Efeu - Die Kulturrundschau

Ich urteile nicht. Niemals

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13.10.2022. Die NZZ stellt den Schweizer Filmdebütanten Valentin Merz und sein Kino der Improvisation vor. Die FR blickt in der Schirn auf das reale indische Leben in den Fotografien von Gauri Gill. Der Tagesspiegel freundet sich in einer Sempé-Ausstellung mit einer Gruppe Handwerker an. Annie Ernaux versteht ihre Literatur selbst als politisch, erinnert die Zeit. An der Berliner Staatsoper können sich Zeit und NZZ ganz gut Christian Thielemann als Nachfolger Barenboims vorstellen. Die SZ besucht das Kabukiza von Ginza. Die taz hört Mutter.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.10.2022 finden Sie hier

Film

"De Noche Los Gatos Son Pardos" von Valentin Merz

Andreas Scheiner porträtiert in der NZZ den Schweizer Filmdebütanten Valentin Merz, der bei seiner Arbeit auf Laiendarsteller und möglichst wenig Drehbuch setzt. Sein Film "'De Noche Los Gatos Son Pardos' handelt von jungen Leuten, die in Frankreich auf dem Land einen (homo-)erotischen Low-Budget-Kostümfilm drehen. Dann verschwindet der Regisseur, der Valentin heißt (und auch von Valentin Merz gespielt wird). Und wie der Regisseur im Film verschwindet, verschwindet ein Stück weit auch die Regie aus dem Film, den wir sehen." Der Rest war Improvisation nach losen Vorgaben. "Alle haben losgelassen, Merz allen voran. Auch bei den sexuellen Szenen: 'Mir war klar, dass ich es auch machen muss, was zur Folge hatte, dass es für die anderen auch normaler wurde.' Zwei Darsteller kamen aus dem Bereich ethische Pornografie, das waren die 'eigentlichen Divas', wie Merz sagt. Der Rest der Crew bestand aus Laien, Künstlern und einer Handvoll ausgebildeter Schauspieler. Vor dem Film hat Merz mit allen lange Gespräche geführt, jeder sollte auch seine Grenzen festlegen. Das Ziel war, 'möglichst frei einen Film zu machen und sich selber dabei zu überraschen'."

Außerdem: Thomas Hummitzsch spricht in der taz mit Ruben Östlund über dessen neuen Film, den Cannes-Gewinner "Triangle of Sadness" (unsere Kritik, weitere Besprechungen in Welt und FR, sowie mehr dazu bereits hier). Christiane Peitz führt im Tagesspiegel durchs Programm des Human Rights Film Festivals in Berlin, das heute von Ben Lawrence' (in der FR besprochenen) Assange-Doku "Ithaka" eröffnet wird. Nachrufe auf die Schauspielerin Angela Lansbury schreiben Julia Lorenz (ZeitOnline), Daniel Kothenschulte (FR) und Jürg Zbinden (NZZ).

Besprochen werden Daniela Abkes Dokumentarfilm "Belleville, Belle et Rebelle" über ein Pariser Bistro (SZ, Tsp), David Gordon Greens Abschluss seiner "Halloween"-Trilogie (Perlentaucher), Maggie Perens NS-Drama "Der Passfälscher" (Tsp, SZ), Mano Khalils "Nachbarn", der in Berlin heute das Kurdische Filmfestival eröffnet (Tsp), die Amazon-Serie "Jungle" (taz) und die Netflix-Serie "The Playlist" über die Geschichte von Spotify ("stümperhaft", beschwert sich Kristoffer Cornils auf ZeitOnline). Außerdem weiß die SZ, welche Filme sich in dieser Woche wirklich lohnen.
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Kunst

Gauri Gill, 'Indian grocery store in Queens, New York 2004', aus der Serie 'The Americans', 2000-2007, © Gauri Gill


In der FR empfiehlt Lisa Berins eine Ausstellung der indischen Fotografin Gauri Gill in der Frankfurter Schirn: "Es ist ein besonderer Blick auf ihr Heimatland, vor allem auf ländliche Gemeinschaften, und es ist ein Blick, mit dem sich Gill mit Frauen und Mädchen in der streng patriarchalen Gesellschaft solidarisiert. Die 1970 in Chandigarh geborene und in Neu-Delhi lebende Gauri Gill fotografiert das reale Leben - aber rein dokumentarisch ist es nicht. Es ist nicht nüchtern, hart und schonungslos, die Subjekte sind der Kamera nicht ausgeliefert, sie haben einen aktiven Part in der Entstehung der Fotografien, sie bestimmen mit. Gill zerrt weder vor die Linse, noch bildet sie fahrig ab. Ihre Fotografien schaffen Nähe, ohne voyeuristisch zu sein. Und bei aller Unaufgeregtheit besitzt ihr Werk eine Kraft, die neben der künstlerischen auch eine politische ist."

Sempés Titelbild für die Zeitschrift Le Moustique 1956


Gerührt und sehr liebevoll blickt Ralph Trommer im Tagesspiegel auf die Zeichnungen von Sempé, die derzeit in der Fondation Folon nahe Brüssel ausgestellt werden. Eigentlich hatte es ja eine Geburtstagsausstellung zum Neunzigsten werden sollen, nun ist es eine Hommage an den im August verstorbenen Künstler. "Sempés Blick auf die menschliche Spezie ist, bei aller Schärfe, die gelegentlich aufblitzt, einfühlsam und liebevoll. Menschliche Schwächen thematisierte er oft, doch mit einer unverwechselbaren Zärtlichkeit. ... Ein Zyklus, Teil des Buches 'Saint Tropez' (1968), zeigt, wie eine Gruppe von Handwerkern ein Haus baut, dabei perfekt als Gemeinschaft funktioniert, arbeitet und in Pausen miteinander schwatzt, isst und trinkt. Das letzte Panel zeigt das fertige Anwesen: Eine reiche Sippe sitzt gelangweilt und sprachlos am Pool. Sempé bleibt trotz deutlicher Kritik stets sanft: 'Ich betrachte die menschliche Gattung. Ich urteile nicht. Niemals.'"

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Idole & Rivalen. Künstlerischer Wettstreit in Antike und Früher Neuzeit" im Kunsthistorischen Museum Wien (taz) und die Ausstellung "Paul Klee. Vom Rausch der Technik" im Zentrum Paul Klee in Bern (NZZ).

Und noch eine frohe Nachricht aus der Kunstwelt:

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Literatur

Dass sich von den problematischeren unter Annie Ernaux' politischen Engagements keine Spur im Werk finde und Literatur sich ja ohnehin in autonomen Sphären abspiele, ist in diesem Fall kein Gegenargument zur Kritik an der Literaturnobelpreisträgerin, die einige BDS-nahe Initiativen unterstützt hatte, findet Iris Radisch in der Zeit. Mit ihren Büchern stellt sich die Schriftstellerin "in der Tradition der engagierten Literatur auf die Seite der 'Unterdrückten', der 'dominés', wie sie es auf ihrer Pressekonferenz gerade gesagt hat. Die Fehler, die aus solcher Parteinahme entstehen - auch Sartre ist in ihrem Namen die fragwürdigsten Allianzen eingegangen -, muss man nicht verkleinern. Sie kreisen um ein zwar modisches, aber ermüdend starres Set aus Antibürgerlichkeit, Macron-Hass, Gelbwesten-Verehrung, Imperialismus- und Israelkritik. Ihre punktuelle Unterstützung von BDS-Aktionen ist da mehr als grenzwertig. Und mit ihrer einseitigen Parteinahme für die Palästinenser hat sie sich den Vorwurf eingehandelt, an antisemitischen Aktionen beteiligt zu sein. Doch wären Ernaux' Bücher nicht so mitreißend und schon gar nicht so mind-blowing, wie sie vor allem von einer ganz jungen Frauengeneration zurzeit empfunden werden, wären sie vom grundsätzlichen Furor des Engagements und des stark erregbaren sozialen Kompasses befreit. Er ist der Motor ihres Schreibens und der Grund, aus dem Leben, Engagement und Werk dieser Autorin, right or wrong, zusammengehören."

Der PEN Deutschland möchte laut einer kursierenden Liste gerne Neumitglieder anwerben, die darauf aber spätestens seit der Gründung des PEN Berlin überhaupt keinen Wert mehr legen, hat Johannes Schneider für ZeitOnline herausgefunden: Stichproben anhand dieser Liste "ergaben ein eher besorgniserregendes Bild, was den tatsächlichen Beitrittswillen zum PEN angeht. Mal mehr, mal weniger ungehalten bestätigte eine Autorinnen- und Intellektuellenschaft von Bov Bjerg bis Nino Haratischwili, von Armin Nassehi bis Aladin El-Mafaalani, von Ronya Othmann über Maren Kames bis hin zu Jan Skudlarek, überhaupt keine Mitgliedschaft im PEN Deutschland anzustreben."

Weitere Artikel: Die NZZ setzt Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Thomas Hummitzsch empfiehlt im Freitag spanische Literatur. Die Schriftstellerin Karosh Taha verrät der SZ, was sie gerade liest, unter anderem Matthias Nawrats "Der traurige Gast". Außerdem erzählt der Schriftsteller Lutz Seiler in der SZ von seiner schlimmsten Lesung - nämlich jene, die die erste sein sollte, zu der auch seine Eltern kommen würden, aber außer ihnen so gut wie kein zahlender Gast.

Besprochen werden unter anderem Samantha Harveys "Das Jahr ohne Schlaf" (Perlentaucher), Rayk Wielands "Beleidigung dritten Grades" (taz), Marie Gamillschegs "Aufruhr der Meerestiere" (FR), Michael Manns Romanfortsetzung seines Kinothrillers "Heat" (SZ) und Péter Nádas' "Schauergeschichten" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

"Götterdämmerung" an der Staatsoper. Foto: Monika Rittershaus


Dmitri Tschernjakows "Nibelungen"-Tetralogie an der Berliner Staatsoper mit dem kurzfristig eingesprungenen Christian Thielemann am Pult war eine kleine Offenbarung für Zeit-Kritiker Alexander Cammann: "Angesichts der sich neigenden, dreißigjährigen Ära Barenboim hatte sich plötzlich eine bezwingende Zukunftsoption für das Berliner Opernhaus aufgetan", erkennt er. Auch Julia Spinola scheint sich das in der NZZ ganz gut vorstellen zu können: "Spektakulär, atemberaubend präzise durchleuchtet Thielemann das Motivgeflecht der Wagner-Partituren und verleiht ihm eine beinahe gestochene Plastizität und Tiefenschärfe: ein 'High Definition'-Wagner in 3 D. Über weite Strecken dominiert darin ein verblüffend durchhörbarer, kammermusikalischer Klang, dem 'Rheingold' entlockt Thielemann gar eine Mendelssohnsche Leichtigkeit. Umso gewaltiger heben sich die Klangballungen und die bläserlastig-knirschenden Steigerungen ab: das Poltern der Riesen, die Zuspitzungen der Schmiedeszene oder die schwarzen Tritonussprünge der Posaunen, mit denen in der Gibichungen-Welt das Böse auf den Plan tritt. Das Publikum tobt nach den Aktschlüssen vor Begeisterung." Und auch Nikolaus Hablützel, von Tschernjakow in seiner Theatersucht gestärkt, meint in der taz: "Ein seltener Glücksfall für Wagners Musik."

Thomas Hahn sitzt für die SZ im Kabukiza von Ginza in Tokio und staunt: das größte und berühmteste Kabuki-Theater Japans adaptiert den Anime-Klassiker "Nausicaä aus dem Tal der Winde"? Läuft alles im Rahmen der Modernisierung des Theaters. "Man muss immer etwas Neues schaffen", erklärt ihm Matsumoto Koshiro X., 49, Kabuki-Schauspieler seit er fünf Jahre alt ist, "sonst wird es unmöglich, die Tradition an die nächste Generation weiterzugeben."

Besprochen werden Giuseppe Verdis "Don Carlo" am Theater Osnabrück (nmz), Guntbert Warns' Inszenierung von John Vanbrughs "Das Halsband" am Renaissance-Theater (Tsp), Cosmea Spellekens "Odysseus.live" am Staatstheater Nürnberg oder online (SZ), Florian Fischers Inszenierung von Georg Kaisers Drama "Gas" am Theater Magdeburg (FAZ) und Karin Henkels Inszenierung des "Macbeth" am Hamburger Schauspielhaus (Zeit).
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Musik

Das Berliner Szene-Urgestein Mutter bot mal existenzialistisch tosenden Noise-Rock, heute lässt man alles etwas ruhiger angehen, schreibt Benjamin Moldenhauer in der taz zum Erscheinen des neuen Albums "Ich könnte du sein, aber du niemals ich". "Dessen Musik klingt vor allem erst mal sehr schön. Zwar zurrt und kratzt es noch immer und immer wieder, aber alles vergleichsweise sachte, tatsächlich sind die Musiker freundlicher geworden. Wenn ein Produzent ihren Sound gründlich aufpoliert hätte, könnten ein paar der Lieder vielleicht auch als Indiepop-Geschrammel durchgehen. Das Titelstück 'Du niemals ich' zum Beispiel geht regulär verschraddelt los, dann aber zerfasert die Gitarre das Ganze doch noch, und die Synthesizer klingen latent krank. Wieder jede Möglichkeit zum Indie-Hit dahin."



Rap-Megastar Kendrick Lamar war auf Konzert in Berlin. Schon Lamars aktuelles Album ist eine eher durchwachsene und live eher nicht gut transportierbare Sache, schreibt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline in Erinnerung an einen auf ihn merkwürdig wirkende Show. "Um Leerstellen und plötzlich abgebrochene Songs hat Lamar die Berlin-Show seiner Europatour herumgebaut, um Momente der Stille und des Stillstands, die oft abrupt kommen und die Inszenierung offenbar in überraschender Weise aus dem Takt bringen sollen. Alles wirkt zerrissen, Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich in abgehackter Choreografie durch ein Bühnenbild voller harter 90-Grad-Winkel. Kunst- und Verschnaufpausen sind nicht immer voneinander zu unterscheiden, und es gibt auch keine Band, die Lamar darüber hinwegtragen könnte. ... Merkwürdig ist aber auch, dass die Stimmung in der Halle davon vollkommen unbeeindruckt erscheint." Und Aida Baghernejad staunt im Tagesspiegel: "Es hat etwas von König Midas: Alles was er berührt wird Gold", was Lamar überhaupt nicht behagt: Zu erleben war eine lange Therapie-Session. "Immer wieder kommentiert eine Stimme aus dem Off Lamars Fortschritte" und "jedes Detail ist symbolisch aufgeladen: von seinem Outfit, das zu einer Art goldenem, hypermaskulinen Boxweltmeistergürtel feminine Diamantohrringe kombiniert, zu den Bühnenvorhängen, die heruntergelassen werden, um darauf Schattenspiele zu projizieren und Sinnsprüche darüber, dass Masken das Innere eines Menschen nicht verbergen."

Weitere Artikel: Gerhard Lob berichtet in der NZZ von Plänen, in Lugano mehrere Schweizer Musikinstitutionen unter einem Dach zu vereinen. Besprochen werden ein Konzert von Teodor Currentzis' neuem Orchester Utopia in Berlin (Tsp) und das Debütalbum "Bei Tageslicht" von Elias Hirschls Musikprojekt Ein Gespenst (Standard).

Archiv: Musik