Efeu - Die Kulturrundschau

Es gibt nichts Aufregenderes

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.10.2022. Hollywood hat mit Nicholas Stollers "Bros" seine erste schwule romantische Komödie, die Kritiker sind vergnügt, nur die taz fürchtet: Werden queere Liebesgeschichten jetzt nicht auch trivialisiert? Freitag und taz springen nach der Kritik von Franz Alt und anderen Serhij Zhadan zur Seite: Der Krieg ist keine Modelleisenbahn, erinnert der Freitag. Die SZ rät, unbedingt die Malerin Etel Adnan zu entdecken. Die Angriffe der Klimaaktivisten auf Kunst sind gefährlich für die Demokratie, ruft der Politologe Wolfgang Kraushaar im Tagesspiegel. Die FAZ probiert guten Stoff in Lübeck.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.10.2022 finden Sie hier

Film

When Bobby met Aaron: "Bros"

Mit "Bros" legt Nicholas Stoller vielleicht nicht unbedingt die erste schwule romantische Komödie der Filmgeschichte vor, aber die erste im Kontext einer Hollywood-Produktion. "Nie zuvor dürften sich nichtheterosexuelle Figuren im Mainstreamkino derart konsequent innerhalb eigener Sinnzusammenhänge, einem eigenen queeren Kosmos, bewegt haben", schreibt Arabelle Wintermayr in der taz und lobt die Selbstverständlichkeit des Films, die sie damit allerdings auch wieder ein bisschen unterwandert. Unklar ist dem Publikum ihrer Ansicht nach allerdings, "ob es sich grundsätzlich um eine erstrebenswerte Entwicklung handelt, dass queere Liebesgeschichten in den gleichen Kontexten verhandelt werden wie heterosexuelle. Man kann darin einen Schritt in Richtung begrüßenswerter Gleichbehandlung sehen. Oder aber bedauern, dass sie damit letztlich weiter genauso trivialisiert, in gleichem Maße kommerzialisiert werden."

Nur die Liebe zählt, das ist das Hollywood-Credo schlechthin, schreibt Bert Rebhandl in der FAZ - und in "Bros" ist es bei den beiden Hauptfiguren Liebe auf den ersten Blick: "Zwischen Bobby und Aaron funkt es ein bisschen, sie sehen sich tief in die Augen, und dann macht die Kamera einen Schritt zurück, um offenzulegen, dass sich gleichzeitig zwei weitere Männer gerade oral bei Bobby betätigen. Gruppensex und zweisame Intimität müssen danach erst allmählich zueinander in ein Verhältnis gebracht werden. Das ist zwar keine Herausforderung, vor der nur schwule Männer stehen, aber Eichner macht mit vielen geschickt platzierten Details deutlich, wie stark in einer Stadt wie New York die Promiskuität alles durchwirkt." Im Tagesspiegel fragt sich Jan Künemund, warum der Film in den USA an den Kassen gefloppt ist - was ihn wundert, denn der Film ist einfach "wahnsinnig witzig". Nicht nur als Genrefilm läuft die Gagmaschinerie des Films gut geölt, der eigentliche "Witz liegt in 'Bro' woanders: Die Prämisse des Genres RomCom ist niemals queer." Komiker Billy Eichner ist denn auch "zu sehr brillanter Analytiker der queeren Szenen, deren Sehnsüchte nach gesellschaftlicher Teilhabe durch Anpassung er freilegt, als dass er solche heteronormativen Genrevorgaben eins zu eins umsetzen würde."

Weitere Artikel: Die im Spiegel in einer Reportage artikulierten Vorwürfe gegen Ulrich Seidl könnten von Seilschaften lanciert worden sein, kann sich Manfred Klimek nach seiner auf Welt+ veröffentlichten Recherche in der (sich allerdings sehr verschlossen gebenden) österreichischen Filmszene zumindest vorstellen und wünscht sich, dass Seidl "seine Recherchen in eigener Sache, zu welchen auch die Tonaufnahmen mit den betroffenen Roma-Familien zählen, mit der Öffentlichkeit teilt". Andreas Kilb (FAZ) und Maurizio Ferraris (NZZ) gratulieren dem Schauspieler und Regisseur Roberto Benigni zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Thomas von Steinaeckers Porträtfilm "Werner Herzog - Radical Dreamer" (Tsp, taz), Faith Akins Biopic "Rheingold" über den Rapper Xatar (FAZ), Halina Reijns Meta-Millenial-Horrorfilm "Bodies Bodies Bodies" (Tsp), eine Berliner Ausstellung mit Fotos und Film Stills des Underground-Filmers Lothar Lambert (Tsp), Sebastian Mitres' "Argentinien 1985" (Freitag), der kollektive Dokumentarfilm "Rise Up" über linke Bewegungen (Freitag), David Wagners Coming-Out-Film "Eismayer" (Standard), Tom Georges Krimikomödie "See How They Run" (taz), zwei Bücher von Rainer Dick und Norbert Aping über Stan Laurel und Oliver Hardy (Filmdienst) und ein von Joachim Valentin und Karsten Visarius herausgegebener Aufsatzband über die Faszination des Bösen im Film (Filmdienst). Außerdem weiß die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.

Und große Freude beim Perlentaucher: Gleich zwei bei uns veröffentlichte Kritiken sind in diesem Jahr für den Siegfried-Kracauer-Preis für Filmkritik nominiert - Carolin Weidner mit ihrer Kritik zu Saskia und Ralf Walkers "Der Siebzehnte" und Patrick Holzapfel für seine Kritik zu Ulrike Frankes und Michael Loekens Dokumentarfilm "We are all Detroit". Wir drücken alle Daumen!
Archiv: Film

Literatur

Ziemlich fassungslos steht tazler Jens Uthoff vor dem gestern in der taz veröffentlichen Kommentar von Franz Alt, der Serhij Zhadan als "Völkerhasser" und die Verleihung des Friedenspreises an den ukrainischen Schriftsteller als "Skandal" bezeichnet hat: "Wer das Morden, das Metzeln und den Vernichtungswillen seitens der russischen Armee aus nächster Nähe erlebt und für den dabei empfundenen Ekel, für Abscheu und Hass drastische Worte findet, dem sollte man erst einmal Verständnis entgegenbringen. Serhij Zhadan wählt in seinem Kriegstagebuch 'Himmel über Charkiw' krasse Worte, er schreibt über russische Soldaten als 'Abschaum', 'Unrat' und 'Barbaren'. Wer das zitiert, sollte auch die Kontexte nennen: Es geht um den Angriff auf den Bahnhof in Kramatorsk, um Raketen, die unweit von Zhadans Wohnung einschlagen, um reihenweise ermordete Zivilisten. Um Butscha. Oder eben: um Barbarei."

Keinerlei Verständnis zeigt auch Katharina Körting im Freitag dafür, dass etwa ein Harald Welzer (aber auch andere) den Applaus für den Friedenspreis für Serhij Zhadan kritisiert und auch Zhadan selbst: "Es ist, als beugten sie sich über den grünen Tisch, auf dem der Krieg als Modellbau liegt. Sie verschieben die Truppen und Ideologien und setzen die Lok der Gerechtigkeit auf die Gleise. Aber der Krieg ist keine Modelleisenbahn. Er zerstört die Infrastruktur nicht nur der materiellen Versorgung, sondern verstümmelt auch die des Denkens. ... Den Übergriff von Hass und Gewalt auf die Sprache schildert Zhadan - und kann sich ihm selbst kaum entziehen. Er darf es nicht mal - es wäre illoyal. Wer angegriffen ist, muss Partei er- und zu den Waffen greifen, auch in der Sprache. Wer Unrecht erleidet, will Gerechtigkeit schaffen."

In der FAZ rät der Lyriker Jan Wagner seinen Kolleginnen und Kollegen unbedingt zu Schullesungen: "Es gibt nichts Aufregenderes". Hier trifft man "auf das echte, das raue Leben, schonungslos und durchaus aufschlussreich - vor einem Publikum, dessen Reaktionen ehrlicher nicht sein könnten. ... Jedes Gähnen kommt aus tiefstem Herzen" und "wer diese Zuhörerschaft nicht auf der Stelle für sich gewinnt, der hat sie für immer und ewig verloren. Jeder Auftritt in einer von Missmut stickigen Aula wird so mindestens zu einer Übung in Demut, wenn nicht gar zu einer Demütigung - und ist zugleich eine schmerzhafte Erinnerung daran, dass die überwältigende Mehrheit der Zeitgenossen vielleicht noch von Luft und Liebe, aber gewiss nicht von Lyrik zu leben bereit ist. Wer noch nie derart mit Blicken geteert und gefedert worden ist, kennt den aschenen Geschmack der Niederlage nicht."

Außerdem: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Besprochen werden unter anderem Édouard Louis' "Anleitung ein anderer zu werden" (online nachgereicht von der Zeit), Cormac McCarthys "Der Passagier" (Welt), Élodie Fonts und Carole Maurels Coming-Out-Comic "Coming In" (Tsp) sowie Kerstin Hohners "'Abseits vom Kurs'. Die Geschichte des VEB Hinstorff Verlag 1959-1977" (FAZ).
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Kunst

Bild: Etel Adnan, Untitled, 2010, Öl auf Leinwand, 20,1 cm x 25,2 cm x 2,3 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, © Rechtsnachfolge Etel Adnan

Es ist höchste Zeit, die libanesische Schriftstellerin Etel Adnan auch als Künstlerin zu entdecken, insistiert Kia Vahland in der SZ nach einem Besuch im Münchner Lenbachhaus, das den meist nur "handtaschengroßen" abstrakten Gemälden derzeit die erste Einzelschau in Deutschland widmet. Adnan litt "darunter, zwar mit dem Griechischen, Türkischen, Französischen und später dem Englischem bestens vertraut zu sein, es im Arabischen aber nicht bis zur anerkannten Dichterin gebracht zu haben. Also experimentierte sie visuell mit den Schriftzeichen, integrierte sie in Leporellos und Zeichnungen. Insbesondere während des Algerienkrieges fremdelte sie immer mehr mit der alten Kolonialmacht Frankreich und wollte seither dem Französischen entkommen. ... Erst vor der Staffelei gewann Etel Adnan Distanz zur Tagespolitik, wurde grundsätzlicher, suchte nach dem Wesen von Sonne, Mond und Bergen."

Die Anschläge der Klimaaktivisten auf Kunstwerke (Unsere Resümees) sind nicht nur "dumm", sondern auch teuer, ärgert sich Boris Pofalla in der Welt: "Man kann sich leicht ausrechnen, was eine Museumsschließung wie nun in Potsdam über längere Zeit kostet. Mit ein paar zehntausend Euro kann man ein Ausstellungsbudget oder ein Forschungsprojekt verlieren. Oder man muss auf einen Katalog verzichten. Anstatt einer Schau, die neues Wissen in die Welt bringt, macht man dann eben eine, die garantiert Umsatz bringt. Oder keine."

"Es ist der alte 'Irrtum des Aktivismus', den schon Walter Benjamin erkannte, dass er glaubt, mit wirrem Wahn die Menschheit zur Vernunft bringen zu können", kommentiert Florian Illies in der Zeit. "Die Wurfaktionen sind Akte der Beschmutzung und Demütigung, mit denen Künstler und ihre Werke auf massivste Weise entwürdigt werden, schreibt auch der Politologe Wolfgang Kraushaar im Tagesspiegel+: "Diese Angriffe, so bedenkenswert die Motive der Angreifer auch sein mögen, sind aber nicht nur kontraproduktiv, sie sind ihrer Grenzverschiebungen wegen für eine demokratische Gesellschaft gefährlicher als viele meinen mögen, und sie müssen deshalb auch einhellig verurteilt werden. Mit derartigen Angriffen auf Objekte der Kunst wird eine unsichtbare Linie überschritten. Die Angreifer verletzen einen schützenswerten Raum, letztlich den der künstlerischen Phantasie. Nicht nur die Würde des Menschen ist unantastbar, auch die eines Kunstwerks. Deshalb: Finger weg." 

Außerdem: In der FAZ schreibt Jürgen Kaube den Nachruf auf den französischen, nun im Alter von 102 Jahren gestorbenen Maler Pierre Soulages, der seit 1979 nur noch schwarze Bilder malte: "Für Soulages ging nicht nur die Finsternis dem Licht voraus, sondern ist die Unterscheidung von Schwarz und Licht eine zwischen dem Bild und dem Raum, der es umgibt. Diese Malweise stülpte die Eroberung der Bildtiefe um, an der die Kunst mehr als fünfhundert Jahre lang vorzugsweise gearbeitet hat." Besprochen wird eine Ausstellung des Bildhauers Thomas Rentmeister in der Berliner Schwartzschen Villa (Tagesspiegel).
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Bühne

In der Zeit ärgert sich Peter Kümmel über sogenannte Theaterkritiker, die das Theater in Grund und Boden schreiben: "Es ist Abrechnungszeit: Man rächt sich für all die Stunden, die einem das Theater gestohlen hat. Gerade Autoren, die sich früher dagegen verwahrt hätten, Publikumszuspruch mit künstlerischem Erfolg gleichzusetzen, ja die dem Theater das Recht auf das Experiment, die Laborsituation, das Spiel vor kaum gefüllten Rängen ausdrücklich zusprachen, gerade solche Kritiker sprechen nun davon, dass lauter ihr persönlich-politisches Süppchen kochende, in Blasen lebende Theateroberlehrer die Häuser leer gespielt hätten. Und dass solches Theater niemand brauche."

Besprochen werden Christopher Aldens "raffinierte" Inszenierung von Alberto Franchettis Oper "Asrael am Opernhaus Bonn (FR), Martin Schläpfers "Dornröschen" an der Wiener Staatsoper (Standard, FAZ) und Michael Thalheimers und Kent Naganos Interpretation von Wagners "Fliegenden Holländer" an der Hamburgischen Staatsoper (SZ).
Archiv: Bühne

Architektur

Ganz angetan ist Bernhard Schulz im Tagesspiegel nicht nur von den Werken von Josef Albers, die aktuell in der Ausstellung "Huldigung an das Quadrat 1950-1976" im Bottroper Josef-Albers-Museum zu sehen sind, sondern auch vom soeben fertig gestellten neuen Anbau des Hauses: "Der Entwurf des in dunklem Metall verkleideten Gebäudes stammt vom Zürcher Büro Gigon / Guyer, das mit dem Kirchner-Museum in Davos einen vielgelobten Erstling schuf. Federführend war die 63-jährige Annette Gigon. Sie hat den Neubau allerdings nicht in ein Quadrat gepresst, denn - sagt sie - 'das Rechteck ist gutmütiger als das Quadrat'. (…) Bedeckt sind die hohen, angenehm proportionierten Räume von Sheddächern, allerdings mit Rollos gegen Tageslicht abgedeckt - Albers malte bei Neonlicht, wissend, dass im Museum Kunstlicht herrscht."
Archiv: Architektur

Design

Nikolas Bernau besucht für die FAZ die Ausstellung "Guter Stoff. Textile Welten von der Hansezeit bis heute" im Europäischen Hansemuseum in Lübeck. Mit Erkenntnissen nicht nur über den Konservatismus der Lübecker Hanse kommt er nach Hause, sondern auch mit Fragen fürs Hier und Jetzt: "Woher kommt das Material, kommen die Farben, und können solche luftig gewebten Stoffe mehr aushalten als einen Tanzabend? Die Antwort auf solche unbequemen Fragen, die Entscheidung, ob Textilien Wegwerf- oder Wertprodukte sind, sind von eminenter Tragweite für die Zukunft des Planeten."
Archiv: Design

Musik

In Berlin sprach Thomas Meinecke mit Günter "Baby" Sommer über Jazz in der DDR, berichtet Thomas Mauch in der taz. In der taz resümiert Robert Mießner das Berliner Festival "Reflux" für elektroakustische Musik. Der Soundtrack der Serie "Derry Girls" lässt Mathias Müller vom Tages-Anzeiger im Popsound der Neunziger schwelgen. Dazu passend wärmt sich Janique Weder in der NZZ für das heutige Zürcher Konzert der Backstreet Boys auf.

Besprochen werden ein Auftritt von Kendrick Lamar in Zürich (NZZ) und ein Barockabend mit dem RIAS Kammerchor (Tsp).
Archiv: Musik