Efeu - Die Kulturrundschau

Frei und lustig

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27.09.2022. Der SPD-Politiker Helge Lindh fordert in der SZ einen Documenta-Gipfel, um die Debatte zu Antisemitismus, Postkolonialismus und BDS aus der unguten Verklammerung zu führen. Die SZ erlebt außerdem im Münchner Volkstheater, wie "Pussy Sludge" Ströme von Erdöl aus ihrer Vagina fließen lässt. In der FAZ feiert der litauische Schriftsteller Marius Ivaškevičius den Mut  russischen Sängerin Alla Pugatschowa. Der Filmdienst denkt über den neuen deutschen Heimatfilm nach. Und die NZZ lernt im ehemaligen Berliner Frauengefängnis an der Berliner Kanststraße, wie der Blick gen Himmel gelenkt wird.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.09.2022 finden Sie hier

Bühne

Direkt aus der Vagina: Ströme von und guten Einfällen: Pussy Sludge. Foto: Konrad Festerer/ Volkstheater

Einen fantastischen Saisonauftakt hat SZ-Kritiker Egbert Tholl am Münchner Volkstheater mit Gracie Gardners verrücktem Stück "Pussy Sludge" erlebt, in dem die Titelfigur Ströme von Erdöl aus ihrer Vagina fließen lässt, während verlorene Menschen zu ihr pilgern, um im gemeinsamen Masturbieren eine Beziehung zu ihr zu entwickeln. Oder so: Tholl ist begeistert: "Mirjam Loibl nimmt die trickreich verschraubten Sätze, wie sie kommen, lässt alle Beteiligten frei und lustig spielen, begreift klug das Stück als surreale, frei schwebende Metapher, die sehr viele mögliche Antworten auf Fragen der (geschlechtlichen) Selbstbestimmung enthält. Die Bühne birst vor Einfällen, gemalte Eierstöcke säumen die Öl-Vagina im Bühnenboden, die Figuren sind fantastisch ausstaffiert, tausend Ideen, alle gut, wenige unmittelbar zu erklären."

An gleich drei Bühnen wird Ibsens "Volksfeind" gerade aufgeführt. In der Nachtkritik verliert Verena Großkreutz ein paar grundsätzliche Worte zu Burkhard C. Kosminskis Stuttgarter Fassung, die das hochpolitische Drama auf einen Zwist zwischen zwei Brüdern reduziere: "Was könnte man von Ibsens 'Volksfeind' alles ins Heute spiegeln! Vom Absinken der Zeitungsbranche in die intellektuelle Bedeutungslosigkeit über den Wassermangel durch Dürren bis hin zu Fridays for Future oder Carola Rackete. So aber bleibt nicht viel übrig von der Sprengkraft des Stücks, das Kosminski gründlich entpolitisiert hat: Bloß kein Risiko eingehen, bloß nicht konkret werden und dadurch anecken. Ein Abend quälender Belanglosigkeit halt, wie so viele andere unter seiner Intendanz." In der FAZ kann auch Simon Strauss Kosminskis "Textregie mit der Brechstange" nicht viel abgewinnen. FR-Kritikerin Judith von Sternburg stört sich bei Lily Sykes ins Positive gewendeten Frankfurter Ibsen-Inszenierung an einer "Friedlichkeit, die in die Gefilde des Kitsches reicht".

Besprochen werden außerdem Kay Voges' "Faust"-Inszenierung am Wiener Volkstheater (taz), Berlioz' "Trojaner" in Köln (FAZ) und Erich Korngolds Schlageroper "Die tote Stadt" am Landestheater Linz (Standard).
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Film

Ist das jetzt schon Heimatgefühl oder bloß Langeweile? "Alle reden übers Wetter" (Grandfilm)

Zwei aktuelle Kinofilme, Annika Pinskes "Alle reden übers Wetter" und Lars Jessens Verfilmung von Dörte Hansens Roman "Mittagsstunde" bieten Patrick Holzapfel einen Anlass, im Filmdienst über den jüngeren deutschen Heimatfilm nachzudenken. Beide Filme kreise schließlich um die beiden zentralen W-Fragen: Wer sind wir und wo? "Das Zuhause wird in der Vergangenheitsform inszeniert. Eigentlich sind es Zeitreise-Filme, freilich aus entsprechend subjektiver Sicht. Die Entwurzelung hat Konjunktur im deutschen Kino. Man erinnert sich kaum an glücksbeseelte Bilder von Eltern und Kindern jenseits von Flashbacks. ... Das Zuhause ist etwas, was in diesen Filmen eigentlich gar nicht mehr existiert. Die beiden Hauptfiguren kehren vielmehr auf einen fremdgewordenen Planeten zurück. Beide suchen nach einem Sinn, nach einem Ich in diesem unheimlich gewordenen Heim. Ist das der Grund, warum man zum Nomaden geworden ist? Ein zur Heimatlosigkeit verführtes Wesen, das sich aufgrund gesellschaftlicher Ideen nicht von seinem Zuhause lösen kann?"

Außerdem: Die NZZ plauscht mit Charlotte Gainsbourg, die beim Zurich Film Festival mit dem Golden Eye Award ausgezeichnet wurde. Anlässlich von Michael "Bully" Herbigs Verfilmung der Relotius-Affäre wirft Patrick Seyboth für epdFilm einen Blick darauf, wie Reporter in der deutschen Filmgeschichte dargestellt wurden. Jan Wiele berichtet in der FAZ kurz und bündig von der Eröffnung der Marbacher Ausstellung "Abgedreht - Literatur auf der Leinwand", bei der Volker Schlöndorff zugegen war. Im Filmdienst erinnert Michael Ranze an Arthur Mann, der heute vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden Matt Sarneckis beim Zurich Film Festival gezeigter Dokumentarfilm "The Killing of a Journalist" über den Mord an dem slowakischen Investigativ-Journalisten Ján Kuciak (NZZ), Romain Gavras' Netflix-Thriller "Athena" (ZeitOnline) und Rosa von Praunheims Semi-Doku "Rex Gildo - Der letzte Tanz" (Welt).
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Architektur

Eine Zelle in der Wilmina. Foto: Grüntuch Ernst Architekten
Grüntuch Ernst Architekten, die bereits die einstige Jüdische Mädchenschule in Berlin in ein angesagtes Restaurant verwandelt hatten, haben auch das frühere Frauengefängnis an der Kantstraße in ein Hotel umgebaut. In der NZZ versichert Katharina Matzig, dass sie respektvoll mit dem Ort umgehen, in dem einst die Frauen der Roten Kapelle unter den Nazis oder später auch Ulrike Edschmid während der Studentenbwegung inhaftiert war: "Die 77 ehemals knapp sechs Quadratmeter kleinen Zellen, in der NS-Zeit waren darin jeweils drei Frauen inhaftiert, wurden zusammengelegt. Heute besteht das kleinste der insgesamt 44 Hotelzimmer aus zwei Zellen, die eine wird als Bad und Schrank genutzt, die andere ist vom Doppelbett komplett ausgefüllt. Frühere Nutzungsspuren machen an Wänden, Decken und Böden die Vergangenheit sichtbar, wo es möglich war, blieben auch die historischen Türen erhalten. Ihre Gucklöcher sind abgeklebt. Eine kleine Lampe allerdings leuchtet auch heute noch in den Flur, wenn die Gäste die Zimmer hinter sich abschließen. Überhaupt sei Licht, so Armand Grüntuch, zentral gewesen bei der Umplanung, Tages- ebenso wie Kunstlicht: Wo einst Köpfe gesenkt und Augen niedergeschlagen wurden, ziehen heute Hunderte von handgefertigten Glaskugeln des Architekten Omer Arbel als perlende Seifenblasen himmelwärts."
Archiv: Architektur

Kunst

Der SPD-Politiker Helge Lindh fordert in der SZ eine Art Documenta-Gipfel, den er sich als Mischung aus Wahrheitskommission, Enquête und Synodalem Weg vorstellt und der die Debatte zu Antisemitismus, Postkolonialismus und BDS aus der Sackgasse herausführen soll. Der Kampf gegen den Antisemitismus darf nicht in Opposition bleiben zum Postkolonialismus, meint er: "Teilweise dient der Nahostkonflikt als Chiffre für den jeweiligen postkolonialen Befreiungskampf. Der NS-Vergleich wird gerne zwecks Analogieschluss zum absolut Bösen im Allgemeinen, zu konkreten Kolonialregimen und zur Beziehung Israel-Palästina im Besonderen herangezogen. Das Verhältnis Holocaust und (Post-)Kolonialismus wird primär rein ideologisiert debattiert. Der Globus ist Teil von uns geworden und damit andere Erinnerungskulturen Teil unseres Gedächtnishaushalts; die koloniale Globalisierung hat uns eingeholt. Unser Wissen darüber ist ausbaufähig. Verklären wir diesen Globalen Süden also nicht mit neuen Romantisierungen und Vereinfachungen, um dabei kolonialen Schemata einen netten, neuen Anstrich zu geben. Entkommen wir der wirklich entsetzlichen Falle, die Fixierung auf Israel und den Holocaust wäre zwingend konstitutiv für eine neue postkoloniale Identität. Die fixe Idee, Holocaust und Kolonialismus stünden in einem Konkurrenz-, Identitäts- oder Verrechnungsverhältnis ist eine Albtraumidee."

Weiteres: In der launigen Ausstellung "Fun Feminism" im Kunstmuseum Basel muss NZZ-Kritiker Philipp Meier herzlich lachen über Aline Stalders Kletterwand aus Keramikbrüsten: Sie trägt den Titel "Touch me - get high - Gucci".
Archiv: Kunst

Literatur

Der Schriftsteller Oliver Maria Schmitt erzählt in der SZ von seiner schlimmsten Lesung, die vor allem von fiesen Autopannen begleitet war. In der Welt erinnert Michael Pilz an die Comicfigur Atomino, die bis in die Achtziger in DDR-Comics für Atomkraft warb.

Besprochen werden unter anderem die französische Ausgabe von Virginie Despentes' neuem Roman "Cher Connard" (online nachgereicht von der FAS), Thomas Melles "Das leichte Leben" (taz), Anna Burns' Debüt "Amelia" (SZ), Julia Wolfs "Alte Mädchen" (Freitag), Jenny Tinghui Zhangs "Fünf Leben" (online nachgereicht von der FAZ), und Brita Steinwendtners "An den Gestaden des Wortes" (FAZ).
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Musik

Fast zu Tränen gerührt zeigt sich der Schriftsteller Marius Ivaškevičius in der FAZ darüber, dass die zu Sowjetzeiten gefeierte Sängerin Alla Pugatschowa sich auf Instagram gegen den Krieg Russlands positioniert hat. Pugatschowa, muss man dazu wissen, ist so ziemlich allen zutiefst ins musikalische Gedächtnis eingeschrieben, die die Sowjetunion noch einigermaßen bewusst miterlebt haben. Dieses Posting also "hat ein Mensch geschrieben, der immer noch direkten Zugang zu den Herzen mehrerer Generationen von Russen hat, diejenige, deren Stimme im Bewusstsein von Millionen ihre Kindheitserinnerungen, Leidenschaften der Jugend, erste Küsse begleitet und die illusionäre Nostalgie für die Sowjetzeit, die in der Erinnerung so viel mehr Licht hervorruft, als dort wirklich war. Ja, in diesem Post ist kein Wort über die Leiden der Ukraine, die getöteten Zivilisten, die bombardierten Städte, aber man muss die Hörerschaft verstehen, an die sich diese Worte richten, und die Umstände, unter denen sie veröffentlicht wurden. Pugatschowa sagt das nicht aus dem sicheren Ausland, sondern nach der Rückkehr in das von Repressionen terrorisierte Russland."

Makaya McCraven macht "Jazz für Cratedigger, für Musiknerds und Historikerinnen des Sounds", schreibt Aida Baghernejad auf ZeitOnline in ihrer Rezension seines neues Albums "In These Times", an dem er mehrere Jahre raspelte, schliff und polierte. Das Ergebnis klingt dennoch "leichtfüßig, feingliedrig und vor allem kohärent. Tatsächlich wirken die elf verspielten Kompositionen zwischen Improvisation, McCravens großer Liebe, und Samplebastelei wie eine einzige lange Studioaufnahme." Und "zugleich geht er mit seiner am Hip-Hop geschulten Praxis des Remix einen Schritt weiter als viele Jazzkollegen, indem er Zeitebenen, Samples und Referenzen kreuz und quer miteinander verschränkt. ... Trotzdem hat McCravens zentrales Werk nichts von der Tanzwut des britischen Jazz. Auch Kamasi Washingtons 'Black Power'-beeinflusstem Sound steht 'In These Times' diametral gegenüber. Vielmehr ist das Album ein Ruhepol in aufgeheizten Zeiten."



Manuel Brug resümiert in der Welt den Diversity-Schwerpunkt des Lucerne Festivals, mit dem er hier und da merklich haderte. Wie es in Zukunft weitergehen könnte mit der Vielfalt der Biografien und Familiengeschichten, das zeigte das Festival ihm auch nicht auf: "Wenn schon in Deutschland der türkische Bevölkerungsanteil auch in der dritten oder vierten Generation kaum in den Konservatorien und Hochschulen zu finden sind, weil von den meisten Familien keinerlei Anstrengung ausgeht, auch dieses Terrain zu besetzen, wie sollen dann der Betrieb oder die Orchester diese Schieflage lösen? Mit der Beachtung islamischer, asiatischer oder schwarzer Komponisten ist das allein sicherlich nicht zu lösen."

Besprochen werden eine Aufführung von Mahlers Neunter auf historischen Instrumenten durch Stipendiaten der Gustav Mahler Akademie Bozen und weiterer Musiker (Tsp) und eine konzertante Aufführung von Ethel Smyths Oper "Les Naufrageurs" durch das Deutsche Symphonie-Orchester unter Robin Ticciati (Tsp).
Archiv: Musik