Efeu - Die Kulturrundschau

Suppe essen, zuschauen und zuhören

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18.10.2022. Der Buchpreis für Kim de L'Horizon bescherte dem Literaturbetrieb einen seltenen glamourösen Moment. Nicht alle sind von seinem aktivistischen Auftritt überzeugt, Tsp und SZ war er etwas überdeutlich, aber die Welt ist hingerissen von so viel Rimbaud-haftem Willen zum absolten Modernsein. FR und taz bereiten auch auf die morgen beginnende Buchmesse vor, die den Krieg in der Literatur wird verhandeln müssen. iIn der FAZ beschreibt Oleksandr Mykhed, wie Russlands Kriegsführung in Terror ausartet. Die SZ lernt mit Anne Lenk und Lessing, lachend ernst zu sein.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.10.2022 finden Sie hier

Literatur



Der Deutsche Buchpreis geht in diesem Jahr an Kim de l'Horizon für den Roman "Blutbuch". Nach der Dankesrede hat sich "dey" ihrem Selbstverständnis nach non-binäre Autor:in aus Solidarität mit den Frauen im Iran unter standing ovations die Haare abrasiert: "Dieser Preis ist nicht für mich".

Für Richard Kämmerlings von der Welt war das "so etwas wie der Rainald-Goetz-Moment der neuen engagierten (manche sagen 'aktivistischen') Literatur. ... De l'Horizon will weder Preisträger noch Preisträgerin sein, sondern etwas Drittes, noch nie da Gewesenes, was sie sowohl in ihrer ganzen umwerfenden Erscheinung als auch in ihrem bewusst irritierenden Schreiben demonstriert. Das Erbe der klassischen Avantgarden - Rimbauds 'Il faut être absolument moderne' - wird heute unter anderem von denjenigen angetreten, die wie Kim Sprache und Erzählformen jenseits der binären Geschlechterdifferenz suchen."

Es war eine Verleihung im Zeichen des Glamours, berichtet Gerrit Bartels im Tagesspiegel: Schon lange nicht mehr habe die Riege der Nominierten so gut ausgesehen. Ansonsten ist Bartels eher unterwältigt: Zwar wurde mit "Blutbuch" ein "queerer und wilder Roman" ausgezeichnet, aber was die Jury darüber zu sagen hatte ("kreative Energie", "Dringlichkeit und literarische Innovationskraft") hätte man auch über Jan Faktors "Trottel" sagen können, meint er. Ihm ist das politisch alles zu überfrachtet: "Ohne eine entscheidende, über sich selbst weisende Botschaft hat die Literatur es heutzutage leider schwer." Jan Faktor war auf der Shortlist die einzig ernstzunehmende Konkurrenz für Kim de l'Horizon, findet Andreas Platthaus in der FAZ, aber Faktor hat ja vor kurzem schon den Wilhelm-Raabe-Preis erhalten. De l'Horizons Performance findet Platthaus so spektakulär wie folgerichtig: "Die Verneinung einer jeden Geschlechterrolle durch Entledigung körperlicher Schönheitsattribute ist konsequent angesichts des schmerzvollen Inhalts von 'Blutbuch', einem Roman, der die Behauptung eines ebenfalls nichtbinären Erzählers gegen die gesellschaftlichen Erwartungen zum Gegenstand hat. Es ist ein eindrucksvolles Buch."

Vollkommen richtig findet auch Judith von der Sternburg in der FR die Juryentscheidung. Aus dieser Juryentscheidung spreche "Lust darauf und Spaß daran, sich auch auf literarische Wagnisse einzulassen", kommentiert Dirk Knipphals in der taz. In der SZ fühlte sich Marie Schmidt allerdings angesichts der Überdeutlichkeit des politischen Statements etwas unwohl.

Jens Uthoff porträtiert in der taz Serhij Zhadan, der in diesem Jahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird. (Siehe dazu auch beim Perlentaucher unsere Kolumnistin Marie Luise Knott - Bücher von Zhadan haben wir Ihnen in diesem Dossier zusammengestellt). Bestaunenswert findet Uthoff, was Zhadan derzeit alles zu bewältigen hat: Krisenbewältigung in Charkiw, Kommentieren der Kriegsereignisse, Touren mit seiner Band. "Zhadan ist in diesen Tagen weniger ein Mann der Literatur als vielmehr einer im Kampfmodus. ... Preiswürdig waren Zhadans Arbeiten aber schon lange, sein Roman 'Internat' (2018) erzählt dicht, tief und dringlich von dem seit 2014 andauernden Krieg im Donbass. Und dann denkt man sich auch: Hätten seine Gedichte, Romane und Songtexte doch schon früher (noch) mehr Menschen im Westen gelesen, hätte man ihm doch schon eher so viel Aufmerksamkeit geschenkt! Womöglich wären die Ukrainer:innen nicht immer wieder so eklatant missverstanden, wäre die russische Gefahr nicht derart unterschätzt worden."

Zhadans neues Buch "Der Himmel über Charkiw" versammelt seine Facebook-Postings der Kriegsmonate. Dass er die russischen Soldaten mitunter als ehrenlosen "Abschaum" bezeichnet, ist eine Kröte, die man als deutscher Literaturkritiker erstmal schlucken muss, schreibt Christian Thomas in der FR. "Wie auf eine dermaßen kriminelle Kriegsführung reagieren, als Leidtragender einer enthemmten Kriegsstrategie - wie aber auch aus sicherer Distanz reagieren, ohne flott rezensieren zu wollen, wenn man auf eine Rote Linie verweist, sprachlich, moralisch, weil der Autor die Russen an zwei weiteren Stellen als 'Unrat' bezeichnet. Im Nachwort räumt Zhadan ein, dass der Krieg die 'Perspektive verschiebt, die Wahrnehmung', so 'dass dir die Worte fehlen'." Das Buch ist "Beleg für eine Ohnmacht der Worte. Unredigiert aber auch ein Dokument für den einen oder anderen verbalen Schnellschuss, geschuldet Twitter und Facebook. Eingestandenermaßen ist es für Zhadan eine Absage an den Schriftsteller Zhadan. Keine Zeit für 'die Literarisierung der Wirklichkeit'." Dazu passend: In der SZ geben Durs Grünbein, Katja Lange-Müller und Dirk von Petersdorff Antworten darauf, was Literatur in Krisenzeiten leisten kann.

Der ukrainische Schriftsteller Oleksandr Mykhed bringt in der FAZ Notizen mit Eindrücken aus dem bombardierten Kiew. Eine Kreuzung, über die er täglich geht, ist ebenfalls beschossen worden: "Die Russen haben es auf Zivilisten abgesehen. Sie greifen Kiew um acht Uhr morgens an, zur Stoßzeit. Die Eltern bringen ihre Kinder zur Schule und eilen zur Arbeit. Es ist die Zeit, in der man seinen Hund Gassi führt. Jemand kommt gerade aus einem Lebensmittelladen, nachdem er sich etwas fürs Frühstück gekauft hat. Die Russen wollen einen Terroranschlag, um Panik und Schrecken zu verbreiten."

Für Pascal Bruckner hat die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux "teil an diesem linken Antisemitismus, der sich nur schlecht unter dem Schleier des Antizionismus versteckt", schreibt der französische Schriftsteller in der NZZ und teilt aus:  "Mit Jean-Luc Mélenchon befindet sie sich im Umfeld einer rot-braunen Strömung, und man fragt sich fast, ob sie nicht näher beim Israel-Hasser Alain Soral oder beim antisemitischen Komiker Dieudonné steht als bei Simone de Beauvoir oder Albert Camus, mit denen sie sich bescheidenerweise verglich. Bleibt eine Frage: Hat die Nobelpreis-Jury Annie Ernaux die prestigeträchtige Auszeichnung trotz oder wegen ihres politischen Engagements verliehen?"

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel stimmt Gerrit Bartels auf die Frankfurter Buchmesse ein. In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Bernd Noack berichtet in der NZZ von der Situation am Literatur-und Kulturzentrum "Gedankendach" in Czernowitz. Und der Schriftsteller Shehan Karunatilaka erhält den Booker-Prize, melden die Agenturen.

Besprochen werden unter anderem Abdulrazak Gurnahs "Nachleben" (taz, NZZ), neue spanische Romane von Javier Cercas und Miqui Otero (taz), Rebecca Solnits "Orwells Rosen" (Zeit), Lukas Bärfuss' "Vaters Kiste" (NZZ) und Andreas Isenschmids "'Der Elefant im Raum'. Proust und das Jüdische" (FAZ). Außerdem liegt der taz heute eine Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse bei, die wir in den kommenden Tagen an dieser Stelle auswerten - hier das Editorial von Dirk Knipphals und Tania Martini, besprochen werden unter anderem Karen Duves "Sisi" und Nils Minkmars "Montaignes Katze".
Archiv: Literatur

Bühne

Lessings "Minna von Barnhelm am Deutschen Theater. Foto: Arno Declair

Hingerissen ist Peter Laudenbach in der SZ von Anne Lenks Inszenierung der "Minna von Barnhelm" am Deutschen Theater, die ihm den Klassiker ganz frisch und voller Spielfreude präsentierte: "Lessings Witz und seine Komödienpoetik, die er der Titelfigur in den Mund legt, passen hervorragend zu Lenks Theaterstil: "Kann man denn auch nicht lachend sehr ernsthaft sein?" Doch, kann man, absolut. Und dass Minnas Verlobter, der im Krieg zum Krüppel geschossene, wegen Korruptionsvorwürfen unehrenhaft entlassene und auch noch bankrotte Major von Tellheim vor lauter Standes- und Männlichkeitsdünkel keinen klaren Gedanken hinkriegt und mit seiner Ehrbarkeits- und Edelmut-Eitelkeit endlos rumzickt, ist natürlich vor allem eines: sehr komisch und keinesfalls tragisch."

Maresi Riegner und Dörte Lyssewski. Foto: Susanne Hassler-Smith


Mitreißend findet Bernhard Loy in der FAZ Thomas Bernhards Kampfspiel "Am Ziel", das Matthias Rippert am Burgtheater inszeniert hat. Es erzählt von einer Frau, die sich aus einfachen Verhältnissen mit maximaler Härte gegen sich und andere zur Unternehmergattin aufgeschwungen hat: "Es ist eine überwältigende Theatererfahrung: Wie Dörte Lyssewski mit ihrem gewaltigen stimmlichen und physischen Repertoire den Dramatisierungszwang dieser absoluten und zugleich tief zerrissenen matriarchalen Herrscherinnenfigur ausschreitet und über zwei Stunden lang pausenlos alle Register zwischen grotesker Selbstentblößung und Gefühlskälte, zwischen Zärtlichkeitsattacken und vulgär-animalischen Ausfällen bedient. Nicht minder großartig gibt Maresi Riegner die Tochter, die als eine der Bernhardschen 'Schweigefiguren' kunstvoll auf der Grenze zwischen Debilität und Verschlagenheit wandelt."

Von Vorteil für alle Seiten findet Michael Stallknecht die Reinszenierung älterer Produktionen, auf die immer mehr Opern zurückgreifen: "Man zeigt, was ohne Wenn und Aber ästhetisch auf der Höhe der Zeit ist, aber sich andernorts bereits bewährt hat."

Besprochen werden Martin Kušejs Fassung des Kino-Kammerspiels "Nebenan" von Daniel Brühl und Daniel Kehlmann im Wiener Burgtheater ("rechtschaffen-brav" findet Ronald Pohl im Standard, SZ), Pia Richters Inszenierung von Shakespeares "Romeo und Julia" am Schauspiel Leipzig (Nachtkritik) und Gustav Mahlers "Lied von der Erde" in der Neuköllner Oper (Tsp).
Archiv: Bühne

Film

In dem iranischen Gefängnis, bei dem es vergangenes Wochenende bei einem Brand und mehrere Tote gab, sind auch die Filmemacher Jafar Panahi und Mohammed Rasoulouf eingesperrt. Panahis Ehefrau konnte sich telefonisch erkunden, wie es den beiden geht, berichtet Christiane Peitz im Tagesspiegel. "Panahi habe bestätigt, dass auch er unter dem Einsatz von Tränengas gelitten habe, mit dem die Gefängnisinsassen zurückgedrängt wurden, als sie vor dem Feuer fliehen wollten. Beide, so sagte Saeedi im Interview mit Radio Farda, dem iranischen Ableger von Radio Free Europe, seien den Umständen entsprechend aber wohlauf. Über den dritten, ebenfalls seit Juli inhaftierten Regisseur Mostafa Aleahmad äußerte sie sich den Angaben zufolge nicht."

Besprochen werden Edgar Reitz' Autobiografie (FAZ) und die Serie "This England" mit Kenneth Branagh als Boris Johnson (Presse).
Archiv: Film

Kunst

Bild: Koki Tanaka
Sehr feinsinnig findet Sophie Jung in der taz, wie der japanische Künstler Koki Tanaka im Berliner Haus der Kulturen am Wochenende vorführte, wie sinnvoll kollektives Arbeiten sein kann: "In kleinen Gruppen platzierte Koki Tanaka die Geladenen in seinen Installationen, trug ihnen Aufgaben auf - es galt, aus einem Ursud drei Suppen zu kochen oder aus den Teppichbodenrollen einen Unterschlupf zu bauen - und ließ sie sich dabei in ein lockeres Gespräch vertiefen. Mehrere Kameras filmten, alles wurde auf Screens wiedergegeben. Die Zuschauer:innen, ausgestattet mit Kopfhörern, konnten durch die Halle laufen, sich auf einen Liegestuhl legen, Suppe essen, zuschauen und zuhören."

Weiteres: Im Standard bringt Olga Kronsteiner Hintergründe zur Suppenattacke der beiden Klimaaktivistinnen gegen Vincent van Goghs "Sonnenblumen" in der National Gallery von London. Besprochen werden eine Schau zur Selbstikonisierung der Frida Kahlo im Modemuseum Paris (die zum Ärger von Monopol-Kritikerin Alexandra Wach ihr künstlerisches Werk völlig außer Acht lässt) und Shara Hughes' Landschaftsbilder im Kunstmuseum Luzern (NZZ).
Archiv: Kunst

Musik

Jan Brachmann schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Festivalleiter Klaus Lauer. Marlene Knobloch porträtiert in der SZ Matty Healy, den Frontmann der Band The 1975. Karl Fluch porträtiert derweil die aus dem Iran stammende Wiener Sängerin Saedi, die ihre biografische Erfahrungen auf ihrem neuen Album "in eine dunkle Schönheit" kleidet:



Besprochen werden der Tourauftakt von The Cure in Hamburg (taz), die Memoiren von Pulp-Sänger Jarvis Cocker (Welt), eine Box mit frühen Aufnahmen von Lou Reed (FR), neue Alben von Athina Kontou und ihrem Jazzquartett Mother (Zeit) und M.I.A., die ihre Kunst derzeit allerdings laut ZeitOnline-Kritikerin Julia Lorenz mit "plumpem Verschwörungsgedröhne" überschattet.
Archiv: Musik
Stichwörter: Cocker, Jarvis