Efeu - Die Kulturrundschau

Das Atmen eines Riesen

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24.10.2022. Die Feuilletons feiern den Friedenspreis für den ukrainischen Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan. In ihrer in der taz abgedruckten Laudatio stellt Sasha Marianna Salzmann klar: Der Dichter sei nicht einfach nur ein Seismograf. Er ist ein Freund. In El País berichtet der Literaturagent Andrew Wylie, dass Salman Rushdie nach dem Attentat auf einem Auge blind bleiben wird. Die FAS bewundert, wie dunkel die Komponistin Hildur Gudnadóttir ein AKW dröhnen lassen kann. Und das Zeitmagazin annonciert die Rückkehr des Grunge in der Mode. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.10.2022 finden Sie hier

Literatur

Der Friedenspreis für den ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan bestimmt heute die Feuilletons. Ein Mitschnitt der Verleihung mit Sasha Marianna Salzmanns Laudatio und Zhadans vom Publikum mit langem Applaus gefeierte Preisrede steht bei der ARD online. Die taz dokumentiert Salzmanns Laudatio zum Nachlesen: "Jeder einzelne von Zhadans Texten wird bestimmt von der Haltung des Dialogs, der Auseinandersetzung mit seiner Außenwelt. Seine Dichtung ist nie hermetisch, nie in sich verschlossen. Ein Auge schaut immer hinaus in die Welt, eine Hand scheint ausgestreckt und bereit, die Lesenden mit ins Gespräch zu ziehen. ... Ja, der Dichter sieht, was geschieht, aber er ist kein Seismograf, der nur stoisch die Erdbebengefahr protokolliert. Er ist ein Freund. Einer, der versteht, und wenn er nicht versteht, ist er bereit, zuzuhören. Hier ist einer, der sich mit an den Tisch setzt und das Glas hebt. Der auf den Hochzeiten seiner Desperados mittanzt." Die derzeit auf Deutsch lieferbaren Bücher von Zhadan haben wir hier für Sie zusammengestellt.

Dass Bundespräsident Steinmeier der Verleihung fernblieb, findet Sandra Kegel in der FAZ schwach. Umso souveräner Zhadans Auftritt: "Er ließ die Sprache gleichsam zum Spiegel werden, der eben doch erahnen ließ, was das mit einem Bewusstsein macht, wenn der Krieg keinen Zukunftsgedanken mehr erlaubt. ... Diese kurze Stunde in der Frankfurter Paulskirche muss man schon jetzt historisch nennen, auch, weil Zhadan selbst es war, der die eigenen, für die beklommenen Außenstehenden teilweise verstörenden Begrifflichkeiten, die er im Buch für den russischen Aggressor findet, unterlief." Auch Adam Soboczynski wird noch lange an diese Verleihung zurückdenken, schreibt er auf ZeitOnline, in der er eine mutige Entscheidung sieht: Der patriotische Kriegsautor, wie er in "Himmel über Charkiw" dokumentiert ist, "meidet in seiner großartigen, die Grenzen der Sprache in Zeiten des Krieges auslotenden Dankesrede, jeden nationalistischen Überschwang. Er konzentriert sich auf das Aufsprengen von Zeit und Raum im Krieg, auf 'das Gefühl der gebrochenen Zeit', er spricht vom 'Fehlen von Dauer', vom 'Gefühl der zusammengepressten Luft, du kannst kaum atmen, weil die Wirklichkeit auf dir lastet und versucht, dich auf die andere Seite des Lebens, auf die andere Seite des Sichtbaren abzudrängen'. ... Aber er wird in anderer Hinsicht dann doch sehr deutlich, er greift jene an, die für einen 'schnell geschlossenen Frieden' plädieren. Das hält er für einen Versuch, 'in der Komfortzone zu bleiben', für einen 'falschen Pazifismus'."

Als "Symphoniker des Lichts" würdigt Alexander Kissler den Preisträger in der NZZ, für tazler Jens Uthoff ist er "ein genauer Beobachter, ein Humanist durch und durch". Weitere Zusammenfassungen von Laudatio und Rede bringen Judith von Sternburg (FR) und Gerrit Bartels (Tsp). Im Standard führt Michael Wurmitzer durch Zhadans Leben und Werk. Außerdem erinnern wir gerne an Marie Luise Knotts Notizen im Perlentaucher zu Zhadans Poesie.

Und sonst so in Frankfurt? Es war immerhin das Comeback der Buchmesse nach viel coronabedingtem Hin und Her. Marc Reichwein von der Welt erlebte eine Buchmesse "mit regem Besucherzuspruch", aber auch eine "diskursiv wiederauferstandene" Veranstaltung - und "die Ukraine war ihr Pulsschlag". "Entspannte Atmosphäre, solides Programm", schreibt Kai Spanke in der FAZ - bei 4000 Ausstellern (statt über 7000 wie noch 2019) packt ihn allerdings etwas Sorge: "Die Messe hat nach den vergangenen zwei Jahren noch nicht zu ihrem alten Format zurückgefunden." Mara Delius beobachtet eine verunsicherte Branche, "weil der Effekt der multiplen aktuellen Krisen von der Papierpreisexplosion bis zur Inflation bisher erst in seinen Anfängen spürbar und damit noch nicht richtig behandelbar sei", schreibt sie auf Welt+.

Themenwechsel: Guillermo Altares spricht für El Pais mit Andrew Wylie, einem der wichtigsten internationalen Buchagenten. Unter anderem ist Salman Rushdie bei ihm unter Vertrag, über dessen Zustand er gute und schlechte Neuigkeiten hat. Die gute: Rushdie wird leben. Die schlechte: "Seine Verletzungen gingen tief, darüber hinaus wird ein Auge blind bleiben. Er hatte drei ernsthafte Verletzungen im Nacken. Eine Hand ist gelähmt, weil die Nerven in seinem Arm durchtrennt wurden. Und er hat 15 mehr Verletzungen auf Brust und Torso. Es war ein brutales Attentat. ... Dieser Angriff war wahrscheinlich genau das, worüber Salman und ich in der Vergangenheit diskutiert hatten: Dass die grundsätzliche Gefahr, der er entgegensah, nachdem die Fatwa über ihn verhängt wurde, darin besteht, dass irgendeine Person aus dem Nichts kommen und ihn angreifen würde. Gegen so etwas kann man sich nicht schützen, es kommt völlig unerwartet und ist unlogisch. Es war wie der Mord an John Lennon."

Weitere Artikel: In der NZZ setzt Sergei Gerasimow hier und dort sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Ronald Pohl porträtiert im Standard Kim de l'Horizon. Isabella Caldart führt auf 54books durchs literarische Barcelona. Alexander Cammann spaziert für die Zeit mit der Schriftstellerin Isabel Fargo Cole durch Berlin. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Marc Reichwein an den Springer-Boykott der Gruppe 47. Der Standard bringt einen bislang unveröffentlichten Text der Schriftstellerin Ilse Helbich. Außerdem meldet die Jury des Tagesspiegels ihre Lieblingscomics der Saison - an der Spitze: Flix' Marsupilami-Abenteuer "Das Humboldt-Tier".

Besprochen werden unter anderem Navid Kermanis Aufsatzsammelband "Was jetzt möglich ist" (Standard), Robert Menasses "Die Erweiterung" (online nachgereicht von der FAZ), Andrea Giovenes "Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero" (SZ), Lize Spits "Ich bin nicht da" (NZZ), Viktor Schklowskis "Zoo. Briefe nicht über Liebe, oder Die dritte Heloise" (Jungle World), Steffen Menschings "Hausers Ausflug" (online nachgereicht von der FAZ) und Chantal-Fleur Sandjons Jugendroman "Die Sonne, so strahlend und schwarz" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Marie-Luise Bott über Christoph Meckels "Der Tag wird kommen":

"Und der Tag nach der nächsten Friedensfeier - wird er kommen
mit einer Taube oder einem Schlagring ..."
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Design

Im ZeitMagazin ruft Tillmann Prüfer ein Grunge-Comeback in der Mode aus. Dieses zeichnet sich aus "durch oversized T-Shirts zu sehr engen Hosen bei Givenchy, schwarze Jacken zu klobigen Boots bei Valentino, enge schwarze Blazer mit breiten Schultern bei Saint Laurent und schwarze Sweatshirts zu schwarzen Lederhosen bei Balenciaga. Leider lässt sich kaum sagen, was dieses Comeback des Grunge auf breiter Front heute zu bedeuten hat. Aber wofür oder wogegen man genau war, wussten die Original-Grunger der Neunzigerjahre ja auch schon nicht."

Und Vanity Fair meldet, dass jetzt selbst Balenciaga die Nase voll hat von Kanye West.
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Film

Dominik Kamalzadeh empfiehlt im Standard den Viennale-Schwerpunkt mit Filmen der Filmemacherin Elaine May. Valerie Dirk sichtet auf der Viennale die Filme des mauretanischen Regisseurs Med Hondo. Standard-Kritiker Bert Rebhandl nimmt derweil vorlieb mit der Viennale-Retrospektive Yoshida Kiju.

Besprochen werden Fatih Akins Biopic "Rheingold" über den Rapper Xatar (Zeit), Uli Deckers Dokumentarfilm "Anima - Die Kleider meines Vaters" (Tsp), die True-Crime-Serie "Black Bird" (Zeit) und Jaume Collet-Seras Superheldenfilm "Black Adam" (Standard, unsere Kritik).
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Bühne

Schnitzlers "Professor Bernhardi". Foto: Britt Schilling / Theater Freiburg

Etwas mehr Screwball-Witz hätte sich Nachtkritiker Jürgen Reuß in Amir Reza Koohestanis Freiburger Inszenierung von Arthur Schnitzlers Klinikdrama "Professor Bernhardi" gewünscht: "Was in den insgesamt gut zwei Stunden dann vor aufs Notwendigste reduziertem Bühneninventar verhandelt wird, hebt allerdings schnell vom Klinikserienplot ab in ein Lehrstück über die Geburt des Populismus auf der Leiche eines Mädchens. "Professor Bernhardi" ist ein zu tiefst zynisches Stück, dem das Leben einer schwangeren 14-Jährigen, die sich beim Versuch selbst abzutreiben eine tödliche Blutvergiftung zuzieht, nur als Sprungbrett in den politischen Intrigenstadl dient... Kurz: Wer in diesem Krankenhaus lebt oder stirbt ist unwichtig. Wichtig sind Ehrenkodex, Karriere, Politik, Opportunismus - das übliche Männerspiel, bei dem tote Frauen höchstens als Fleck auf der weißen Weste betrauert werden."

Besprochen werden Nora Schlockers Inszenierung von Hugo von Hofmannsthals Trauerspiel "Der Turm" am Münchner Residenztheater ("in seiner Gegenwartsferne sehr nah findet FAZ-Kritiker Hinter Hintermeier; "ein unintelligibler, hohl tönender Abend", winkt Christine Dössel in der SZ ab), Anna Smolars Slapstick-Abend "Hungry Ghosts" in München (SZ), Stephen Sondheims makabre Operette "Sweeney Todd" am Mainzer Staatstheater (FR), Leos Janaceks "Katia Kabanova" in Genf (FAZ) und Brigitte Fassbaenders Inszenierung von Rossinis "Barbier von Sevilla" in Meiningen (NMZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Nur noch unaufgeregt meldet etwa die Berliner Zeitung, dass die Umweltruppe Last Generation ihren britischen Vorbildern nacheifert und im Potsdamer Museum Barberini Monets "Heuschober" mit Kartoffelbrei bekleckert hat. Das Gemälde ist hinter Glas gesichert.

Besprochen werden Anne Schönhartings Ausstellung "Habitat" im Haus am Kleistpark, die Menschen in ihren Charlottenburger Wohnungen porträtiert (taz), eine Schau des französisch-schweizerischen Künstlers Julian Charrière in der Langen Foundation in Neuss (bei allem Engagement für die Umwelt sieht FAZ-Kritiker Georg Imdahl hier einen "barocken Theatraliker" am Werk) und eine Ausstellung von Denkmalsentwürfen des Architekten Ludwig Mies van der Rohe im Haus Lemke in Berlin (Tsp)
Archiv: Kunst

Musik

Thomas Lindemann porträtiert in der FAS die isländische Komponistin Hildur Gudnadóttir, die gerade für alle aufregenden Hollywood-Produktionen die Filmmusik schreibt: "Normalerweise wird Filmmusik zu den fertigen Bildern komponiert. Guðnadóttir aber schreibt zum Drehbuch, sie liefert oft schon ab, noch bevor wirklich gedreht wird. Für den Drogenkriegthriller 'Sicario 2' aus dem Jahr 2018 benutzte sie einfach nur bizarre Perkussion, die wie schwere Maschinen oder das Kreischen von Metall klang. Das war fremdartig und böse. Für die HBO-Serie 'Chernobyl' fuhr sie dann selber in ein stillgelegtes Atomkraftwerk, verwendete nur, was sie dort tagelang aufnahm, vom Schlag gegen ein Rohr bis zum Quietschen eines toten Ventils. Es entstand eine rasselnde, dröhnende, vibrierende Musik, wie das Atmen eines Riesen."



Besprochen werden Taylor Swifts neues Album "Midnights" (Welt, mehr dazu hier), die Arte-Doku "Die Welt von morgen" über die Geschichte des französischen Hiphops (taz) sowie Konzerte von Elisabeth Leonskaja (Tsp), Reinhard Mey (Welt, Tsp), Alexander Malofeev (Standard) und Karat (Tsp).
Archiv: Musik