Efeu - Die Kulturrundschau

Jelinek oder Bernhard

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20.10.2022. In der Zeit erkundet Serhij Zhadan, wie ein Mensch auf die Welt blickt, der eine Waffe in der Hand hält. In der Zeit stellt Stefanie Reinsperger auch die Grundsatzfrage. Die SZ erlebt am Schauspiel Hannover Identitätspolitik als intriganten Statuskampf. Die FAZ wirft der Stiftung Bauakadamie vor, im ökologischen Gewand nur reinen Lobbyismus für die Architektenszene zu betreiben. Im Van Magazin erklärt der Hornist Ulrich Haider, warum es sich ein Orchester nicht leisten kann, mit der Bahn zu fahren.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.10.2022 finden Sie hier

Literatur

Die Zeit dokumentiert einen Briefwechsel zwischen dem amerikanischen Dichter Reginald Dwayne Betts und dem ukrainischen Autor Serhij Zhadan, der in diesem Jahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird. Es geht unter anderem um die Erfahrung, eine Waffe in die Hand zu nehmen - was Zhadan erstmals am Tag nach dem russischen Angriff auf die Ukraine tat: "Ein Mensch mit einer Waffe in der Hand hat eine völlig andere Sichtweise auf die Welt: Sie ist ausgestattet mit völlig anderen Möglichkeiten. Diese Art der Erfahrung ist zwar leicht zu haben, aber schwer wieder loszuwerden." Doch "umgekehrt sieht ein unbewaffneter Mensch den Krieg ganz anders und erlebt ihn ganz anders. ... Mir war es immer wichtig, die Stimmen von Menschen zu vernehmen, die sich nicht wehren können. Offensichtlich werden wir ohne diese Stimmen, die der große polnische Dichter Czesław Miłosz einst als die 'Stimmen der armen Leute' bezeichnete, nicht in der Lage sein, den Klang des Krieges, seine blutige, aber sehr wahre Polyfonie vollständig zu hören und zu verstehen."

In der NZZ umkreist Kim de l'Horizon, gerade mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet (hier und dort unsere Resümees), zwei Erlebnisse der jüngeren Zeit: Eine körperliche Attacke auf einem U-Bahnhof in Berlin, weil de l'Horizon Lippenstift trug, und die Ansage des Schweizer Bundesrats Ueli Maurer, keine trans Person als Nachfolge zu wünschen. Was beide Männer "eint, ist das Feindbild. Was euch eint, ist der Hass auf Körper wie den meinen. Was, frage ich euch, ist so schlimm an meinem Körper, dass ihr ihn schlagen und aktiv von politischer Führung ausschließen möchtet? Was habe ich euch getan? Was, ihr um euch schlagenden Männer, seht ihr in mir, das euch dermassen bedroht? ... Ich möchte durch diese Wunden sprechen, aber nicht als ein 'Wir'. Denn ich spreche nicht für 'die' trans* und nonbinären Menschen. Es gibt keine Gender-Ideologie, keine Queer-Propaganda".

Weitere Artikel: Sophia Zessnik berichtet in der taz vom Auftakt der Frankfurter Buchmesse. Es ist "hervorragend gelungen", den spanischen Pavillon der Frankfurter Buchmesse einladend zu gestalten, findet Paul Ingendaay in der FAZ.  Die FAS hat eine Erinnerung des spanischen Schriftstellers Isaac Rosa an Staudämme und -seen online nachgereicht. Außerdem verkündet die SZ die acht spanischen Bücher, die man in diesem Jahr gelesen haben muss.Die FAS hat Anne Ameri-Siemens' Gespräch mit der isländischen Schriftstellerin Steinunn Sigurðardóttir über die Gletscher ihrer Heimat online nachgereicht.
 
Besprochen werden unter anderem Leïla Slimanis "Schaut, wie wir tanzen" (FR), wiederveröffentlichte Bücher von Witold Gombrowicz (Zeit), das Hörbüch "Vertreibung des Geistes" mit gesammelten Radiogesprächen mit Intellektuellen, die vor den Nazis flüchten mussten (Zeit), Martin Mosebachs "Taube und Wildente" (Welt, FR), Fernando Aramburus "Die Mauersegler" (FR), die mehrbändige, unter anderem von Martin von Koppenfels herausgegebene Anthologie "Spanische und hispanoamerikanische Lyrik" (SZ) und Almudena Grandes' "Die drei Hochzeiten von Manolita" (FAZ).
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Bühne

Operation gelungen, Ensemble beschädigt: Stefanie Reinsperger in Thomas Bernhards "Theatermacher". Foto: Matthias Horn

Judith Liere trifft für die Zeit die fantastische Stefanie Reinsperger, die ab heute am Berliner Ensemble Thomas Bernhards "Theatermacher" spielen wird: "Reinsperger fand die Idee erst mal 'verrückt', auch weil sie ein Elfriede-Jelinek-Fan sei: Entweder Jelinek oder Bernhard, das sei eine Grundsatzentscheidung. Auch habe ihr erst der Zugang zur Figur gefehlt, 'ich muss eine Rolle lieb haben können, schließlich muss ich sie ja auf der Bühne verteidigen'. Das sei nicht einfach bei so einem narzisstischen, frauenverachtenden Arschloch wie Bruscon - zumal der, in Überzeichnung, auch noch die Regietyrannei verkörpert, unter der auch Reinsperger schon zu leiden hatte. Letztlich sei es Bruscons Einsamkeit gewesen, über die sie eine Verbindung zur Figur herstellen konnte, dieses Unverstandenfühlen in der eigenen Kunst. Reinsperger bei der Probe zuzuschauen macht großes Vergnügen, weil anschaulich wird, wie schnell sie die Gefühlszustände wechseln kann, wie sie den widerlichen Theatertyrannen gibt, der schwitzend und ätzend alle anderen niedermacht, während sie außerhalb der Rolle freundlich, rücksichtsvoll, empathisch wirkt."

Chancenlos im Statuskampf: Robert Ickes "Die Ärztin". Foto: Kerstin Schomburg / Schauspiel Hannover

Sehr verdienstvoll findet Till Briegleb in der SZ, wie sich das Schauspiel Hannover mit Robert Ickes Stück "Die Ärztin" der destruktiven Dynamik woker Diskurse entgegenstellt. In einer Überschreibung von Schnitzlers "Professor Bernhardi" erzählt der britische Autor die Geschichte eines Arztes, der einem Priester den Zugang zu einer jungen Patientin verwehrt, die nach einer missglückten Abtreibung im Sterben liegt. Alle vermuten Übles und sehen für sich eine Chance: "Das Prinzip getäuschter Erwartung wird zur ständigen Mahnung, schnellen Zuschreibungen zu misstrauen. Allerdings nur für die erste Hälfte des Abends, in der sich im Stil eines psychologischen Thrillers die heuchlerische Seite laut proklamierter Integrität entblößt. In clever geschriebenen Szenen werden ständig gutmeinende Argumente als strategische Waffen enttarnt, um den eigenen Vorteil zu vergrößern. Dieser intrigante Statuskampf um die Herrschaft in der Klinik, geführt mit Verweisen auf Religion, Hautfarbe und Geschlecht, ändert im zweiten Teil kategorisch seine Gesichter."

Weiteres: Lena Bopp schickt der FAZ ein paar Eindrücke aus der Beiruter Kulturszene. Nina Bub berichtet in der FAZ, wie die Theater mit nötigen Energieeinsparungen Besprochen wird eine Ausstellung über den Theaterstar Tilla Durieux im Wiener Leopold Museum (NZZ).
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Architektur

Andreas Kilb ärgert sich in der FAZ maßlos darüber, wie die Bundesstiftung Bauakademie die Rekonstruktion von Schinkels Bauakadamie hintertreibt. Am Mittwoch forderte eine "offene Wissens- und Dialogplattform", einen "respektvollen Umgang" mit der Geschichte des Ortes und vor allem Klimaresilienz: "Mit dieselbe Begründung ließe sich gegen die Rekonstruktion jedes anderen zerstörten historischen Bauwerks anführen. Auch die Dresdner Frauenkirche war nicht klimaneutral; hätte man ihre Trümmer lieber begrünen sollen? Was hier aufgeführt wird, ist ein Stück Lobbyismus im ökologischen Kostüm: Die deutsche Architekten- und Stadtplanerszene möchte das Budget, das für die Bauakademie vorgesehen ist, für ihre Selbstdarstellungs- und Vernetzungszwecke nutzen. Das muss die Politik verhindern, wenn sie im Sinne Schinkels handeln will."
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Kunst

jan Vermeer: Der Soldat und das lachende Mädchen, 1657. Bild: Frick Collection

In der FAZ rät Alexandra Wach dringend zu einem Abstecher nach den Haag zur Schau "Manhattan Masters" im Mauritshuis, mit der die New Yorker Frick Collection für die Zeit ihres Umbaus ihre Alten Meister zeigt, darunter Rembrandt, Vermeer, Holbein und Bellini: "Dass sie ausnahmsweise den Weg zurück über den großen Teich gefunden haben, darunter Landschaften der weniger prominenten Aelbert Cuyp, Meindert Hobbema, Isaac van Ostade, Philips Woewerman und Jacob van Ruisdael und zwei Porträts von Rembrandts Schülern, ist einer Renovierung geschuldet. Es ist das erste und wohl das letzte Mal, denn Fricks Testament schreibt vor, dass alle Bilder im Museum bleiben müssen."

Weiteres: Tobias Timm schildert in der Zeit, wie sich die Museen auf alle Eventualitäten vorzubereiten beginnen und bombensichere Depots suchen. Besprochen werden eine Schau des flämischen Dadaisten Paul van Ostaijen im Berliner Stadtmuseum (BlZ) und eine Helmut-Newton-Ausstellung im Kunstforum Wien (Standard).
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Film

Netflix-Chef Reed Hastings versucht in einem Schreiben an seine Aktionäre, diese davon zu überzeugen, dass das Ziel nicht grenzenloses Wachstum sein kann, berichtet Peter Weissenburger in der taz. "Netflix sieht einer realistischen Möglichkeit entgegen: dass sein Markt demnächst ausgeschöpft sein könnte. Bei neuen Märkten, gerade im Netz- und Tech-Bereich, setzt schnell ein Gewöhnungseffekt ein: Stetiges Wachstum wird erwartet. Dennoch kommt irgendwann auch jede Innovation an ihre Grenzen. Netflix versucht, den Moment für sich erzählerisch zu wenden: Wir sind das etablierte Produkt, die gut geölte Nähmaschine. Wir machen Gewinn, und das ist wichtiger als Wachstum." Doch Netflix "befindet sich an einer Sollbruchstelle. Wenn Netflix das Vertrauen der Anleger*innen durch Profit wiedererlangen will, muss es diesen sichern".

Außerdem: Daniel Kothenschulte spricht in der FR mit Iris Berben über deren Leben. Berit Glanz staunt in einem online nachgereichten FAS-Artikel über die Fortschritte im Bereich der Wasser-Darstellungen im Animationsfilm. Johannes Schneider schreibt auf ZeitOnline einen Nachruf auf den Schauspieler Fred Fussbroich.

Besprochen werden Lucile Hadzihalilovics auf Mubi gezeigter Kunst-Horrorfilm "Earwig" (Perlentaucher, critic.de), Cédric Jimenez' "November" über den Anschlag aufs Bataclan ("Wie gut, dass es weitere Filme zum Thema gibt", seufzt Barbara Schweizerhof in der taz, SZ-Kritiker Philipp Stadelmaier findet den Film mitunter "politisch mehr als fragwürdig"), Santiago Mitres auf Amazon gezeigtes Geschichtsdrama "Argentina, 1985" (SZ), die DVD-Ausgabe von Julie Lecoustres "Zero Fucks Given" (taz), Susanne Regina Meures' Porträtfilm "Girl Gang" über eine junge Influencerin (taz), der Superheldenfilm "Black Adam" mit Dwayne Johnson (Tsp, NZZ) und Sönke Wortmanns Eheschließungslustspiel "Der Nachname" (Standard, Welt). Außerdem weiß die SZ, welche Filme sich diese Woche lohnen und welche nicht.
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Musik

Orchestermusiker würden ja gerne klimaschonend mit der Bahn zu Konzerten reisen, doch ein solches Unterfangen stellt regelmäßig russisches Roulette mit der kompletten Konzertorganisation dar, kommentiert ein darüber sehr verzweifelter Ulrich Haider, stellvertretender Solohornist der Münchner Philharmoniker, auf VAN: "An Konzerttagen mit der Bahn zu fahren, kann man als Orchester mittlerweile kaum mehr riskieren." Denn "die Wahrscheinlichkeit, nicht rechtzeitig am Konzertort anzukommen, ist zu groß - vor allem, wenn auch noch Ruhezeiten eingehalten werden sollen. ... Für uns Musiker:innen ist es mittlerweile selbstverständlich, dass wir an freien Tagen den Zug nutzen, auch für längere Strecken. Es muss aber doch ebenso möglich sein, dass wir an Konzerttagen ohne Stress und mit angemessenen Ruhephasen vor dem Konzert ankommen - und zwar zu den Zeiten, die der Fahrplan verspricht, und mit reservierten Sitzplätzen. In Japan geht's doch auch!"

Eleonore Büning resümiert im VAN-Magazin die Donaueschinger Musiktage. Unter anderem beeindruckte sie "Heliotrop", in dem Komponist Nikolaus Brass auf den russischen Angriff auf die Ukraine reagiert. "Kein plakativer Aufschrei. Vielmehr ein Langzeit-Thriller, ein stilles, intensives Stück. Und eines der besten, die in diesem Jahr zu erleben waren: 'Heliotrop' wendet sich in den spektral gefärbten Harmonien letztlich vorsichtig, wenn auch nicht ohne Hoffnung, dem Licht zu. Die Vocalsolisten atmen, ächzen und summen. Sie singen ineinander fließende Vokalisen zu, die hoch hinauf steigen. Schlagen sich fast lautlos auf Brust und Wange, streichen knisternd an ihren Ärmeln entlang. Diese Klanggestik sinkt ab ins Unhörbare, so leise und zerbrechlich, dass durch die doppelt geschlossenen Türen im Mozartsaal der Donauhalle das Gerede des Aufsichtspersonals hörbar werden kann. Ein unverständliches, wahrscheinlich auch unwichtiges Gemurmel. Ein Gruß aus der Wirklichkeit."

Weitere Artikel: Im Groove-Magazin seziert Kristoffer Cornils in einer Mediennachlese, wie es zu der Falschmeldung kam, dass das Berghain angeblich noch in diesem Jahr schließen werde: "Offensichtlichen Nonsens als Nachricht zu kolportieren, zeugt von einer gewissen Rücksichtslosigkeit, die Musikjournalismus im Ganzen einen Bärendienst erweist." Marie Montexier, die als DJ tätig ist, klagt in der taz den Sexismus in der Elektro-Szene an: Diese "ist weit davon entfernt, Räume für alle gleichermaßen safe zu gestalten". Jan Paersch spricht für die taz mit der Pianistin Beth Orton. Im VAN-Magazin porträtiert Jeffrey Arlo Brown den Dirigenten Jakub Hrůša, der in drei Jahren neuer Musikdirektor des Royal Opera House wird. Hartmut Welscher spricht im VAN-Magazin mit dem Dirigenten Herbert Blomstedt, der mit seinen 95 Jahren noch immer quietschfidel und auskunftsfreudig wirkt. Arno Lücker widmet sich in seiner VAN-Reihe über Komponistinnen hier Elsa Calcagno und dort Maija Einfelde.

Besprochen werden ein Auftritt von Brezel Göring (FR), ein Dokumentarfilm über Igor Levit (NZZ), ein Konzert von The Cure in Berlin (Tsp) und ein neues Album des Jazztrompeters Theo Croker (SZ).

Archiv: Musik