Efeu - Die Kulturrundschau

Grandios, wie das Orchester atmet

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04.10.2022. Die FAZ macht das narzisstische, ästhetisch beliebige Aktivistentheater für den Publikumsschwund verantwortlich. SZ und Tagesspiegel fliegen derweil auf dem Zauberklangteppich davon, den Christian Thielemann beim "Rheingold" in Berlin vor ihnen ausbreitet. Georg Baselitz fragt laut SZ, was Adolf Zieglers NS-Schinken in der Münchner Pinakothek neben Picasso verloren hat. Die NZZ schwelgt in Begeisterung für Gabriele D'Annunzio.  In Profil spricht Regisseur Ulrich Seidl über die Dreharbeiten zu seinem Film "Sparta", für die ihn der Spiegel beinahe in Verruf gebracht hätte.   
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.10.2022 finden Sie hier

Bühne

"Rheingold" an der Staatsoper Berlin. Foto: Monika Rittershau

Hochamt an der Berliner Staatsoper. Dimitri Tcherniakov beginnt einen neuen "Ring" mit der Inszenierung des "Rheingold", Christian Thielemann dirigiert. In der SZ ist Reinhard J. Brembeck hin und weg, auch wenn er Wagner dabei leicht schizophren denken muss: "Während Regisseur Dmitri Tcherniakov das 'Rheingold', also den ersten 'Ring'-Schnipsel, konsequent entgöttert, entdämonisiert und entmythologisiert, macht Dirigent Christian Thielemann genau das Gegenteil... Es besticht und überwältigt, wie schön belcantoverliebt und textverständlich in Berlin gesungen wird. Das wird möglich, weil Thielemann und die Staatskapelle wundervoll leise die Sängerinnen und Sänger mit einem Zauberklangteppich ummanteln, sie nie bedrängen, unterjochen. Thielemann kann es aber auch donnern lassen, das ist dann, aus dem grundsätzlich Leisen kommend, umso beeindruckender. Noch beeindruckender ist der leichte Tonfall, das Strahlen, die Leichtigkeit und Beweglichkeit des Klangs. Thielemann rührt keine Schicksalsapokalypse an, er bietet eine Konversationskomödie." Noch krasser beschreibt Frederik Hanssen die Diskrepanz im Tagesspiegel: Tcherniakovs Inszenierung hätte ihn höchstens als Leistungsschau auf einer Technik-Messe beeindruckt, aber aus dem Orchestergraben strömt reinstes Glück: "Grandios, wie das Orchester atmet, wie es schimmert und funkelt, transparent bleibt und dennoch in üppigsten Klangfarben schwelgt. Fantastische Bläsersoli entfalten sich, die Streicher betören mit samtiger Dichte, es ist das pure Glück. Christian Thielemann waltet als virtuoser Rhetoriker, verzögert hier, prescht dort vor, wählt immer wieder auch extreme Tempi, die seine Solist:innen herausfordern. Doch facettenreicher, detailgenauer, faszinierender vermag derzeit niemand diese Partitur zu deuten." Die Berliner Zeitung traf Thielemann zur Generalprobe.

Nicht die Pandemie ist schuld am Publikumsschwund der deutschen Theater, donnert Christian Gampert in der FAZ, sondern sein politischer Aktivismus: Das Bühnengeschehen sei narzisstisch, selbstbezüglich und anmaßend geworden, meint Gambert: "Ja, das Theater dient (auch) der gesellschaftlichen Selbstverständigung und ist dazu sehr notwendig. Aber das Problem ist, dass die Theater genau diese Funktion kaum noch erfüllen. Das liegt einerseits an einer weitverbreiteten ästhetischen und sprachlichen Beliebigkeit - etwa bei den ausufernden Textflächen, die große Teile des Publikums nicht mehr hören möchten. Es liegt aber auch an der politischen Belehrungssucht, mit der man den Zuschauern das Wahre und Gute, Antidiskriminierende, Klimakritische, Wegweisend-Fortschrittliche immer wieder eintrichtern möchte."

Ebenfalls in der FAZ beklagt der Schauspieler Sebastian Rudolph vom Zürcher Schauspielhaus in einem Interview mit Simon Strauß die kulturrevolutionäre Stimmung an den Theatern: "Ich persönlich hatte im Theater nie Angst vor den gefährlichen Machttypen an der Spitze. Das hat mich immer herausgefordert, die habe ich bekämpft. Jetzt aber wird es komplizierter, es bilden sich Gruppen, die suggerieren, eine Mehrheitsmeinung zu vertreten, um andere damit zum Schweigen zu bringen. Die Angst, ausgestoßen zu werden von dieser angeblichen Mehrheitsmeinung, ist so stark, dass viele im Theaterbetrieb inzwischen große Furcht haben, sich überhaupt noch abweichend zu bestimmten Themen zu Wort zu melden."

Besprochen werden Ted Huffmans reduzierte Inszenierung von Mozarts "Zauberflöte" in Frankfurt (FR, FAZ), Stefan Bachmanns Version von Molières "Eingebildetem Kranken" in Köln (der SZ-Kritikerin Alexander Menden zufolge zu einer "Quasi-Volkskomödie mit Analfetisch" geronnen ist, die sowohl der Wokeness als auch den Querdenkern "verbale Arschtritte" verpasst), Christian Weises Reenactment von Thomas Langhoffs legendären Inszenierung der "Drei Schwestern" (ahnungslos findet Barbara Behrendt in der taz, "inhaltsleer" Gabi Hift in der Nachtkritik) und Thorsten Lensings "Verrückt nach Trost" in den Berliner Sophiensälen (taz).
Archiv: Bühne

Kunst

Adolf Ziegler, Die vier Elemente, 1937. Sammlung Moderne Kunst in der Pinakothek der Moderne. Foto © Sibylle Forster, Bayerische Staatsgemäldesammlungen


In der SZ meldet Jörg Häntzschel, dass Georg Baselitz die Münchner Pinakothek der Moderne in einem Brief aufgefordert hat, endlich ein Triptychon des NS-Malers Adolf Ziegler abzuhängen, das in einem Saal mit dem Titel "Panoptikum" neben Picasso hängt: "Der Wandtext, der den 'Vier Elementen' beigestellt ist, klärt über Zieglers Karriere auf und beschönigt auch sonst nichts. Die Akte 'repräsentierten rassistische Körperideale des NS', heißt es dort unmissverständlich. Das Bild hängt hier also weniger als Kunstwerk denn als Dokument? Genau darauf deutet außer dem Wandtext nichts hin. Und nicht nur das: Die Ausstellung gibt vor, einen belebenden Wettstreit der Stile und Ästhetiken zu veranstalten, doch in Wahrheit mischt sie auch die Register. Hier ein triviales, auf Massenwirkung getrimmtes Machwerk, dort anspruchsvolle Moderne."

In der FAZ rollt Werner Bloch noch einmal die Vorgänge um den deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig auf. Er sieht nicht nur in der Arbeit der Konzeptkünstlerin Maria Eichhorn unverantwortlichen Irrsinn am Werk (zunächst wollte sie den gesamten  Pavillon aufs Festland verfrachten, jetzt hat sie nur die Fundamente freigehackt, aber dabei Bloch zufolge auch Steine abtransportiert , womit sie gegen den Denkmalschutz verstoßen könnte. Ebenso skandalös findet er die Berufung von Yilmaz Dziewior, der selbst in seiner eigenen Findungskommission saß, für die nächste Biennale: "An Dziewior führt in Deutschland praktisch kein Weg vorbei, und man kann getrost annehmen, dass seine Kolleginnen und Kollegen aus der 'Findungskommission' von 2019, die ihn bei seiner Wahl zum Venedig-Kurator unterstützten, mit Recht auf eine Gegenleistung pochen können... Die Profiteure von Hierarchien sitzen im Zweifel immer noch am längeren Hebel. Deutschland kann auf solche Vorgänge nicht stolz sein."  

Besprochen werden die Joan-Jonas-Retrospektive im Münchner Haus der Kunst (FAZ) und die Ausstellungen der britisch-libanesischen Künstlerin Mona Hatoum in Berlin (FR).
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Literatur

In der NZZ zeigt sich der Historiker Giordano Bruno Guerri geradezu delirant begeistert vom italienischen Schriftsteller D'Annunzio, der wohl alleine schon deshalb kein Faschist gewesen sein könne, weil Guerri ja so begeistert von ihm ist: "Er war seiner Zeit voraus. Er hatte einen gewissen visionären Geist." Auch ist Guerri "überzeugt, dass ein sehr intelligenter Mensch, der sich in der Vergangenheit derart gut auskennt, instinktiv in die Zukunft schauen kann." Zudem schrieb er "große Gedichte, große Romane, große Tragödien. Er war ein großer Verführer, ein großer Krieger, sogar ein großer Gesetzgeber. ... Ein solcher Mensch kann nicht einer Ideologie folgen. Eine Ideologie ist das Gegenteil des selbständigen Denkens." Da ist Andres Wyslings Blick auf den Dichter, der Mussolini verehrte, deutlich nüchterner.

Weiteres: Der Schriftsteller Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ hier und dort weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Das in Simbabwe über die Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga verhängte Gerichtsurteil (unser Resümee) zeigt, wie nahe deren Romane "an der Wirklichkeit sind", schreibt Anna Vollmer in der FAS. In der Zeit setzt Navid Kermani sein afrikanisches Tagebuch fort. In der Zeit staunt Timo Posselt darüber, wie TikTok aus jugendlichen Smartphone-Lesern begeisterte Buchleser macht: Jüngsten Analysen aus den USA zufolge "war TikTok dort laut dem Marktforschungsinstitut National Purchase Diary allein im Jahr 2021 verantwortlich für den Verkauf von 20 Millionen Büchern".

Besprochen werden unter anderem Karen Duves "Sisi" (FAS), Kim de l'Horizons "Blutbuch" (Welt), Carolin Würfels "Drei Frauen träumen vom Sozialismus" über Christa Wolf, Maxi Wander und Brigitte Reimann (Freitag), Nicolas Mathieus "Connemara" (Standard), Heinz Strunks "Ein Sommer in Niendorf" (FR), Hernan Diaz' "Treue" (taz), Ralf Rothmanns "Die Nacht unterm Schnee" (Standard), Michael Manns Roman-Fortsetzung seines Kinothrillers "Heat" (FAS) und neue Krimis, darunter Ann-Helén Laestadius' "Das Leuchten der Rentiere" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ulrich Greiner über Hans Magnus Enzensbergers "Weitere Gründe dafür, daß die Dichter lügen":

"Weil der Augenblick
in dem das Wort glücklich
ausgesprochen wird ..."
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Film

In zwei Interviews geht Ulrich Seidl erstmals ausführlich auf die Vorwürfe ein, die der Spiegel gegen den Filmemacher erhoben hatte - angeblich sollten die rumänischen Eltern von Kinderdarstellern nicht hinreichend darüber informiert worden sein, dass sein aktueller Film "Sparta" von Pädophilie handelt, auch soll der Umgang mit den Kindern nicht sensibel genug gewesen sein. Grundlage der Recherchen bildeten Aussagen von Familien, die Seidl nun, nachdem er ihnen den fertigen Film vor Ort in Rumänien gezeigt hat, im Profil-Gespräch zu seiner Verteidigung anführt: Der Film sei gut ankommen, "die Familien sahen ihn ganz anders, waren froh, dass ihren Kindern in keinem Moment etwas Problematisches geschehen ist. Es gab gegen keine einzige Szene Einwände." Belegen könne er dieses Feedback zudem: "Ich habe unsere Gespräche mit deren Einverständnis akustisch aufgezeichnet." Seitens des Spiegel seien gegenüber den Familien "Ängste geschürt" worden. "Mir selbst werfen die Familien - jetzt, wo sie den Film kennen - nichts mehr vor."

Im SZ-Gespräch erklärt Seidl zu seiner Vorgehensweise vor der Produktion, die noch vor der Corona-Pandemie stattfand: "Bei den Kindern bin ich zu allen Eltern gefahren und habe ihnen den Film erklärt: Dass es um einen Mann geht, der sich zu Kindern hingezogen fühlt, sich mit ihnen umgibt. Ich habe nicht das Wort 'Pädophilie' verwendet. Aus ganz bestimmten Gründen: Weil man dann sofort glauben würde, es würden pädophile oder sexualisierte Szenen gedreht. Natürlich ist das nicht gedreht worden ... Unser Fehler war, dass wir danach leider den Kontakt nicht gepflegt haben", doch "nachdem ich das Vertrauensverhältnis wiederherstellen konnte, haben mir die Eltern gesagt, was ihnen vorgehalten wurde: Es könnte ja sein, dass ihr Kind auf irgendwelchen Pornoseiten im Internet auftaucht, oder bei pädophilen Szenen mitspielt." Seidls aktuellen Film "Rimini", der nun in den Kinos startet, bespricht Julia Dettke in der FAS.

Weitere Artikel: Auf ZeitOnline spricht Cem Kaya über seine Dokumentarfilm "Liebe, D-Mark und Tod" über die Geschichte der türkischen Popularmusik in Deutschland (hier unsere Kritik). Im Tagesspiegel empfiehlt Silvia Hallensleben den zweiten Teil der Reihe "Women Make Film" im Berliner Kino Arsenal. In der taz sieht Isabella Caldart Hollywoods Doppelmoral am Werk, wenn Will Smiths Ohrfeigen-Eklat derzeit immer noch für heiße Debatten sorgt, während man weißen Filmemachern in der Geschichte Hollywoods ganz andere Verfehlungen unbeanstandet durchgehen ließ. Christiane Heil notiert in der FAZ Erinnerungen von Maria Riva an ihre Mutter, Marlene Dietrich. Außerdem melden die Agenturen, dass die Aktivistin Sacheen Littlefeather gestorben ist, die berühmt wurde, als sie 1973 für Marlon Brondo den Oscar abwies und eine Protesnote verlas.



Besprochen werden die Disney-Serie "Pistol" über die Geschichte der Sex Pistols (FAZ) und Emmanuel Carrères "Wie im echten Leben" mit Juliette Binoche, der bei uns bereits seit Ende Juni im Kino läuft, aber nun auch im Österreich startet (Standard, Presse).
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Musik

In der Welt schäumt Manuel Brug über vor Freude, dass François-Xavier Roth 2025 auf Teodor Currentzis als Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters nachfolgen wird. Dieser ist der "längst beste französische Dirigent" und "einer der universellsten ist er sowieso. Roth kann einfach alles. Er wühlt in barocken Schätzen, hat vor Bach wie Beethoven keine Angst, beherrscht das lange 19. Jahrhundert auf seinen Hauptrepertoirewegen wie Raritätennebenpfaden, liebt das frühe 20. Jahrhundert, das er aufregend neu klingen lässt, aber ist auch ein Könner der klassischen Moderne und ein furioser Anwalt wie Sachverwalter des ganz Neuen. Einen solchen Allesbeherrscher gibt es heute kaum ein zweites Mal." Diese Personalie war "erwartbar", schreibt dagegen ein deutlich nüchterner Axel Brüggemann in seinem Crescendo-Newsletter. Brüggemann erlebte in den vergangenen Wochen, "wie Orchesterchefin Sabrina Haane um den heißen Russland-Brei herumgeeiert ist. Und daran hat sich noch immer nichts geändert: Der SWR lässt Currentzis (der eh nur noch wenige Dirigate beim Orchester hat und nicht einmal mit dem Artist in Residence gemeinsam auftritt) einfach wegschleichen. So entgeht man unbequemen Rausschmiss-Verhandlungen, verzichtet aber auch auf dringend nötige Haltung in Sachen Putin-Verbindungen von Currentzis."

"Was für ein Wesen will Björk sein", fragt sich Ueli Bernays und versenkt sich für die NZZ mit "Fossora", dem neuen Album der isländischen Autorenpop-Künstlerin, tief hinein in diese Frage: Denn Björk ist in ihrer Kunst nicht zu fassen. "Während jüngere Sängerinnen (wie Billie Eilish) ihre Intimität direkt ins Ohr des Zuhörers hauchen auf ihren Studioaufnahmen, bleibt Björk gesanglich in kühler Distanz. Unfassbar wirkt sie auch dadurch, dass ihre Position im Raum variiert. Mal tönt es von hinten, mal von vorne, mal von rechts oder links, bis die Stimme auseinanderbricht und in eine schizophrene Fuge oder einen Ego-Chor auseinanderdriftet. ... Singen ist in ihrem Falle wohl eher eine Manie als eine Befreiung." So "gräbt sich Björk so immer tiefer in den Abgrund der Existenz, um schließlich eine traurige Bilanz zu ziehen: 'Into sorrowful soil our roots are dug.' Wo soll Hoffnung herkommen, wenn das Leben im Elend wurzelt?"



Weitere Artikel: In der Jungle World plaudert die Post-Punk-Band Die Nerven über egobedingte Selbstfindungsprozesse, die sie nun hinter sich gelassen haben. Besprochen werden ein von Herbert Blomstedt dirigiertes Beethoven-Konzert der Berliner Philharmoniker (FAZ), die Autobiografie des Jazzers Klaus Doldinger (BLZ), das neue Wanda-Album (Welt), Konzerte von Jochen Distelmeyer (FR) und Placebo (FR) und ein von Bejun Mehta dirigierter Bach- und Mozart-Abend im Konzerthaus Berlin (Tsp).
Archiv: Musik