Efeu - Die Kulturrundschau

Es ist ein Orchesterklang

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19.09.2022. Der Standard stellt vom Filmfestival San Sebastian klar, das Ulrich Seidls übel beleumundeter Film "Sparta" tatsächlich ein zutiefst humanistisches Werk und über jeden Zweifel erhaben sei.  Ebenfalls im Standard spricht Juri Andruchowytsch von Helden, Verführern und Verrätern der postsowjetischen Revolutionen. Auf ZeitOnline wirft die Historikerin Marion Detjen dem Expertengremium zur Documenta vor, mit vorgefertigten Meinungen gearbeitet zu haben. Akustikingenieur Renzo Vitale erklärt ihr, warum Geigen erklingen, wenn ein E-Auto beschleunigt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.09.2022 finden Sie hier

Film

Kein Täter werden: "Sparta" von Ulrich Seidl 

Das Filmfestival San Sebastián hat am Sonntag Ulrich Seidls Film "Sparta" vorgeführt. Der Spiegel hatte ihm im Vorfeld Missbrauch der rumänischen Kinderdarsteller vorgeworfen (unser Resümee). Zumindest das Publikum der Pressevorführung war begeistert, berichtet Rüdiger Suchsland im Standard. Wer auf einen Skandal gierte, weil der Film das heikle Thema "Pädophilie" verhandelt, wurde enttäuscht, stattdessen war ein tief humanistischer, von Provokationen freier Film über einen pädophilen Mann zu sehen, der Jungs in Judo trainiert. Seidl "zeigt keinerlei Missbrauchshandlung, eine solche wird auch nicht darin angedeutet. Die Figur des Ewald ist vielmehr einer jener Pädophilen, die ihren Trieb gegen alle Widerstände mit eigener Willensstärke im Zaum halten und eben nicht ausleben. Zugleich ist offenkundig, dass Pädophilie gar nicht im Zentrum des Films steht. 'Sparta' handelt vielmehr von der Gewalt der Väter. Das gilt für die rumänischen Väter der Buben, und Ewald ist hier der Einzige, der versucht, den zum Teil zu Hause misshandelten Kindern gegen ihre Familien zu helfen." Ein hervorragendes, Empathie schaffendes Radiofeature über die Lage pädophiler Menschen, die die Angst umtreibt, Täter zu werden, steht im übrigen beim Dlf bereit.

Weiteres: Für die NZZ konnte Andreas Scheiner erste Filmszenen aus dem nach 13 Jahren und vielen verschobenen Ankündigungen wohl wirklich diesen Dezember startenden "Avatar"-Sequel sehen, mit dem der Regisseur James Cameron mal wieder Blockbuster-Maßstäbe zu setzen verspricht: Doch "wenn aber alles täuschend echt simuliert werden kann, wen kümmert die Simulation dann noch?" Trotz Hollywood-Boykott kann das russische Publikum die neuesten Blockbuster aus den USA dank illegal synchronisierter Raubkopien dennoch im Kino sehen, berichtet Olga Lizunkova in der taz: Die Filme werden als Gratis-Dreingabe nach russischen Filmen gezeigt, die "so dank des 'Hollywood-Bonus' zu Kassenschlagern werden". Im Tagesspiegel gratuliert Christiane Peitz dem Filmhistoriker Ulrich Gregor zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden die Werner-Herzog-Ausstellung im Berliner Filmmuseum (Filmdienst), der Dokumentarfilm "Moonage Daydream" über David Bowie (online nachgereicht von der FAZ), der japanische Animationsfilm "The Deer King" von Masashi Ando und Masayuki Miyaji (taz), die RTL-Serie "Haus der Träume" (FAZ) und Leni Lauritschs österreichischer SF-Film "Rubikon" (Standard).
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Design

Christina Reitz unterhält sich für ZeitOnline mit dem Akustikingenieur Renzo Vitale, der gemeinsam mit dem Filmkomponisten Hans Zimmer den Sound der E-Autos von BMW gestaltet hat. Paradox am E-Auto ist ja, dass es sich eigentlich komplett still fort bewegen könnte, aber schon aus Sicherheitsgründen im Straßenverkehr hörbar sein muss. Auch im Innern will der Fahrer gerne hören, was die Technologie so tut: Daher hat Vitale "für das Wageninnere einen Beschleunigungssound kreiert, der tiefer wird. Es ist ein Orchesterklang. Erst hörst du nur eine weich gestrichene Geige, wenn du beschleunigst, öffnet sich der Sound, er wird mehrstimmig." Ohnehin will Vitale "Maskulinität anders interpretieren, will Eleganz auf die Straße bringen, nicht Prolligkeit. Wir Autofahrer bewohnen die Städte, aber sie gehören uns nicht. Wir sollten auf Zehenspitzen unterwegs sein. Die Stadtbewohner sind mit E-Autos noch nicht so vertraut - wie gewinnen wir denn ihr Vertrauen? Mit Höflichkeit."
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Stichwörter: Sound, E-Auto, Autofahren

Literatur

Im Standard spricht der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch über seinen neuen Roman "Radio Nacht", ein großes Geschichtsgemälde. Bei der - wegen Lockdown - stilecht im Radio gehaltenen Premiere des Buchs im Dezember 2020 gab es auch Nachfragen, berichtet der Autor: "Warum beschreiben Sie unsere Revolution, also den Euromaidan, als gescheiterte Revolution? Ich musste dann erklären, dass es zwar im Roman auch um eine Revolution geht, aber eben nicht um die unsere von 2013/14. Der Roman ist im Ganzen der Versuch einer Bilanz zu dem, was sich in den postsowjetischen Republiken in den vergangenen 30 Jahren abgespielt hat. Da gibt es eben 'vorletzte Diktatoren Europas', gescheiterte Revolutionen, gefallene Helden, Verführer und Verräter, Dissidenten, die ins Exil flüchten, Oppositionsgruppen, die sich untereinander bekriegen. Damit verbinden sich universelle Fragen von Liebe, Kunst, Tod und Freiheit und all dem, was Menschen eben ausmacht."

Außerdem: Der Schriftsteller Sergei Gerasimow setzt in der NZZ hier und dort sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Eva-Lena Lörzer hat für die taz die Schriftstellerin Christine Koschmieder besucht, die mit ihrem Roman "Dry" gerade ihren Entzug von der Alkoholsucht verarbeitet hat. Petra Ahre resümiert in der FAZ das Internationale Literaturfestival Berlin.

Besprochen werden unter anderem Abdulrazak Gurnahs "Nachleben" (online nachgereicht von der Zeit), Helene Bukowskis "Die Kriegerin" (Tsp), Volker Brauns Gedichtzyklus "Luf-Passion" (FR), Daniela Dröschers "Lügen über meine Mutter" (NZZ), die Gesamtausgabe von Claude Auclairs Comicklassiker "Simon vom Fluss" (Tsp), Bruno Duhamels Comic-Westernparodie "Falsche Fährten" (taz), André Dhôtels "Bernard der Faulpelz" (Standard), Thomas Melles "Das leichte Leben" (online nachgereicht von der FAZ) und neue Hörbücher, darunter Frank Arnolds Lesung von Serhij Zhadans Roman "Internat" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Sandra Kerschbaumer über Goethes "Beherzigungen":

"Ach was soll der Mensch verlangen?
Ist es besser ruhig bleiben?
Klammernd fest sich anzuhangen?
..."
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Kunst

Auf ZeitOnline wirft die Historikerin Marion Detjen dem Expertengremiums zur Documenta vor, in seinem Gutachten mit vorgefertigten Meinungen und strittigen Definitionen zu arbeiten, und eigentlich völlig unwissenschaftlich. Das Konzept der Kuratoren, Widerstandsbewegungen in einen historischen Kontext zu stellen, sei ebensowenig beachtet worden wie der geringschätzige Umgang mit ihnen, moniert Detjen: "Dies wäre ja immerhin auch eine zu berücksichtigende Arbeitshypothese: Die Künstler*innen und Kurator*innen wurden erst nach Deutschland eingeladen, aber dann, wie weiland die 'Gastarbeiter', höchst ungastlich behandelt, ausschließlich an den deutschen Bedürfnissen gemessen und deutschen Prioritäten verpflichtet. Während sie sich in Kassel mit rassistischen Übergriffen konfrontiert sahen, wurden sie aufgefordert, sich mit den deutschen Befindlichkeiten zu beschäftigen, und das auf eine Art und Weise, die ihnen als feindlich, chaotisch, unfreundlich aufstieß. Für eine wissenschaftliche Untersuchung des 'Umfelds' der documenta müsste man einbeziehen, welche Spannungen und Widerstände dieser deutsche Kontext erzeugt, gerade wenn er auf Kontexte trifft, die von Diktaturerfahrung, berechtigtem Misstrauen gegen Machtdemonstrationen und der Notwendigkeit, Widerstandsstrategien zu entwickeln, geprägt sind."

Weiteres: Auch der Anbieter Midjourney drängt mit seiner KI-Kunst in den Markt, in der FAZ ist Steffe Frauke eher weniger beeindruckt, dass die Algorithmen auf die Stichworte "Skyline, im Stil von Banksy" genau das produziert: "Anders als bei anderen Anbietern werde die KI von Midjourney gezielter an lebenden Künstlern trainiert, sagen Kritiker wie der Digitalkünstler RJ Palmer, der kürzlich bei Twitter warnte: 'Dieses Ding will unsere Jobs, es richtet sich aktiv gegen Künstler.'" Für die NZZ trifft Philipp Meier den Zürcher Kunsthändler Peter Kilchmann, der vor dreißig Jahren in Zürich seine Galerie eröffnete.
Archiv: Kunst

Bühne

Jugendlich-dionysischer Rausch in den "Bakchen". Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund

Als ziemlich knalliges Bilderrauschen erlebt Nachtkritikerin Sarah Heppekausen Euripides' "Bakchen" in der Version von Sabine Reich am Theater Dortmund, in der Dionysos die "Vielfalt des Kosmos" zelebriert: "Dionysos geht gnadenlos gewaltvoll gegen Theben und dessen Herrscher Pentheus vor. Weil er dort nicht als Gott, nicht als ein Sohn des Zeus anerkannt wird. In seiner zähen Wut, gezwungen zur Bewegung in Zeitlupe, ist Dionysos Jugendlichen ähnlich. So zeigen es Wissert und Reich. Euripides' Bakchen sind die Frauen Thebens, rasende Mänaden, die mit Dionysos exzessiv feiern. Hier sind es junge Menschen, die am gesellschaftsbedingten Perfektionismus zugrunde gehen."

Besprochen werden Christopher Rüpings poetische Adaption von Ali Abbasis Horrorfilm "Border" im Zürcher Schiffbau mit Maja Beckmann (die NZZ-Kritiker Ueli Bernays als "fabelhafte Schauspielerin mit einem Talent für Splatter-Clownerie ebenso wie für Sportgymnastik" feiert) Florentina Holzingers Performance "Ophelia's Got Talent" an der Berliner Volksbühne (die SZ-Kritikerin Dorion Weickmann als geglückten Nixensabbat beklatscht), Nicolas Stemanns Inszenierung von Sophokles' "Ödipus" in Zürich (SZ), David Byrnes verschlungenes Drama "Secret Life of Humans" im English Theatre Frankfurt (FR), der Tanzabend "V/ertigo" mit dem Hessischen Staatsballett in Darmstadt (FR), Lisa Nielebocks und Stephan Kimmigs Splatterversion des "Hamlet" sowie Judith Herzbergs Stück "Rivka" am Schauspielhaus Hannover (FAZ) und eine erfrischend unbekümmerte "Ring"-Inszenierung am Stadttheater Klagenfurt (Standard).
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Musik

Einerseits ja toll, dass die Klassik sich öffnet und bei Festivals und Saisonmotti diskriminierte Positionen in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt, findet Hannah Schmidt im Zeit-Kommentar. Leise Skepsis macht sich bei ihr dennoch breit: Soll sich tatsächlich etwas ändern oder spielt man nur aus PR-Gründen Liebkind, um sich ein Feigenblatt zu verschaffen? "Bei anderen Saisonprogrammen dagegen drängen sich akutere Zweifel auf: Die Berliner Philharmoniker etwa stellen die nächste Spielzeit unter das Motto 'Identitäten' und nehmen damit Bezug auf die aktuellen Antidiskriminierungsdebatten. Allerdings findet sich im Programm vor allem eine Identität wieder: die des weißen, westeuropäisch sozialisierten Hetero-Mannes. ... Ein Programm wie dieses, möchte man dann doch nach Berlin rufen, ist eher das Gegenteil von Identitäten-Vielfalt. In solchen Fällen täten Institutionen trotz all des guten Willens vielleicht besser daran, ihren musikalisch sicherlich hochwertigen, aber sehr konservativen Spielplan einfach ohne wokes Motto stehen zu lassen."

Elisabeth Furtwängler stellt in der FR die von ihrer MaLisa-Stiftung in Auftrag gegebene Studie über Frauen im Musikgeschäft vor, die erwartungsgemäß ergibt, dass Frauen auf der Seite der Produktion krass unterrepräsentiert sind. "Wie viele tolle Bildhauerinnen, Schriftstellerinnen, Komponistinnen haben wir über die Jahrhunderte verloren, haben sie nie gesehen, weil sie nicht kreativ sein durften? Dieses Erbe tragen wir bis heute mit uns. ...  Ich sehne mich nach Liedern, die durch und aus weiblicher Kreativität entstanden sind. Kreativität hat nichts mit Geschlecht zu tun und ich bin sehr gespannt, was wir in den nächsten Jahren noch zu hören bekommen."

Weiteres: Die russische Poplegende Alla Pugatschowa hat sich auf Instagram beeindruckend gegen den Krieg ihres Landes gegen die Ukraine positioniert, meldet Sonja Zekri in der SZ: Nachdem ihr Ehemann, der Fernsehmoderator Maxim Galkin, auf eine schwarze Liste der Regierung gesetzt wurde, bat sie kurzerhand ebenfalls darum. In der FAZ gratuliert Jan Wiele dem Gitarristen Nile Rodgers zum 70. Geburtstag. Hier ein aktuelles Live-Video:



Besprochen werden ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Zubin Mehta mit Martha Argerich (Presse), der Saisonauftakt des hr-Sinfonieorchesters mit Alexander Malofeev unter Alain Altinoglu (FR) und ein Auftritt von Ed Sheeran (NZZ).
Archiv: Musik