Efeu - Die Kulturrundschau

Neuter ist das einzige Geschlecht

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01.10.2022. Im Van Magazin ist die Komponistin Niloufar Nourbakhsh erleichtert, dass die Demonstrantinnen im Iran auch von Männern verteidigt werden. In Simbabwe wurden die Autorin Tsitsi Dangarembga und die Journalistin Julie Barnes zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt, weil sie bei einer friedlichen Demonstration Reformen gefordert hatte, berichtet Intellectures. Der Tagesspiegel freut sich über eine Compilation mit Soul und Funk aus dem Fundus des DDR-Labels Amiga. taz und SZ entdecken mit Begeisterung an den Münchner Kammerspielen die genderfluide Surrealistin Claude Cahun. Die FAZ freut sich über die späte Würdigung der Malerin Martha Jungwirth in der Kunsthalle Düsseldorfer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.10.2022 finden Sie hier

Musik

Die Sittenpolizei im Iran wird immer brutaler. Im Gespräch mit dem Van Magazin ist die in den USA lebende iranische Komponistin Niloufar Nourbakhsh daher froh, dass die Demonstrantinnen in ihrem Heimatland nicht allein gelassen werden: "Was wir hier sehen, ist beispiellos: diese Einigkeit, vor allem unter den Frauen. Eine Bewegung zu sehen, bei der Frauen im Mittelpunkt stehen, ist wichtig und auch anders als bei allen bisherigen Bewegungen, denn während der Proteste von 2017, die mich zu meinem Stück inspiriert hatten, haben Männer oft zugeschaut und Videos gemacht, aber sie haben die protestierenden Frauen nicht geschützt, sodass die Polizei kommen und sie mitnehmen konnte und alle dem einfach zugeschaut haben. Das ist jetzt der nächste Schritt: Alle verteidigen die Frauen."

Hier Nourbakhshs Stück "Veiled", das sie anlässlich der Proteste 2017 komponiert hatte:



Für das VAN-Magazin unterhält sich Hartmut Welschwe mit dem ukrainischen Cellisten Denys Karachevtsev, der seit wenigen Monaten in Berlin lebt, über den Krieg und seine Flucht. Noch im März hatte er in zerbombten ukrainischen Häusern Bachs Fünfte Suite gespielt: "Wir wollten der Welt zeigen, was unserer Stadt angetan wird. ... Die Musik von Bach hat man immer als eine geistliche Musik wahrgenommen, als würde sie irgendwie auf eine Art und Weise schweben, ein bisschen über allem Weltlichen, aber auch Trost schenkend. Es gibt eine Deutung der Suiten [von Steven Isserlis, d. Red.], dass sie eine Art spirituelle Meditation über das Leben und Leiden Christi sind, mit der Fünften Suite als Porträt der Kreuzigung und der Sechsten als Wiederauferstehung. Das schien mir ganz passend zum aktuellen Leiden in der Ukraine. Und wir hoffen alle, dass wir auferstehen werden."

Jochen Overbeck freut sich im Tagesspiegel über die von Max Herre zusammengestellte Compilation "Hallo 22", die beherzt aus dem Soul- und Funk-Fundus des DDR-Labels Amiga schöpft. Darauf gibt es einige "Überraschungen: Der 'Stapellauf' vom Joco Dev Sextett etwa darf durchaus als DDR-Pendant zu Hawkwinds 'Silver Machine' gelten, so schön verheddert der sich in seinen Effektschleifen und seinem hemmungslosen Herumgeorgle. Auch 'Über Feuer' von Electra ist mit seiner Fuzz-Gitarre ein Song, den man sich sehr gut in der Rare-Groove-Disco vorstellen könnte. ... All diese Songs leben vor allem von ihren Arrangements. Die sind fein austariert, überlassen nichts dem Zufall. Es ist wunderbar, wie hier Jazz-, Soul-, Chanson- und Beat-Traditionen vereint werden, ohne dass es jemals banal, ohne dass es jemals cheesy, ohne dass es jemals Easy Listening wird." Im Dlf Kultur sprach Max Herre über seine Zusammenstellung, auf der sich übrigens auch Manfred Krugs euphorische Frühlingsumarmung findet, die man im Oktober als Zukunftsversprechen gut gebrauchen kann:



Weitere Artikel: Jens Uthoff spricht in der Jungle World mit Rocko Schamoni über das Älterwerden in der Popmusik. Karl Fluch plaudert für den Standard mit dem Sänger von Wanda. Joachim Hentschel berichtet in der SZ, wie Pink-Floyd-Sänger Roger Waters Putin verteidigt. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker hier Sara Glojnarić und dort Claudia Jane Scroccaro. François-Xavier Roth wird 2025 Teodor Currentzis als Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters ablösen, meldet Egbert Tholl in der SZ. In der FAZ gratuliert Jan Brachmann dem Dirigenten Thomas Sanderlin zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden das neue Björk-Album "Fossora" ("niemand singt wie Björk, niemand juchzt wie Björk, niemand schmettert wie Björk", ruft Max Fellmann in der SZ, "es wuchert einem aus diesem Werk ganz ungehemmt entgegen", staunt Benjamin Moldenhauer in der taz) und Billy Idols Auftritt in Frankfurt (FR).
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Film

Cornelius Pollmer berichtet in der SZ von seinem Treffen mit Anke Engelke, die aktuell im Kinofilm "Mutter" zu sehen ist. Besprochen werden Mareille Kleins Komödie "Da kommt noch was" (Tsp) und die Serie "Another Monday" (FAZ).
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Literatur

Die simababwische Schrifftstellerin und Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga wurde von einem Gericht in ihrem Heimatland nach langem Hin und Her zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe auf fünf Jahre Bewährung verurteilt - weil sie bei einer friedlichen Demonstration Reformen eingefordert hatte. Außer ihr wurde noch die Journalistin Julie Barnes verurteilt. "Das Urteil sei alles andere als milde, machen beide mit Bezug auf die Bewährung deutlich", berichtet Thomas Hummitzsch in seinem Intellectures-Blog: "Für fünf Jahre werden sie 'zum Schweigen und zur Untätigkeit gezwungen, während Unterdrückung und Korruption zunehmen und die Qualität unseres Lebens, unsere Hoffnungen für das Leben unserer Kinder und das Vertrauen unserer Kinder in ihre Zukunft schwinden.' Zugleich fordern sie die Menschen in Simbabwe auf, 'jederzeit friedlich für Freiheit, Gerechtigkeit und ein Leben in Würde in unserem Land einzutreten.'" In der SZ berichtet Jonathan Fischer über das Urteil. Dlf Kultur sprach mit den Prozessbeobachterinnen Barbara Groeblinghoff und Bascha Mika, die das Urteil als politisch motiviert kritisieren.

Dass die Zahl spanischsprachiger Bücher, die ins Deutsche übersetzt werden, sehr gering ist, gemessen an der Zahl der spanischen Muttersprachler auf der Welt, findet der Kritiker Patricio Pron im Gespräch mit der Literarischen Welt kurz vor der Frankfurter Buchmesse verzeihlich: Vielleicht verdränge ja die Zahl guter deutscher Autoren die spanischen aus den Buchregalen und umgekehrt werde eh noch viel weniger aus dem Deutschen ins Spanische übersetzt. Vielmehr habe "eine Reihe von Vorurteilen und Missverständnissen dazu geführt", dass beide Literaturnationen "mit dem Rücken zueinander leben. ... Einwohner spanischsprachiger Länder sind leidenschaftlicher als Bewohner anderer Sprachgebiete, sie wohnen in bunten Häusern, sind arm, aber gefühlvoll, romantisch und äußerst glücklich, natürlich sehr gute Tänzer dazu. Diese Klischees kommen nicht aus dem Nichts, sondern aus Filmen und Büchern, die leider sehr erfolgreich sind." Hingegen "spanischsprachige Leser erwarten von der deutschen Literatur, dass deren Werke stets umfangreich sind, selbstverständlich auch formal komplex, und dass sie ausschließlich deutsche Schuld und Vergangenheit thematisieren." Dazu passend stellt Jennifer Wilton in der Literarischen Welt die drei spanischen Autorinnen Ana Iris Simón, Andrea Abreu und Elena Medel vor.

Weitere Artikel: Paul Jandl erzählt in der NZZ die Lebensgeschichte der Schriftstellerin Mascha Kaléko. In der Literarischen Welt denkt Mara Delius über die "Ökonomie des Namens" nach, die dazu führt, dass sich immer mehr literaturferne Prominente als Romanautoren versuchen. "Aber ist das, was heute unter der Gattungsbezeichnung Roman erscheint, überhaupt ein Roman oder nicht doch nur eher ein 'Roman'?" Außerdem dokumentiert die Literarische Welt Jonathan Franzens Preisrede zur Auszeichnung mit dem Thomas-Mann-Preis. Und die FAZ dokumentiert Frido Manns bei der Thomas-Mann-Herbsttagung gehaltenen Vortrag zur Aktualität der politischen Analysen seines Großvaters.

Besprochen werden Kim de l'Horizons "Blutbuch" (taz), Jutta Voigts "Wilde Mutter, Ferner Vater" (Freitag), Serhij Zhadans "Internat" (FR), Mircea Cărtărescus "Melancolia" (Literarische Welt) und Amor Towles' "Lincoln Highway" (FAZ).
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Bühne

La mer sombre. Foto: Krafft Angerer


Pīnar Karabulut hat die Texte der Fotografin und Surrealistin Claude Cahun (1894-1954) entdeckt und daraus das Stück "La mer sombre" für die Münchner Kammerspiele gemacht. Die Inszenierung findet taz-Kritikerin Johanna Schmeller eher banal (ein "klitzekleiner Eskapismus"), aber die Texte sind eine Entdeckung, versichert sie: "Die Fotografin wohnte in einer lebenslangen Partnerschaft mit ihrer Stiefschwester zusammen, umgab sich mit der Pariser Bohême der Zwischenkriegszeit ... Geschlecht und Identität versteht Cahun als rein performativ, als unverbindlichen Vorschlag zur Lebensgestaltung. Diese damals revolutionären Gedanken verankert sie im Symbolismus und der griechischen Antike, deren Erbe bis heute unser Verständnis von Lust und Sünde mitprägt, von drinnen und draußen." Cahun, erzählt Egbert Tholl in der SZ, "überforderte selbst die Mitglieder des Surrealisten-Kreises in Paris, in dem sie sich bewegte. In Frankreich, England und auch den USA wird sie, gerade wegen ihres fotografischen Werks, als frühe Ikone eines geschlechterfluiden Ausdruckswillens rezipiert. 'Neuter ist das einzige Geschlecht, das mir immer entspricht', schrieb Claude Cahun 1930 in ihrer autobiografischen Erzählung 'Aveux non avenus'. Die Surrealisten beschäftigte zwar auch der Gedanke, die Kategorien des Männlichen und des Weiblichen hinter sich zu lassen, aber Künstler wie Marcel Duchamp oder Man Ray gingen da eher scherzhaft vor, nicht mit der dunklen, eskapistischen Ernsthaftigkeit Cahuns."

Weitere Artikel: Die Sopranistin Lise Davidsen spricht im Interview mit Van über Bayreuth, Wagner-Heldinnen und ihre sehr strenge Gesangslehrerin. Judith von Sternburg berichtet in der FR vom Festival "Politik im Freien Theater" in Frankfurt.

Besprochen werden Marco Štormans Inszenierung von Nonos "Intolleranza 1960" an der Komischen Oper Berlin (im Van Magazin staunt Eleonore Büning, wie hier aus einem "politischen Agitpropstück eine Revue" mit "auf- und niederwallenden Muzakwogen" wird), Stefan Bachmanns Inszenierung von Molières "Der eingebildete Kranke" am Schauspiel Köln (nachtkritik), Cosmea Spellekens "Odysseus.live" am Staatstheater Nürnberg (nachtkritik), das "FestSpiel Utopia / Über Menschen" der Neuen Bühne Senftenberg (nachtkritik) und Ivo van Hoves Inszenierung zweier Fleißer-Dramen am Wiener Burgtheater (FAZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Da musste schon 2010 Albert Oehlen kommen, damit die Museumsdirektoren hierzulande begriffen, welchen Schatz es mit der Wiener Malerin Martha Jungwirth neu zu entdecken gab. Die Kunsthalle Düsseldorf widmet ihr jetzt eine große Retrospektive und auch FAZ-Kritiker Georg Imdahl findet das überfällig, wenn er sieht, wie sie das "Verhältnis von Abstraktion und Gegenständlichkeit" auslotet: "Jungwirths Malstil entfaltet sich auf Papier, einem Malgrund, der farblich wie Packpapier anmutet und stets auf Leinwand kaschiert ist. Nirgends dringt die Ölfarbe in Poren ein, sie verwischt sich vielmehr auf der Fläche." Das sieht man besonders gut auf den Porträts, deren "Ausdrucksträger" oft kaum zu erkennen sind, so Imdahl. "Auge und Antlitz sind, wenn überhaupt, nur zu erahnen, Hände kommen kaum vor; schon gar nicht wird die Figur von Konturen eingefasst. Von äußerer Ähnlichkeit kann eher nicht die Rede sein. Über die Charakterzüge der Dargestellten ließe sich nur spekulieren, wohl aber gibt sich unbedingt die Identität der Malerei zu erkennen. Sie ist geprägt von drangvoller Offenheit, vertraut auf den richtigen Zugriff, mutet spontan und ungestüm an und erscheint doch im Resultat am Ende immer organisiert und zielgerichtet."

In einem Nachruf auf die Documenta 15 benennt Thomas Schmid in seinem Blog die in seinen Augen Hauptverantwortlichen für das Debakel: "der Oberbürgermeister von Kassel, die Generaldirektorin, ihr Interimsnachfolger, Mitglieder der Findungskommission, die Kulturstaatsministerin, die hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst sowie nicht zuletzt der ehemalige Kasseler Oberbürgermeister Hans Eichel. ... Es ist, als hätten sie eine Fackel durch die Zeit, durch die Monate getragen: die Fackel des Durchhaltens, des Sich-nicht-irre-machen-Lassens, des obstinaten Schweigens, der hartleibigsten Verweigerung von Erklärung, Rechtfertigung, Argumentation und Diskurs. Und sie kamen damit am Ende allesamt durch - in einer Gesellschaft, die sich so gerne zugutehält, dass sie gelernt habe, Entscheidungen nicht zu dekretieren, sondern sich im diskursiven Raum heranbilden zu lassen."

Außerdem: Im Tagesspiegel wundert sich Simone Reber über das "etwas luftig gestrickte Programm" der Nationalgalerie, das Klaus Biesenbach für die nächsten zwei Jahre präsentiert hat.
Archiv: Kunst