Efeu - Die Kulturrundschau

Funk in typisch persischer 9/8-Rhythmik

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15.10.2022. Die FAZ und Dlf Kultur stellen neue Literatur aus Spanien vor, dieses Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. Wer lernen will, wie man immer wieder seine Überzeugungen überprüft, lese Camus, empfiehlt die SZ. Die Berliner Zeitung geißelt die westdeutsche Verfilmung von DDR-Geschichte als kulturelle Aneignung. Die taz erinnert an die iranische Musik der Sechziger und Siebziger, die von Frauen geprägt war.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.10.2022 finden Sie hier

Literatur

Spanien ist in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse, erstmals seit 1991 wieder. Seitdem hat das Land "sich selbst umgekrempelt", schreibt Paul Ingendaay im Literarischen Leben der FAZ. "Erst segelte das Land in einem Höhenflug voller Optimismus in die erste Reihe der europäischen Nationen, wurde schick, hipp und cool - und dann stürzte es durch das, was man verharmlosend 'Immobilienkrise' nennt, verheerend ab. Von gegenwärtigen Krisen wie der Pandemie ist in der spanischen Literatur dagegen noch kaum die Rede. Außer bei einem Einzelgänger wie J. A. González Sainz, Jahrgang 1956, der wieder in seine Heimatstadt Soria gezogen ist, zurück in die tiefste kastilische Provinz. ... Die Spanier nennen ihren Frankfurter Gastland-Auftritt 'Sprühende Kreativität', aber man kann ihnen nicht vorwerfen, sie hätten das Armutsthema verkannt. Es gibt auf der Buchmesse sogar Veranstaltungen dazu. Armut, Marginalisierung und die Härten der Null-Aussicht-Generation kommen bei zahlreichen jüngeren Autoren und Autorinnen vor, und der Zufall will es, dass drei dieser Romane in Barcelona spielen. Der ambitionierteste davon stammt von Cristina Morales, geboren 1985 in Granada, und heißt 'Leichte Sprache'."

Weiteres zur Buchmesse: Auch Dlf Kultur widmet sich in einem Schwerpunkt der spanischen Literatur: Hier in einer "Langen Nacht" von Katharina Teutsch und Tobias Lehmkuhl, dort in einem Feature von Victoria Eglau darüber, wie sich die Finanzkrise 2008 in der spanischen Gegenwartsliteratur niederschlug, und in einem weiteren Feature befasst sich Holger Heimann mit einem allgemeinen Überblick. Außerdem überlegt sich Dirk Knipphals in der taz Smalltalk-Themen für die Frankfurter Buchmesse. Literaturbeilagen zur Frankfurter Buchmesse bringen die FAZ, die SZ und die Welt am Sonntag - Auswertungen dazu finden Sie in den nächsten Tagen an dieser Stelle. Die Notizen zur Beilage der Zeit finden Sie auch schon hier, die Notizen zur Welt hier - mit Bestellmöglichkeit, die Not.

Vor 80 Jahren erschien "Der Fremde", vor 65 Jahren wurde Albert Camus mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Warum der Roman gerade heute wieder an Brisanz zunimmt und der Schriftsteller ein Gewährsmann für die Gegenwart ist, erkundet Nils Minkmar in einem Essay in der SZ: Camus widerstand den totalitären Versuchungen - und er war permanent bereit sich in Frage zu stellen, so Minkmar: "Heute ist es die Verbindung von Klimakrise, Naturzerstörung und dem Ende des vertrauten, auf dem Konsum fossiler Energie basierenden Wachstumsversprechens, das eine philosophische Neuorientierung erfordert. Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist auch eine Krise des Menschenbilds verbunden. ... Eine Prüfung der eigenen gedanklichen Bestände ist angesagt. Man kratzt sich ratlos am Hinterkopf und geht durch, was in so einer verschärften Krisenlage nützlich sein könnte, und trifft in Camus auf einen Mann, der zeitlebens nichts anderes getan hat, als sich genau das zu fragen. Auch im Augenblick seines größten Erfolgs."

Weitere Artikel: Alexandra Föderl-Schmid berichtet in der SZ von ihrem Besuch bei Robert Menasse, der mit "Die Erweiterung" eben den zweiten Teil seiner EU-Saga veröffentlicht hat - im Tagesspiegel bespricht Gerrit Bartels den Roman. In der NZZ setzt Sergei Gerasmiow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Sieglinde Geisel unterzieht auf Tell Annie Ernaux' "Die Jahre" dem Page-99-Test. Philipp Meier erinnert in der NZZ an den Schriftsteller und Künstler Bruno Schulz. Im Standard gratuliert Ronald Pohl dem Schriftsteller Péter Nádas zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Annie Ernaux' "Ein anderes Mädchen" (taz), David Mitchells "Utopia Avenue" (taz), Behzad Karim Khanis "Hund Wolf Schakal" (Welt), Ror Wolfs "Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie. Tagebuch 1966-1996" (taz), Martin Kordićs "Jahre mit Martha" (NZZ), Wolfgang Strucks "Flaschenpost" (SZ), Isabel Allendes "Violeta" (Zeit), neue Comics über Verschwörungstheorien (taz) und Jennifer Egans "Candy Haus" (FAZ).
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Bühne

In seiner Theaterreihe stellt das Van Magazin diesmal das Theater Magdeburg vor. Besprochen wird der neue Ring an der Berliner Staatsoper (Van).
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Film

DDR im Kino mal ganz anders, nämlich aus Ost-Perspektive: "In einem Land, das es nicht mehr gibt"

Freudig nimmt Franziska Hauser von der Berliner Zeitung zur Kenntnis, dass mit Aelrun Goettes "In einem Land, das es nicht mehr gibt" eine Frau aus erster Hand von ihren Erfahrungen in der DDR erzählt. Allzu oft wurden Filme über die DDR von westdeutschen Regisseuren gedreht, was für die Kritikerin reinste kulturelle Aneignung ist: "Genauso wie Donnersmarck die Hälfte des Casts mit DDR-Schauspielern besetzt hat, die Macher aber ein rein westdeutsches Team waren, haben weiße Musiker in den USA, die mit schwarzer Musik berühmt geworden sind, schwarze Musiker als Spielsteine in den Background gestellt, damit die, von denen die Musik ursprünglich kam, auch noch zu sehen waren. Das Massenpublikum will Verarbeitetes serviert bekommen von jemandem, der am besten genau da steht, wo das Publikum selbst auch steht, nämlich außen. Jemand soll es sich angeeignet haben, so, wie sich die Außenstehenden die fremde Kultur selbst aneignen würden, wenn sie könnten."

Rüdiger Suchsland durchleuchtet für einen Artechock-Essay das schmale, aber immens preisgekrönte Werk des Schweden Ruben Östlund, dessen Cannes-Gewinner "Triangle of Sadness" (unsere Kritik) gerade in die Kinos kommt. Östlunds Filme "sind moralische Fabeln, ohne zu moralisieren. Oft sind es Filme über Männer, über Männlichkeit und die latente Gewalt des Männlichen. Östlund zeigt gewalttätige Männer und moralisch beleidigte Frauen wie Männer, die öffentliche Entschuldigungen und Schuldeingeständnisse einfordern, gespiegelt in den betretenen, peinlich berührten Reaktionen einer Gesellschaft, die solche Eingeständnisse mitunter gar nicht haben will. Er zeigt unterdrückte Gewalt und die destruktive Natur des Menschen. Dabei sind seine ungemein reichhaltigen, von Einfällen strotzenden Filme präzise Informationen über den Stand der Dinge: Dekadenzanalysen über Unsicherheit und die Erschöpfung unserer Welt, über sozialen Selbstmord aus Angst vor dem Tode - und über die Notwendigkeit, uns neu zu erfinden."

Außerdem: Amerikanische Medien kritisieren die in Hollywood gängige Praxis, dünne Schauspieler in einem Fatsuit Übergewichtige spielen zu lassen, berichtet Brigit Schmidt in der NZZ. Für die Berliner Zeitung plaudert Patrick Heidmann mit Jamie Lee Curtis, die für David Gordon Greens nunmehr abgeschlossene Halloween-Trilogie erneut in die Rolle der Laurie Strode geschlüpft ist, mit der ihre Karriere einst begonnen hatte - Besprechungen des Films bringen NZZ, Standard, FAZ und der Perlentaucher. Matthias Heine freut sich in der Welt, dass der queer-anarchische Trashmeister John Waters nach 20 Jahren wieder einen Film drehen will. Isabella Caldard wirft für die taz einen Blick auf die teils befremdlichen Blüten, die die von Netflix produzierte True-Crime-Serie "Dahmer" über den gleichnamigen Serienmörder im Netz treibt - und fordert ein geschärftes ethisches Selbstverständnis der Produzenten. Eckhard Haschen resümiert für Artechock das Filmfest Hamburg. Auf Artechock trauert Rüdiger Suchsland noch immer über den Tod von Jean-Luc Godard - und legt uns diesen Nachruf bei epdFilm von Georg Seeßlen auf den Autorenfilmer ans Herz. Eher skeptisch nimmt Dirk Peitz auf ZeitOnline zur Kenntnis, dass Tom Cruise für sein nächstes Filmprojekt ins All fliegen will. Nachrufe auf den Schauspieler Ralf Wolter schreiben Fritz Göttler (SZ), Axel Weidemann (FAZ) und Andreas Busche (Tsp). Und noch eine traurige Nachricht: Der britische Schauspieler Robbie Coltrane ist tot - insbesondere seine Rolle als völlig derangierter Ermittler Fitz bleibt in Erinnerung.

Besprochen werden Maggie Perens NS-Drama "Der Passfälscher" (Artechock) und Maria Schaders Weinstein-Drama "She Said" (FAZ).
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Musik

Im VAN-Magazin spricht die Bratischistin Muriel Razavi mit einer anoynm bleiben wollenden Musikerin aus dem Iran, die ihr von der Revolte gegen das Teheraner Regime erzählt: "Vor wenigen Tagen ist Shervin Hajipour, ein beliebter Sänger, verhaftet worden, weil er in diesem Song, 'Baraye', vieles aufgezählt hat, für das wir protestieren. [Hajipour wurde mittlerweile gegen Kaution aus der Haft entlassen. Kurz danach distanzierte er sich auf Instagram von seinem eigenen Song, ein Statement, das allgemein als von staatlicher Seite erzwungen eingeordnet wird, d. Red.] Wir protestieren für das Recht, ein 'normales Leben' zu haben. Wir protestieren für ein Land, das immer weiter kaputt geht, denn die korrupte Regierung kümmert sich nicht darum. Nicht die kompetenten Menschen bekommen die wichtigen Stellen und Posten im Land, wo man etwas verändern könnte, etwas bewegen könnte, sondern beispielsweise irgendwelche Personen durch Vetternwirtschaft, die nicht zu Verbesserungen beitragen wollen und es aufgrund ihrer Inkompetenz auch nicht können." Und "wer die Stimme erhebt, kommt ins Gefängnis."



In der taz erinnert Sebastian Reier dazu passend an die iranische Musik der Sechziger und Siebziger, die vor der Machtübernahme der Mullahs vor allem von Frauen geprägt war und der heutigen Generation Stichworte und Halt liefert. Damals "entstand eine weltweit einzigartige Form von Popmusik. Ihre unumstrittene Ikone ist die Sängerin Googoosh. ... Sie internationalisierte die iranische Popkultur in einer Mischung aus persischer Poesie mit Jazz, Latin, Chanson und einer gehörigen Portion Funk in typisch persischer 9/8-Rhythmik. Wie überall in der Welt der Popkultur spielt Mode eine große Rolle für ihren Aufstieg. Googoosh wird zum Postergirl und zur Stilikone des urbanen Iran der Siebziger. Wurde sie mit neuer Frisur abgelichtet, waren Frisörtermine in ganz Teheran ausgebucht. Der weibliche Kurzhaarschnitt wurde gänzlich nach ihr Googooshi benannt. Und doch hatte die iranische Gesellschaft auch in den Sechziger und Siebziger Jahren einiges zu verkraften. Das unerbittliche Regime des Schah, den wirtschaftlichen Aufschwung durch den Ölboom und damit verbundene postkoloniale Verflechtungen mit internationalen Ölkonzernen." Eine Playlist auf Youtube zeigt viele Aufnahmen und Aufritte, in teils allerdings sehr schlechter Qualität.



Außerdem: Im VAN-Magazin spricht der Musikpädagoge Daniel Sebastian Scholz über seine Arbeit als Professor für Musizierendengesundheit. Arno Lücker widmet sich in seiner VAN-Reihe über Komponistinnen hier Marguerite Monnot und dort Agnes Tyrell. Und die Berliner Zeitung weiß von bislang noch nicht bestätigten Gerüchten, dass das Berghain geschlossen werden könnte.

Besprochen werden ein Auftritt von The Cure in Oslo (Standard), ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Daniel Harding (Tsp), ein Konzert des Berliner Oratorien-Chors unter Leitung von Thomas Hennig (Tsp), das neue Album des Wiener Trios Dives (Standard), Lucrecia Dalt Krafts Album "¡Ay!" (ein "eigenwilliger Sci-Fi-Latinhybrid", findet Ruth Lang Fuentes in der taz) und Bill Calahans Album "Reality": "Callahan ist die Antithese zum entwicklungsresistenten Musiker", staunt Albert Koch auf ZeitOnline. Wir hören rein:

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Kunst

Michael Heizers "The City". Foto: Ben Blackwell, courtesy of Michael Heizer and the Triple Aught Foundation. Mehr Bilder bei Dezeen.


Jörg Häntzschel lässt sich für die SZ das 2500 Meter mal 700 Meter große Projekt "The City" des Land-Art-Künstlers Michael Heizer in der Wüste von Nevada zeigen, das nach 52 Jahren Bauzeit abgeschlossen scheint: Eine riesige gewalzte Kiesfläche. Ist das alles? Mit der Zeit beginnt er "den Rhythmus der sanften Hügel wahrzunehmen, der Kiesbänder, die wie Deiche wirken, sich aber verjüngen und kreuzen, die mal kreisrunden, mal merkwürdig verzogenen Mulden, alle verbunden mit einem filigranen Netz von 'Straßen', die mit präzise gegossenen Beton-Randsteinen eingefasst sind. ... Doch immer wieder zieht es einen zurück zu '45° 90° 180°', einer Plaza, auf der Reihen immer gewaltigerer Betonklötze lehnend, stehend und liegend angeordnet sind, Dreiecke und Rechtecke, die größten neun Meter hoch. Es scheint ein Denkmal zu sein, aber wofür? Ein dreidimensionales Gemälde von De Chirico? Elegante Kulisse für ein wortkarges Eifersuchtsdrama von Michelangelo Antonioni oder Alain Resnais? Unsere Schritte werden langsamer, als würden sie gelenkt von der schieren Masse der Betonformen." (Mehr zu Heizers Projekt bei artnews, dem New Yorker und dem Guardian.)

Besprochen werden außerdem ein Bildband, der an die erste russische Kunstausstellung in Berlin 1922 erinnert (FR), die Ausstellung "Stéphane Mandelbaum" im Tower MMK in Frankfurt am Main (Jungle World), die Ausstellungen "Empowerment" im Kunstmuseum Wolfsburg und "Fun Feminism" im Kunstmuseum Basel (Welt) und die Ausstellung "Die Habsburger im Mittelalter" im Historischen Museum in Speyer (FAZ).
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