgezeigte Utopie am Ende aber doch etwas fragwürdig: "von Elternschaften, die auf Kollektive von mindestens zehn Menschen verteilt werden sollen. Von Samenspenden und Eizellen, die in allen zugänglichen Banken lagern. Das erinnerte dann doch eher an Science-Fiction-Szenarien, in denen die Kontrolle der Reproduktion der Anfang des Totalitarismus ist."

Weiteres: Im Standard plaudern Daniel Kehlmann und Martin Kusej über die anstehende Bühnenpremiere von Daniel Brühls Film "Nebenan" am Burgtheater.

Besprochen werden Nicolas Stemanns Inszenierung von Sophokles' "Oedipus" (deren "eleganten Minimalismus" Ueli Bernays in der NZZ zu schätzen weiß), das Kriegsstück "Sich waffnend gegen eine See von Plagen" an der Berliner Schaubühne (SZ), Lola Arias' "Mother Tongue" im Gorki Theater (taz), Luk Percevals Feuchtwanger-Adaption "Exil" am Berliner Ensemble (FAZ).
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Literatur

Nein, nicht weil Salman Rushdie ein "postmoderner Held der Meinungsfreiheit" ist, sollte die Schwedische Akademie ihn in diesem Jahr mit dem Literaturnobelpreis bedenken, sondern weil er darüber hinaus als Schriftsteller großartig ist, findet Mara Delius auf Welt+. "Rushdie eignet sich nicht für die offensichtliche einfache Rolle des erbitterten Kulturkämpfers. Weil er ein postkolonialer, multinationaler britisch-amerikanisch-indischer Autor muslimischen Hintergrunds ist. Vor allem aber, weil er Schriftsteller ist." Wer sein Frühwerk "wieder liest, dem begegnen postkoloniale bis antiimperialistische Topoi, Erzählstränge und Charaktere, die sich der Beurteilung nach heute populären Kategorien wie Identität oder auch der Verteidigung von Werten entziehen. ... Ihm für seine Lebensleistung in diesen Zeiten den Literaturnobelpreis zuzusprechen, wäre also ein gleich doppeltes Signal. Einerseits bedeutete es: Keiner, der schreibt, wird alleingelassen in dieser Welt und der Gemeinschaft der Schreibenden - nach der Fatwa weigerte sich die Schwedische Akademie noch, eindeutig Position zu beziehen. Andererseits hieße es: Literatur ist Literatur und keine Meinung, selbst da, wo sie die Freiheit verteidigt."

Außerdem: Nachrufe auf den spanischen Schriftsteller Javier Marias schreiben Reinhard J. Brembeck (SZ), Isabella Caldart (ZeitOnline), Dirk Knipphals (taz), Javier Cáceres (SZ), Andreas Kilb (FAZ) und Cornelia Geißler (FR) - weitere Nachrufe bereits hier. Der Schriftsteller Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw.

Besprochen werden unter anderem Lewis Trondheims Asterix-Parodie "Beim Teutates!" (Welt), Norbert Gstreins "Vier Tage, drei Nächte" (Standard), Juri Andruchowytschs "Radio Nacht" (Welt), Ilma Rakusas "Kein Tag ohne" (FR), Christoph Peters' "Der Sandkasten" (Tsp), Oliver Bottinis Polit-Thriller "Noch einmal sterben" (FR) und David Mitchells Popmusikroman "Utopia Avenue" (FAZ).
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Musik

Bei Netrebkos Comeback-Auftritten fand sich das Publikum nur zögerlich im Saal ein, die Reihen im Saal waren merklich gelichtet, beobachtet Axel Brüggemann in seinem Crescendo-Newsletter. "Ähnliche Fragen stellen sich auch bei Teodor Currentzis: Es mag sein, dass seine letzten Konzerte das Publikum begeisterten, das aber hat nichts mit der Frage zu tun, inwieweit staatlich subventionierte Einrichtungen und Ensembles es zulassen wollen, einen Propagandisten des Putin-Systems zu finanzieren. Es ist wichtig, hier zu trennen: zwischen musikalischem Können und politischer Orientierung. Und zu argumentieren, dass die politische Orientierung nichts mit der Musik zu tun habe, ist in diesen Fällen offensichtlich ein Trugschluss, denn die Kultur ist ein Hauptschauplatz des ideologischen Kampfes geworden, den wir gerade beobachten."

Völlig umgehauen kam ND-Kritiker Berthold Seliger vom Konzert des Cleveland Orchestras nach Hause, das beim Musikfest Berlin unter Franz Welser-Möst Rihm und Schubert gab (unser erstes Resümee). "Was für ein Glanz, den dieses Orchester immer noch und immer wieder ausstrahlt und welche Transparenz! Selten hat man Schuberts Sinfonie so transparent gehört, alle Stimmen wie bei einer Bach-Fuge hervorgehoben und gleichzeitig als Teil von etwas Größerem, Magischem. Wie viele kompositorische Details waren da plötzlich zu hören und zu verstehen - etwa die Gegenströmungen, mit denen die schier endlosen Schubertschen Themen in den Streichern bearbeitet werden. Die Blechbläser! Die Oboe wie von einem anderen Stern! Wie Welser-Möst die ländlerhaften Szenen geradezu 'weanerisch' auskostet, das Orchester dann aber im zweiten Satz furios auf den katastrophischen Höhepunkt zusteuert und die folgende Generalpause schier endlos ausweitet - man wagt kaum zu atmen." Und aufgemerkt: Nur noch heute kann man das Konzert in der Mediathek des Festivals sehen.

Außerdem: Die Agenturen melden, dass der wegen eines harmlosen Gags über den türkischen Popstar Gülşen verhängte Hausarrest (mehr dazu hier) unter Auflagen aufgehoben wurde. Weiterhin melden die Agenturen, dass der Jazzpianist Ramsey Lewis gestorben ist. Seinen großen Durchbruch hatte er mit einer Instrumentalversion des Motown-Songs "The 'In' Crowd":



Besprochen werden eine Aufführung von Mozarts letztem, Fragment gebliebenen Werk durch die Zürcher Sing-Akademie unter Florian Helgath (NZZ), ein von Vitali Alekseenok konzipierter Belarus- und Ukraine-Abend beim Beethovenfest in Bonn (FAZ) und ein Auftritt von Maximo Park (FR).
Archiv: Musik