Efeu - Die Kulturrundschau

Zeitungen sind sehr hygienisch

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29.10.2022. Es geht um mehr als um den Hijab, sagt Shirin Neshat, die im FAS-Gespräch alle Hoffnung auf die Frauen im Iran setzt. Im Standard erklärt die ukrainische Schriftstellerin Natalka Sniadanko, wie Gleichberechtigung auf sowjetische Art funktionierte: Arbeiten ja, aber dabei nicht den Haushalt vernachlässigen. Die Wiener Philharmoniker geben Konzerte in Hongkong und Taiwan - aber zuhause soll es lieber keiner wissen, weiß das VAN Magazin. Frank Castorf inszeniert aktuell in Belgrad, wo er wie eine Gottheit verehrt wird, erfährt die SZ. Und alle trauern um Jerry Lee Lewis, den "Jünger und gottverdammten Teufel", wie die SZ schreibt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.10.2022 finden Sie hier

Kunst

Die Frauen im Iran wurden immer unterdrückt, aber sie sind keine Opfer, sie haben immer schon gekämpft, sagt die iranische Künstlerin Shirin Neshat im FAS-Gespräch mit Mariam Schaghaghi, in dem sie alle Hoffnung auf die aktuellen Proteste setzt: "Ich glaube, dass diese Revolution von Bestand sein wird, gerade weil sie von Frauen ausgeht. In Iran gab es immer wieder Unruhen, aus den unterschiedlichsten Gründen: Arbeitslosigkeit, Wassermangel, wirtschaftliches Elend, Korruption, Misswirtschaft. Jetzt aber hat der Mord an einer Frau einen Nerv getroffen. Die Männer merken, dass es jederzeit auch ihre Töchter, Frauen und Schwestern treffen könnte. Der Tod von Mahsa Amini hat das Allerheiligste verletzt. Darum ist das Motto 'Frauen, Leben, Freiheit' so bedeutungsvoll, so tiefgehend und so zutreffend. Denn wer Frauen bedroht, bedroht das Leben, und wer unser Leben bedroht, raubt uns unsere Freiheit. Als Mahsa starb, war es, als wäre der Geist aus der Flasche befreit worden. Und nun ist der Protest nicht mehr aufzuhalten. Es geht um mehr als um den Hijab. Es geht um ein Leben in Freiheit."

Bild: Anna Boghiguian. The Chess Game, 2022. Ausstellungsansicht 1. Obergeschoss, Kunsthaus Bregenz, 2022. Foto: Markus Tretter. Courtesy of the artist

Politik und Poesie gehen im Werk der ägyptisch-armenischen Künstlerin Anna Boghiguian Hand in Hand, erkennt Ivona Jelčić im Standard in der Ausstellung "Period of Change" im Kunsthaus Bregenz. Im Werk der Künstlerin geht es immer auch um "globale Verbindungslinien zwischen historischen, ökonomischen und politischen Ereignissen", etwa in der Installation "The Chess Game": "Es besteht in erster Linie aus karikaturhaft dargestellten Personen der österreichischen Geschichte, Aribert Heim ist ebenso darunter wie Gavrilo Princip, Sigmund Freud, Berta von Suttner, Egon Schiele, Stefan Zweig oder Marie Antoinette. Wer ist Bauer, König, Läufer? Egal. Der Künstlerin geht es vielmehr darum, zum Nachdenken über globale Zusammenhänge anzuregen - und seien die Fäden, die sie da spinnt, auch noch so fein. Marie Antoinettes Faible für Baumwollstoffe könnte man zum Beispiel bis zur Haitianischen Revolution rückverfolgen und von dort schließlich weiter bis zur Französischen Revolution, die die Königin bekanntlich den Kopf gekostet hat."

Die NZZ lässt ihre Print-Ausgabe heute von der Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist gestalten. Philipp Meier porträtiert die Künstlerin. Im Gespräch mit Birgid Schmid erklärt Rist, weshalb sie die Seiten als Tischsets gestaltete: "Ich wollte der Zeitung zu einem Zweitleben verhelfen. Ich liebe Tischsets und bin gleichzeitig eine Wiederverwendungsfetischistin. Zudem sind Zeitungen sehr hygienisch. Unser Vater Walter half als Hausarzt auch bei Spontangeburten und verwendete mangels sauberer Tücher im Notfall eine frische Zeitung, weil sie sehr hygienisch sei, um ein Neugeborenes hinzulegen, bevor er die Nabelschnur durchschnitt."

Außerdem: In der SZ verurteilt auch Till Briegleb die Attacken von Klimaextremisten auf Kunstwerke scharf: "Sozialisiert durch eine Medienkultur, die ihnen eingeimpft hat, dass 'Aufmerksamkeit' die einzige Informationswährung ist, die zählt, interessiert sie nur der Skandalwert. Ihre Analogie, die Attacke auf das Bild symbolisiere die Zerstörung der schönen Welt durch die Ölverbrennung, wirkt geradezu albern." Und in der FAZ weiß Nina Bub: "Die akute Bedrohung der wertvollen Gemälde durch die Attacken der Klimaaktivisten verschärft die Problematik, dass zu wenig Geld für Sicherheitspersonal vorhanden ist. Viele Museen verfügen nicht mehr über eigene Sicherheitskräfte, sondern haben diese Dienste ausgelagert." Im Feuilleton-Aufmacher der SZ singt Peter Richter nach dem Tod von Pierre Soulages eine Ode auf die Farbe Schwarz: "Wer weiß schon noch, dass im Altertum viel eher Rot als die unheilbringende Farbe galt, denn schwarze Wolken brachten Regen, der schwarze Nil-Schlamm war fruchtbar, ungünstiger waren roter Wüstensand und Brände. Priester trugen Weiß, Werktätige Schwarz, und Rot stand für die Blutvergießer, die Krieger." Die Klimt-Foundation hat sich als Betreiberin des Klimt-Museums am Attersee zurückgezogen und den Mietvertrag gekündigt, meldet der Standard.

Besprochen werden die Ausstellung "Barbarossa. Die Kunst der Herrschaft im Schloss Cappenberg und LWL-Museum Münster (FAZ) und die Ausstellung "Paint it all!" mit fünfzehn Bildwerken von Berliner Malerinnen und Malern, die die Berlinische Galerie angekauft hat (Berliner Zeitung).
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Literatur

Der Standard spricht mit der ukrainischen Schriftstellerin Natalka Sniadanko, die Mitte November die Europäischen Literaturtage in Krems mit einem Vortrag eröffnen wird. Unter anderem geht es in dem Gespräch um den Galgenhumor, mit dem die Ukrainer die Lage zu bewältigen versuchen, und um die Gleichstellung: "Frauen haben sich schon vor der Invasion militärisch beteiligt, aber erst jetzt wird ihr Beitrag in der Armee halbwegs anerkannt. Früher konnten sie zum Beispiel nicht offiziell Scharfschützinnen sein: Sie wurden als Krankenschwestern eingestellt und entsprechend bezahlt. Gleichberechtigung auf sowjetische Art. Auch dort wurde immer stolz proklamiert, dass Frauen gleichberechtigt seien - aber auch wenn sie studieren oder arbeiten konnten, hieß das nicht, dass sie die Hausarbeit vernachlässigen durften. Im Westen gab es Emanzipationsbewegungen. Bei uns ist das immer noch erklärungsbedürftig, weil die Frauen doch angeblich schon alle Rechte haben. Dazu kommt die Religion mit ihrem konservativen Frauenbild, die in der Sowjetunion verboten war und jetzt sehr angesagt ist."

In der taz spricht die spanische Schriftstellerin Najat El Hachmi über ihre Romane, in denen sie Erfahrungen marokkanischer Einwanderinnen in Spanien verarbeitet und dafür auch aus ihrem eigenen Leben schöpft. "Das größte Problem ist, dass diese jungen Frauen nicht frei sind. Das mag wie ein Klischee klingen. Trotzdem ist es wahr. ... Viele von ihnen sollen sehr jung heiraten, sollen zu Hause bleiben. Wenn sie arbeiten wollen, müssen sie in sogenannten anständigen Berufen arbeiten. Dort, wo sie möglichst keiner Öffentlichkeit ausgesetzt sind. Die wenigsten dürfen studieren oder sich ihre Ehemänner selbst aussuchen. Und natürlich können sie sich nicht aussuchen, ob sie Kinder haben wollen oder nicht, - denn das sei nun mal Teil ihres Schicksals als Frau. Mit all diesen Problemen wachsen wir auf."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Im "Literarischen Leben" der FAZ erinnert Alexandru Bulucz an den vor 100 Jahren geborenen, russischen Schriftsteller Alexander Sinowjew, der einst als antistalinistischer Dissident ins Exil ging, sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aber zum glühenden Stalin-Verehrer wandelte und nun von Putin als Staatskünstler verehrt wird. In einer Langen Nacht für den Dlf Kultur führt Harald Brandt durch Leben und Werk von Margaret Atwood.

Besprochen werden Simone Buchholz' "Unsterblich sind nur die anderen" (taz), Markijan Kamyschs "Die Zone oder Tschernobyls Söhne" (FR), Christoph Peters' "Der Sandkasten" (SZ), Musa Okwongas Berlin-Roman "Es ging immer nur um Liebe" (ZeitOnline), eine Lesung von Rupi Kaur in Berlin (Freitag), neue Kinder- und Jugendbücher (taz) und Maggie O'Farrells "Porträt einer Ehe" (FAZ).
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Film

Auch Rüdiger Suchsland auf Artechock ist von Saralisa Volms Regiedebüt "Schweigend steht der Wald" (hier unser Resümee) umgehauen und überzeugt, dass das "einer der besten deutschen Filme dieses Jahres ist. Vielleicht sogar der allerbeste. Gerade auch, weil er nicht perfekt ist, weil er gar nicht perfekt sein will, weil er aber mit sich im Reinen ist, sich treu ist und weil er alle möglichen Türen aufmacht zu weiteren Filmen, die ich zumindest wahnsinnig gerne sehen würde. ... Dieser Film zeigt, was fehlt, und verzichtet ganz auf jene gesittete bürgerliche Langeweile, in der es sich der deutsche Film sonst so gern gemütlich macht."

Juliane Liebert berichtet in der SZ von ihrem Treffen mit Werner Herzog in Berlin, der ihr unmissverständlich klar macht, wo in Deutschland das wilde, ungeschlachte Leben pulsiert: "Anarchie ist in Bayern zu Hause, nicht im Ruhrgebiet und nicht in Halle an der Saale und auch nicht in Berlin." Auch ansonsten ist er rustikal auf Krawall gebürstet: Er findet fast alles, was einem in Kino und TV geboten wird, schlecht. "Wenn Sie mit der Fernbedienung zappen... Sie erkennen sofort: Das ist Werbung, das ist ein Fußballspiel, das ist ein Heimatfilm, das ist eine 'Tatort'-Serie. Innerhalb von fünf Zehntelsekunden wissen Sie, was es ist, und Sie wissen: Ich bleibe nicht dabei, es ist schlecht. In fünf Zehntelsekunden wissen Sie es. Und wir wissen es alle. Nur wenn es einer ausspricht, wie ich, dann werden die Medien auf einmal ganz emsig, wie Bienenschwärme. Da sagt ja jemand etwas ganz Ungebührliches!" Filmdienst und Artechock besprechen dazu passend Thomas von Steinaeckers Porträtfilm "Werner Herzog - Radical Dreamer", der diese Woche anläuft.

Weitere Themen: Marius Nobach berichtet im Filmdienst von den Hofer Filmtagen. Rüdiger Suchsland erzählt auf Artechock von seinen ersten, eher filmfernen Eindrücken von der Viennale: "Massage im Hotelzimmer; ist das, wenn sechs Leute dabei sind, eine Orgie, oder ein kontrollierter Safe Space?" Axel Timo Purr spricht für Artechock mit dem Kinobetreiber Claus Hadenfeldt, der in der rheinhessischen Provinz tapfer der Kinokrise trotzt. Und auch in Frankreich ist man entsetzt über den Sinkflug des Kinos - unser Resümee in der Debattenschau.

Besprochen werden  neue Architektur-Filmessays von Heinz Emigholz, die beim Festival Dok.Leipzig gezeigt wurden (critic.de), eine Publikation zum Kongress "Zukunft Deutscher Film" (Artechock), Sara Dosas Porträtfilm "Fire of Love" über das Vulkanologen-Ehepaar Katia und Maurice Krafft (Filmdienst, unsere Kritik hier), Halina Reijns Horrorfilm "Bodies Bodies Bodies" (Artechock, unsere Kritik hier), Fatih Akins Biopic "Rheingold" über den Rapper Xatar (Standard, Artechock, mehr dazu hier), Nicholas Stollers schwule RomCom "Bros" (Artechock, critic.de, mehr dazu hier), Carlota Peredas "Piggy" (Artechock) und Edward Bergers auf Netflix gezeigte Remarque-Verfilmung "Im Westen nichts Neues", die laut SZ-Kritiker Hubert Wetzel der Vorlage "leider nur auf eine sehr flüchtige Art nahekommt".
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Bühne

Für die SZ besucht Christine Dössel Frank Castorf in Belgrad bei den Proben zu Dantes "Göttlicher Komödie", die diesen Samstag am Belgrader Drama Theatre uraufgeführt wird. Castorf wird vor Ort verehrt wie eine Gottheit, überhaupt macht Dössel eine starke "Obsession" für das deutsche Theater aus: "Ist das nicht kultureller Kolonialismus? Ivan Medenica, Direktor des internationalen Theaterfestivals Bitef, beschwichtigt lachend: 'Im Gegenteil: Man kann eher sagen, dass es sich um eine freiwillige Selbstkolonialisierung des serbischen Theaters durch das deutsche Theater handelt, vor allem wenn es um euer ,Regietheater' geht.'  Dieses, Jahr für Jahr vorgestellt beim 1967 gegründeten Bitef-Festival, sei in Belgrad immer als 'Markenzeichen für die neuesten und anspruchsvollsten Tendenzen in der Welt der darstellenden Künste' wahrgenommen worden. Enttäuscht sei das Publikum nur gewesen, als das deutsche Theater durch ein kleines, unabhängiges, dokumentarisches Theater vertreten war. So etwas haben sie in Belgrad selber. Medenica sagt: 'Sie alle wollen von Deutschland einen theatralischen Mercedes Benz.'"

Im November soll die britische Dramatikerin Caryl Churchill den vom Staatstheater Stuttgart verliehenen "Europäischen Dramatiker:innen-Preis" erhalten, in der Jury ist auch das baden-württembergische Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst. Churchill unterstützt seit Jahren den BDS - und im Gegensatz zu Annie Ernaux findet sich ihre BDS-Agitation auch in ihrem Werk, schreibt Thomas Wessel bei den Ruhrbaronen: "Umso erstaunlicher, dass sie, so die Jury, für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet werden soll: 'Caryl Churchill ist eine der größten lebenden Dramatikerinnen', begründete die Jury ihre Wahl, 'ihr Werk ist bekannt, aber nicht berühmt und wird nur noch selten gespielt. Zeit für eine Neubewertung und Neubetrachtung.' Zeit für eine Erinnerung: Irgendwann hat sich die Londonerin 'Artists for Palestine UK' verschrieben, der von Ex-Pink-Floyd Roger Waters orchestrierten BDS-Abteilung für Attacke. 2015 gab sie öffentlich bekannt, 'während der südafrikanischen Apartheid kündigten Musiker an, sie würden nicht mehr in Sun City spielen. Jetzt sagen wir, dass wir in Tel Aviv, Netanya, Ashkelon oder Ariel keine Musik spielen, keine Preise annehmen, an Ausstellungen, Festivals oder Konferenzen teilnehmen und keine Meisterklassen oder Workshops veranstalten werden'. Keine Preise in Israel annehmen, dafür in Stuttgart?"

Außerdem: Im Tagesspiegel berichtet Kirsten Liese von den Protesten von Tierschützern gegen den Einsatz von Kaninchen in Dmitri Tscherniakovs Neuinszenierung von Wagners "Ring der Nibelungen" an der Berliner Staatsoper. Der spanische Tänzer und Choreograf José Martinez übernimmt im Dezember das Pariser Opernballett, meldet die SZ. Hakan Savaş Mican inszeniert zur Eröffnung des transkulturellen Festivals "Nachbarşchaften - Komşuluklar Sasha Marianna Salzmanns Identitätssuche-Roman "Im Menschen muss alles herrlich sein" und nachtkritiker Falk Schreiber erkennt in dem Regisseur einmal mehr den "Spezialisten für theatrale Familienaufstellungen".

Besprochen werden: Stefan Zimmermanns Inszenierung von "Bei Anruf Mord" im Fritz-Rémond-Theater (FR), Miet Warlops "One Song. Histoire(s) du Theatre IV" am Berliner Hebbel am Ufer (nachtkritik), Benedict Andrews' Neuinszenierung von Mozarts "Cosi fan tutte" an der Bayerischen Staatsoper (FAZ, nmz), Volker Löschs Inszenierung von Arnolt Bronnens und Lothar Kittsteins "Recht auf Jugend" mit Aktivisten der Letzten Generation am Schauspiel Bonn (nachtkritik), Lilja Rupprechts Inszenierung von Jean-Paul Sartres "Die schmutzigen Hände" am Schauspiel Frankfurt (nachtkritik) und Pauline Beaulieus Inszenierung von Hans Werner Henzes Oper "La Piccola Cubana" im Alten Orchesterprobensaal der Berliner Staatsoper (Tagesspiegel).
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Design

Ugly Chic - die Lust am Hässlichen hat mal wieder eine ihrer Konjunkturen in der Modewelt, beobachtet Isabelle Braun in der NZZ. Stilnormen, Regeln von Eleganz und Proportion werden gezielt in tausend Scherben zerschlagen. Dieser Trend passt gut in die Zeit, findet sie: "Die Mode scheint aus den Fugen geraten, so wie die Welt." Die Mode ist dabei vor allem an einem interessiert: "Umsatzsteigerung. Diese wird erreicht, indem man die Lautstärke hochpegelt und das Tempo anzieht. Ein hochwertiger Mantel, den man fünf Winter trägt? Nett, aber es braucht Conversation Pieces, um Aufmerksamkeit, also kostenlose Werbung, zu bekommen. Das zu schaffen, ist immer schwieriger. Denn in den sozialen Netzwerken hat nur das, was irritiert, das Potenzial zum sogenannten Thumb Stopper, also zu dem Moment des Innehaltens, während man am Handy durch den unendlichen Bilderstrom scrollt. Früher erfand sich die Mode alle sechs Monate, immer zum Saisonwechsel, mehr oder weniger neu", doch "diesen Rhythmus hat das Internet mit seinem Dauerdiskurs durcheinandergebracht."
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Stichwörter: Ugly Chic, Mode

Musik

Die Wiener Philharmoniker geben Konzerte in Hongkong und Taiwan - aber zuhause soll es lieber keiner wissen, berichtet Hartmut Welscher auf VAN im Staunen darüber, dass die Social-Media-Abteilung des Orchesters sich in Schweigen hüllt und man sich entsprechende Infos in China beschaffen muss. Nur südkoreanische Auftritte werden stolz annonciert. "Das sei eine bewusste Entscheidung, aufgrund der politischen Situation, so die Pressesprecherin der Wiener Philharmoniker gegenüber VAN. 'Man muss es nicht an die große Glocke hängen.' Das klingt nach Selbstzensur, um nicht in unruhige politische Fahrwasser zu geraten. Normalerweise geht es bei Orchestertourneen vor allem ums Prestige, beim Gastspiel in Hongkong wohl eher ums Geld. Die Konzerte wurden gesponsert vom Hong Kong Jockey Club (HKJC), einem der reichsten Vereine der Welt" und "als 'Geldautomat der Regierung' auch der größte Steuerzahler der Sonderverwaltungszone. ... Wer nach China reist, muss immer auch damit leben, dass man zur Selbstlegitimation eines diktatorischen Regimes beiträgt."

Rock'n'Roller Jerry Lee Lewis wirkte unkaputtbar, nun ist er doch noch von uns gegangen. Er brachte erst das Klavier und damit auch sein Publikum zum Brennen. Joachim Hentschel kriegt es in seinem SZ-Nachruf noch immer nicht ganz auf die Reihe, dass "einer ein Jünger des Herrn sein kann und zugleich ein so gottverdammter Teufel, eine popkulturelle Jahrhundertikone und ein rabenschwarz schlechtes Vorbild, ein Held und ein giftiger Scheißkerl." Ja, "in ihm kollidierten Religion und Gottlosigkeit, gingen Frömmigkeit und Blasphemie Hand in Hand", stimmt dem Karl Fluch im Standard zu. "Sein Wesen dominierte eine Mischung aus Arroganz, kaum zu erschütterndem Selbstbewusstsein und einem sagenhaften Talent. Elvis Presley, an dessen Einfahrt Jerry Lee 1976 nachts mit einem geladenen Revolver auftauchte, um zu regeln, wer die Nummer eins im Rock 'n' Roll sei, soll gesagt haben, wenn er wie Lewis Klavier spielen könnte, würde er aufhören zu singen." Auch Matthias Heine von der Welt ist sich äußert unschlüssig, ob Lewis jetzt im Himmel oder in der Hölle vorstellig wird: Denn Lewis war "Verführer und Heiliger" und "verrückter als er war höchstens noch Little Richard." Martin Schäfer führt in der NZZ durch Jerry Lee Lewis' Leben und Werk. Hier Lewis' ekstatische Aufnahme von "Great Ball of Fire" im legendären Hamburger Star-Club 1964:



Weiteres: Das Tonhalle-Orchester plant unter Paavo Järvi eine Aufnahme aller Bruckner-Sinfonien, berichtet Christian Wildhagen in der NZZ. Für den Standard spricht Ljubisa Tosic mit Bernhard Günther, dem Leiter des Festivals Wien Modern. Anastasia Tikhomirova und Konstantin Nowotny zerbrechen sich in einem Pro & Contra in der Jungle World den Kopf darüber, ob der Berliner Club Berghain nun besser schließen sollte oder lieber nicht.

Besprochen werden Ingrid Laubrocks Auftritt beim Jazzfestival in Frankfurt (FR) ein von Maxim Emelyanychev dirigiertes Konzert der Berliner Philharmoniker (Tsp) und ein Country-Album aus dem Nachlass von Dr. John ("ein amtliches Stück Handwerksarbeit", findet tazler Detlef Diederichsen, dem allerdings spürbar Steel Guitars fehlen).

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