Efeu - Die Kulturrundschau

Der Geschmack seiner glühenden Orangen

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10.10.2022. Der Observer spürt in der Tate Modern dem Zauber Cézannes nach, der Farbe in Frucht verwandelte. Die Filmemacherin Aelrun Goettle erinnert an die schräge Buntheit, die sich vor dem Grauzonen der DDR ebenfalls prächtig abhob. Die Nachtkritik revoltiert in Dortmund mit Sibylle Berg gegen Digitalität und Diktatur. Tagesspiegel und SZ lassen sich die Begeisterung für Annie Ernaux auch durch ihre antiisraelischen Äußerungen nicht nehmen, die FR bekundet alelrdings ihre Enttäuschung.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.10.2022 finden Sie hier

Literatur

Einen Moment lang sah es so aus, als wäre mit Annie Ernaux die ideale, konsensfähige Nobelpreisträgerin gefunden (unser Resümee). Ihr Engagement für BDS-nahe Initiativen bringt jetzt doch noch den einen oder anderen Misston in die allgemeine Begeisterung. Ihren Namen setzt sie auch gerne mal unter Offene Briefe, die Israel der Apardheit bezichtigen, wie die Jerusalem Post in Erinnerung rief. Werden ihre Bücher durch dieses Engagement beschädigt, fragt sich Gerrit Bartels im Tagesspiegel: "Wohl kaum. Vermutlich wird man sie noch einmal mit anderen Augen lesen." Anders als bei Peter Handke, der sich "mit vielen Texten in Zeitungen, aus denen dann auch Bücher wurden, für die serbische Sache eingesetzt hatte" und dessen "Jugoslawienbücher zu seinem von der Schwedischen Akademie ausgezeichneten Werk" gehören, spielten bei Ernaux ihre politischen Einlassungen in ihren Büchern "keine Rolle".

Ernaux hat als Vertreterin der französischen intellektuellen Linken "einen spezifisch ideologischen Blick auf die Welt und die Geschichte", schreibt Nils Minkmar in der SZ und nimmt die Nobelpreisträgerin vielleicht eine Spur zu begütigend in Schutz: Die Fronten seien ja verhärtet, Ernaux käme eben nicht aus ihrer Haut. "In dieser Unterstützung Ernaux' drückt sich noch kein Antisemitismus und keine Gegnerschaft zum Existenzrecht Israels aus, sondern eine altertümliche und in diesem Fall bedauerliche Treue zu einer Ideologie, in der Israel nun mal als Feind der deklassierten und unterdrückten Palästinenser erscheint, als örtlicher Verbündeter der US-Republikaner und eben nicht als Heimat der vom weltweiten Antisemitismus bedrohten Juden. In dieser von Ideologie so geprägten politischen Ecke wird das Urteil über die Dinge der Welt nicht à la carte gewählt, man bestellt das komplette Menü und bleibt dann dabei, wenn man nicht als abtrünnig gelten möchte."

Enttäuschend findet Judith von Sternburg in der FR, was sie nun alles über Annie Ernaux lesen muss. "In ihren Büchern - in denen uns nichts darauf vorbereitet hat - ist Ernaux eine scharfsinnige Expertin für die Vagheiten des wirklichen Lebens, ausgeprägt ihr Sensorium für Simplifizierung, freilich auch für Ungerechtigkeiten, mit denen sie außerhalb ihrer Bücher einseitig umgehen mag. Die politische Zeitgenossin, die mit dem linkspopulistischen Politiker Jean-Luc Mélenchon sympathisiert, ist in Deutschland noch kennenzulernen."

Weitere Artikel: In der fünften Lieferung aus ihrer Essayreihe für den Standard plädiert die Schriftstellerin Sandra Gugić für eine diversere Literatur, denn "gerade die Literatur ist geschaffen für das Erfahrbarmachen von Identitäten und Lebenspositionen". In der FAZ freut sich die Lyrikerin Nora Gomringer über die Arbeit des vor wenigen Jahren gegründeten Netzwerk Lyrik e.V., das in der Politik offenbar sehr eifrig Klinken putzt: "Interessierte klopfen an, und man erfährt, dass mancher Lyrikfeind zum -freund gewandelt werden konnte." In der NZZ setzt der Schriftsteller Sergei Gerasimow hier und dort sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Sophia Zessnik spricht für die taz mit der Schriftstellerin Angeline Boulley über deren Roman "Firekeeper's Daughter". In Frankfurt präsentierten sich die sechs Nominierten der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, berichtet Andrea Pollmeier in der FR. Christian Thomas erinnert in der FR an Alexander von Humboldts Zeit im Fichtelgebirge. Harald Eggebrecht berichtet in der SZ von der Tagung der Karl-May-Gesellschaft in München. Im Bücher-Podcast der FAZ spricht Norris von Schirach über seinen Roman "Beutezeit". Im Literaturfeature von Dlf Kultur geht Nadja Küchenmeister der Frage nach, wie sich mit dem Schreiben von Büchern eigentlich Geld verdienen lässt.

Besprochen werden unter anderem Maggie Habermanns Trump-Buch "Täuschung" (SZ), Uffa Jensens Studie "Ein antisemitischer Doppelmord" (SZ), Najat El Hachmis "Am Montag werden sie uns lieben" (FR), Leila Aboulelas "Anderswo, daheim" (NZZ), Rolf Fieguths Neuübersetzung von Witold Gombrowiczs "Ferdydurke" (Dlf Kultur), Hamed Eshrats autobiografischer Comic "Coming of H" (Tsp), die Ausstellung "Climate Fiction" im Strauhof in Zürich (NZZ) und Martina Clavadetschers "Vor aller Augen" (NZZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Jürgen Pelzer über Friedrich Gottlieb Klopstocks "Das Versprechen":

"Kein Eroberungskrieg! So scholl das heilige Wort einst,
Das ihr uns gabt, verehret als nie verehret ein Volk ward..."
Archiv: Literatur

Film

Bunte Nischen in den Grauzonen: "In einem Land, das es nicht mehr gibt"

Mit ihrem Film "In einem Land, das es nicht mehr gibt" arbeitet die Filmemacherin Aelrun Goettle ihre Zeit als Mannequin in der DDR auf. "Die DDR war nicht schwarz-weiß", sagt sie im Filmdienst-Interview. "Wenn man sich Farbfotos ansieht, fällt einem gleich auf, dass dieses Grau durchbrochen war und es im Alltag eine schräge Buntheit gab." Und "es gab auch dieses fortschrittliche Element in der Mode, zum Beispiel die Zeitschrift Sibylle, die 'Vogue des Ostens', oder die Exquisit-Läden." Ihr geht es "gerade auch um die Zwischenbereiche, Grauzonen und Nischen. ... Damit wir uns verstehen, müssen wir uns kennen. Aber wenn wir nur durch eine Schablone auf den Osten schauen, können wir uns nicht kennen lernen. Andreas Dresen (mit 'Gundermann') und Andreas Kleinert (mit 'Lieber Thomas') haben diese Richtung bereits eingeschlagen, indem sie Ost-Biografien historischer Persönlichkeiten vorgestellt haben. Ich gehe jetzt den nächsten Schritt, in dem ich keine historische Figur als Vorbild nehme, sondern es persönlich mache." Die FAZ hat Maria Wiesners Kritik online nachgereicht.

Hanns-Georg Rodek stellt in der Welt die Arbeit von Zeitsprung Pictures vor, die neben der Berliner Ufa zu den wichtigsten deutschen Produktionsgesellschaften für historische Kino- und Fernsehstoffe zählt und denen er dafür begeistert dankt: "Die Ufa und Zeitsprung waren die Avantgarde einer Reconquista; man konnte das Erzählen von diesem Lande weder den Leuten überlassen, die Deutschland über alles setzen, noch denen, die es am liebsten auflösen würden. Die Reflektion der eigenen Geschichte gehört zu den Pflichtaufgaben des Nationenbauens; das über seine Verbrechen erschrockene Deutschland hat das lange mutlos Hollywood überlassen, so konnte Tom Cruise Stauffenbergs Augenklappe anlegen." Eine kühne These, die einer filmhistorisch empirischen Betrachtung kaum standhalten dürfte, zumal nur wenige Jahre vor "Operation Walküre" mit Tom Cruise bereits Jo Baier einen deutschen "Stauffenberg"-Film drehte.

Außerdem: Matthias Kalle erinnert auf ZeitOnline an die im Koreakrieg spielende Fernsehserie "MASH". Robin Detje schreibt auf ZeitOnline einen Nachruf auf den Schauspieler Günter Lamprecht. Besprochen werden die Disney-Serie "The Old Man" mit Jeff Bridges (Freitag), Ana Lily Amirpours "Mona Lisa and the Blood Moon" (taz), Lena Dunhams "Catherine Called Birdy" (Tsp), Ulrich Seidls "Rimini" (Jungle World, unsere Kritik hier) und die vierte Staffel "Berlin Babylon" (ZeitOnline).
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Kunst

Paul Cezanne: Stillleben mit Äpfeln und Pfirsichen, 1905. Tate Modern

Gar nicht satt sehen kann sich Observer-Kritikerin Laura Cumming in der großen Cézanne-Schau in der Tate Modern. Alles leuchtet, schwärmt Cumming, die Obstschalen, Frau und Sohn, der Mont Sainte Victorie, Farben und Form so verdichtet wie in einem Sonnett: "Man wünscht sich ungemein, die Bilder zu berühren: mit dem Finger über seine Pinselstriche zu fahren und ihre Bewegung zu verstehen, seine Äpfel in der Hand zu wiegen, die so fest und gewiss sind, den Duft oder den Geschmack seiner glühenden Orangen zu erfassen. Farbe wird Frucht. Es gibt ein Aquarell, bei dem der einzige Hinweis auf die Zitrone auf einem Tablett ein formschöner Rohling ist, der mit einem gelben Tupfer berührt wird; das ist alles und mehr, als man braucht."

Weiteres: Zwei Vertreter von Ruangrupa werden Gastprofessoren an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, meldet Spon. "Der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Volker Beck, gratulierte auf Twitter sarkastisch und beklagte: 'Antisemitismus-Toleranz schadet in Deutschland nicht. Israelhass ist karrierefördernd.'" Besprochen werden die Ausstellung "Worin unsere Stärke besteht" mit Künstlerinnen aus der DDR im Bethanien (taz) und die KI-Schau "Life after Bob" des amerikanische Künstler Ian Cheng in der Halle am Berghain (die Tsp-Kritikerin Birgit Rieger "knietief ins Metaverse" schickte).
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Bühne

Szene aus "GRM Brainfuck" am Theater Dortmund. Foto © Birgit Hupfeld


In der Nachtkritik rechnet Karin Yeşilada Regisseur Dennis Duszczak zur Generation Z, weswegen er ihr auch gar nicht den Rachefeldzug erklären muss, den er am Theater Dortmund nach Sibylle Bergs "GRM Brainfuck" und im tristen Ruhrpottgrau "durchdonnert": "Digitalität und Diktatur gehen Hand in Hand, soviel ist klar, und wenn sich die rauschende Wahlparty in ohrenbetäubendem Getöse entlädt (mit ordentlich Bühnenmusical-Spektakel, Sting-Song und Konfetti-Regen), wird klar: Macht ist geil. Dann aber folgt auch schon der dramatische Niedergang der politischen Elite, und am Ende wird der Sohn den abgehalfterten Vater töten, ganz wie in der antiken Tragödie. Da ist dann wieder mal urplötzliche Stille auf der Bühne, und die beiden Schauspieler können sie mit klassischem Drama füllen. Harte Wechsel sind das bisweilen, aber das rockt."

An den Münchner Kammerspiele zeigt Felicitas Brucker in einem anti-patriarchalen Double Feature mit Ibsens "Nora" und Edouard Louis' "Freiheit der Frau". SZ-Kritikerin Christine Dössel bemerkt starke Szenen und schöne Momente, aber so richtig ans Herz ging ihr das nicht. Und eines fällt ihr auf: "Im Parkett waren trotz Premiere doch sichtbare Lücken; und wirft man einen Blick auf den Monatsspielplan der Kammerspiele mit seiner Anhäufung von englisch- und französischsprachigen Titeln ('La mer sombre', 'Les statues rêvent aussi', 'Hungry Ghosts', 'Woman With Stones', 'Miseducation Munich - Wau Wau Collectif', 'Act Now! Vol.1', 'Coltan-Fieber: Connecting People'), stellt sich die Frage: An wen richtet sich das, und was soll es bedeuten?"

Weiteres: Im ganzseitigen FAZ-Interview plaudert der Musical-Produzent Lin-Manuel Miranda über sein HipHop-Musical "Hamilton", dessen deutsche Fassung heute Abend in Hamburg Premiere haben wird. Besprochen werden Thom Luz' Theaterabend "Warten auf Platonow" am Münchner Cuvilliés-Theater (FAZ), das Jules-Vernes-Musical "20 000 Meilen unter dem Meer" an der Alten Oper in Frankfurt (FR), Caroline Guiela Nguyens Stück "Kindheitsarchive" an der Schaubühne (Tsp) und Chaplins "Großer Diktator" in den Wiener Kammerspielen (Standard).
Archiv: Bühne

Musik

Völlig hingerissen ist FAZ-Kritiker Peter Kemper von der Jazzmusikerin Angel Bat Dawid, die gerade in Heidelberg aufgetreten ist und mit ihrem Anschluss an Sun Ras Afrofuturismus in den USA bereits als große Stimme des Spiritual Jazz gefeiert wird. "Mit ihrer Mischung aus leidenschaftlichem Gesang, angriffslustigem Klarinettenspiel in bester Free-Jazz-Manier, raffinierten Soundsamples aus dem Laptop und betörenden Klavierhymnen gilt die Chicagoerin, Jahrgang 1980, in der Jazzszene als shooting star. Zwar mag ihr aufgeregter Predigerton nicht allen gefallen, doch ihre grobe Mischung aus Gospel, Elektronik und Gebet liefert ein pulsierendes Manifest des zeitgenössischen Black Empowerment." Allerdings kollidiere "mit diesem religiös konnotierten Beschwörungsansatz beständig ihre Bekenntnis zum technologischen Fortschritt. Jeder Klarinettensound wird elektronisch manipuliert, Looper und eine Reihe weiterer Effektgeräte lassen ihre Keyboard-Attacken wie Geräuschlawinen wirken." Einen Konzert- und Porträtfilm gibt es von Arte:



In Wien hat Teodor Currentzis' neues Orchester Utopia sein erstes Konzert gegeben. "Ein Fest der Freude und der Völkervereinigung", an dessen Ende sich die aus 30 Ländern stammenden Musiker beseelt in den Armen lagen, erlebte Standard-Kritiker Stefan Ender. "Zuvor hatte man die Zugabe, Ravels 'Bolero', mit jener mediterranen Leichtigkeit begonnen, die auch den vorangegangenen Oktobertag ausgezeichnet hatte. Nach dem steten Anstieg der Dynamik wurde am Ende ein mächtiges Plateau der Zuversicht erklommen", doch "das große Staunen wollte sich nicht einstellen. Currentzis' großspurige Ankündigung, man würde statt mit einem halben Dutzend Klangfarben (wie normalsterbliche Orchester) mit hunderten oder tausenden malen, sollte sich nicht erfüllen."

Weitere Artikel: Sonja Smolenski porträtiert in der taz die ukrainischen Hiphop-Musikerinnen Fo Sho, die in ihrer Heimat gerade durchstarteten, als Russlands Angriff sie zur Flucht nach Deutschland zwang. Die Berliner Zeitung plaudert mit der Schlagersängerin Kerstin Ott unter anderem über das Für und Wider von Coming-Outs.

Besprochen werden ein wiederveröffentlichtes Album der Westberliner Krachcombo Sprung aus den Wolken ("ein herausragendes Beispiel für die Anti-Haltung des Frühachtziger-Undergrounds in Berlin", freut sich Andreas Hartmann in der taz), Shygirls Album "Nymph" (taz), Built to Spills Album "When the Wind Forgets Your Name" (Jungle World), ein neues Album der Düsseldorf Düsterboys (ZeitOnline), die Blondie-Box "Against the Odds 1974-1982" (FR), ein Konzert des Jack Quartets in Berlin (Tsp) und eine Box mit den neun Sinfonien von Ralph Vaughan Williams (FAZ).
Archiv: Musik