Efeu - Die Kulturrundschau

Man will da hin, da rein

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.11.2022. Die taz strebt ins Diözesanmuseum Freising wie die Motte zum Licht - katholische Ikonografie, in Szene gesetzt von amerikanischer Landart, erweist sich als unwiderstehliche Kombination. Die NZZ erlebt einen Auftritt von Furtwänglers Stieftochter bei der Premiere von Christian Bergers Dokumentarfilm "Klassik unterm Hakenkreuz" - welch ein Verdrängungstheater. Die Filmkritiker schwenken Weihrauch zum Achtzigsten von Martin Scorsese, den Mann des brillanten Einzelstücks, wie ihn die SZ rühmt, oder Meister der konfliktreichen Kollaboration, so die FAZ, oder auch schlicht den größten lebenden Filmemacher, wie der Filmdienst meint.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.11.2022 finden Sie hier

Kunst

Zwei Schönheiten im Diözesanmuseum Freising


Weniger Gott als Hippies denkt taz-Kritikerin Doris Akrap, als sie das Freisinger Diözesanmuseum besucht und in die Lichter von James Turrell blickt. "Oder ob hier gleich ein Männerballett bras bas zu Tanzmetall von Rammstein tanzt? Oder ob das hier die Pyroshow von Gott selbst ist, der da hinten in der Ecke sitzt und zündelt." Die neue Dauerausstellung "zielt nicht auf Ehrfurcht oder heiliges Staunen, sondern auf erhellende Unterhaltung" und, wie es aussieht, Verführung. Das ist soweit es Akrap angeht bestens gelungen: "Hat sich der eigene Geist halbwegs wieder sortiert, schreitet man durch den von weißen, hohen Arkadengängen umgebenen und durch eine milchige Glasdecke erhellten Lichthof in die Richtung des bunten Lichtbündels. Es kommt aus einer Nische, zu der Treppenstufen führen. Man sieht helloranges, wie dichter Nebel strömendes Licht, das einen ovalen Rahmen um einen dunkelroten Kreis bildet. Fast unmerklich färbt sich der Kreis hellgrün, und das Oval lila. In Dutzenden Schattierungen und Größen wechseln Kreis und Ovalschichten von blau bis pink die Farben. Wo Wand ist, wo Grenze, ob der Kreis der Einstieg in die Ewigkeit, das Zentrum einer ayurvedischen Lichtzeremonie oder einfach eine überdimensionierte Lavalampe - egal. Was da strömt, betört die Sinne, man will da hin, da rein, ob man das geräuschlose Rauschen des Lichts, das man zu hören meint, für göttliches oder psychedelisches Rauschen hält."

In der taz stellt Ronald Berg die Bildgießerei Noack vor, die in diesem Jahr 125-jähriges Jubiläum feiert. Aus diesem Anlass gibt es eine Retrospektive mit 50 Bronzewerken am Firmensitz neben dem alten Kraftwerk Charlottenburg: "An einer der Wände des 5.000 Quadratmeter großen Werkstadtkomplexes bei Noack hängen dazu rund hundert Materialproben, die zeigen, wie verschieden die Oberfläche der Bronze aussehen kann, wenn sie mit Säure und Hitze behandelt wird. Vom blitzenden Goldton bis Tiefschwarz reicht die Skala, aber auch Grün- und Rottöne sind möglich. In der Jubiläumsausstellung kann man die Wirkung der Patinierung anhand zweier kauernder Frauenfiguren in eher kleinem Format vergleichen. Die weiblichen Gestalten - von Georg Kolbe und Richard Scheibe - changieren von rotschimmernd bei Kolbe bis eher gelblich und im Ausdruck zurückhaltender bei Scheibe."

Außerdem: Michael Wurmitzer unterhält sich für den Standard mit dem Direktor des Wiener Leopold Museums Hans-Peter Wipplinger über die Attacke auf Klimts "Tod und Leben". Weder das Klima noch die Kritik am Sponsor OMV, einen Minerallölkonzern will er als Begründung gelten lassen: "Die OMV hat uns heute etwa den Leopolditag gesponsert, sodass wir Gratiseintritt anbieten können - und dazu zwölf Kunstvermittler. Kinderbetreuung, die Vermittlung an Schulklassen, Zeichenklassen - das könnten wir ohne Sponsoren nicht machen. Wir zahlen eine Million im Jahr nur für Saalaufsichten. Da bin ich dankbar, dass uns Unternehmen unter die Arme greifen. Ich stehe zur OMV, diese Partnerschaft ist sehr produktiv." In der Zeit fordert Tobias Timm, den geplanten Bau des Berliner Museums für Kunst des 20. Jahrhunderts auszusetzen, um dessen klimatechnisch "unfassbar gestrige" Pläne zu überarbeiten.
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Musik

Die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch wurde nach Auschwitz verschleppt, während die Nazis Wilhelm Furtwängler zu Füßen lagen - Christian Bergers Dokumentarfilm "Klassik unterm Hakenkreuz" legt beide Lebensläufe aneinander. Bei der Premiere in Berlin bot sich NZZ-Kritiker Andreas Scheiner beim Auftritt von Kathrin Ackermann, Furtwänglers Stieftochter, allerdings "Gedächtnis- und Verdrängungstheater". Im Film selbst "weiß sie nur Gutes zu berichten. Von Furtwängler sei etwas ausgegangen, 'das über die Musik noch hinausging, etwas besonders Menschliches'." Beim Gespräch zur Premiere aber "scheint sie nicht glücklich" mit dem Film. "Das Nebeneinander der Bilder von Vernichtungslagern und Konzertsälen hat sie offenbar irritiert. Wenn man diese Vernichtungsmaschinerie der Nazis so sehe, meint Kathrin Ackermann, müsse man sich vergegenwärtigen, dass Furtwängler von alldem ja nichts gewusst habe. Nun hat bekanntermaßen in Nazi-Deutschland niemand von irgendetwas gewusst. Nicht einmal Wilhelm Furtwängler? Der Moderatorin gelingt das Kunststück, das Thema sofort wegzumoderieren, zu verdrängen. Dabei zeigt 'Klassik unterm Hakenkreuz' ja gerade, wie Furtwängler mit den Nazis paktierte." Die Deutsche Welle hat den Film in ihrem Youtube-Kanal online gestellt:



Weitere Artikel: Hartmut Welscher wirft für das VAN-Magazin einen kritischen Blick auf den Bundeshaushalt 2023 und die Rolle der Klassik darin. Außerdem spricht Welscher für VAN mit Lydia Grün, der neuen Präsidentin der Hochschule für Musik und Theater in München. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker in dieser Woche hier über Rosalind Ellicott und dort über Meredith Monk.

Besprochen werden Bob Dylans Buch "Die Philosophie des modernen Songs" (taz), das postum veröffentlichte Album "HOME.S" des Jazzpianisten Esbjörn Svensson (SZ, mehr dazu bereits hier), Weyes Bloods Album "And In The Darkness, Hearts Aglow" (Presse) und ein Auftritt von Simply Red in Frankfurt (FR).
Archiv: Musik

Literatur

Die SZ dokumentiert Andrej Kurkows Eröffnungsrede zum Münchner Literaturfest: Es geht um Russlands Mythos der russischen Kultur auf sowjetischem Boden, unser Resümee in 9punkt. Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort.

Besprochen werden unter anderem die Wiederveröffentlichung von Julius Berstls in den Dreißigern verfasstem, 1963 erstmals veröffentlichtem Roman "Berlin Schlesischer Bahnhof" (Tsp), Luka Lenzins Comic "Nadel und Folie" (Tsp), der Sammelband "Das Sachbuch in der DDR" (BLZ) und der Zwanzigern kollektiv verfasste, russische Roman "Die großen Brände" (FAZ).
Archiv: Literatur
Stichwörter: Gerasimow, Sergei, Charkiw

Film

Martin Scorsese, 2010 (Foto: Siebbi, CC BY 3.0)

Martin Scorsese wird 80 Jahre alt. "Ein Gefühl der Reinheit" stellt sich bei SZ-Kritiker Tobias Kniebe ein, wenn er voller Ehrfurcht auf dessen Gesamtwerk blickt. "Hat sich der Mann je bloß strategisch für eine Regiearbeit entschieden, um ein Franchise zu melken oder seine Machtposition im jeweils gültigen System zu stärken? ... Der leidenschaftliche Marvel-Kritiker Scorsese blieb standhaft ein Mann des brillanten Einzelstücks." Doch "anders als die großen Autorenfilmer schmort er nicht nur im eigenen Saft. Wer Schauspieler entfesseln kann wie er, wer die Sprache von Kamerabewegung, Schnitt und Musikeinsatz so dermaßen zu seiner Muttersprache gemacht hat, muss nicht auch noch brillante Dialoge schreiben können. So ist Scorsese die klassische Definition des Regisseurs, der große Autoren wie Paul Schrader neben sich existieren lässt. Wer sonst erlaubt so was noch?"

Als Meister der konfliktreichen Kollaboration feiert ihn auch Claudius Seidl in der FAZ - und als katholischen Filmemacher: Er ist zwar "nicht unbedingt gläubig, nicht kirchentreu. Aber überzeugt davon, dass die Sünden, bevor sie vergeben werden, erst einmal begangen werden müssen. Und dass man davon erzählen soll. Beichten sind das allerdings nicht, wenn Scorsese seine Helden beim Sündigen zeigt - eher Verführungen. ... Katholisch sind diese Filme auch, weil Wortwörtlichkeit ihnen nichts gilt; Sprache ist Klang und Rhythmus, es sind die Bilder, über deren Betrachtung man im Glücksfall zur Erkenntnis gelangt."

Patrick Holzapfel wirft im Filmdienst epische 80 Schlaglichter auf Scorsese und kommt schließlich erschöpft zu dem Schluss: "Dieses Kino bedeutet etwas. ... Es hat sich in ein kulturelles Gedächtnis eingeschrieben mit seiner schieren Wucht und Liebe für das, was es zu leisten im Stande ist. Egal, ob man viel oder wenig mit den Filmen Scorseses anfangen kann; wer auch nur ein Fünkchen an dieses Medium, an diese Kunstform glaubt, wird an diesem Mann nicht vorbeikommen. Ein ewiger Stürmer und Dränger, der größte lebende Filmemacher.", vor dem sich im Dlf auch der Filmhistoriker Rainer Rother in Form eines Radioessays verneigt. ARD und ZDF haben den Geburtstag des Filmemachers für ihre Mediatheken gründlich verschlafen, Arte hat pro forma ein kleines Filmchen aus dem Jahr 2013 über Scorseses Vorspänne aus dem Archiv geholt.

"Der weltweit vorbildliche Filmcluster am Potsdamer Platz steht vor dem Exitus", schreiben Hanns-Georg Rodek und Katharina Dockhorn in der Welt mit Blick auf die Berlinale: Das Filmhaus muss demnächst geschlossen seine Räumlichkeiten verlassen, das große CineStar-Kino ist längst geschlossen, nur der "Berlinale-Palast" als Austragungsort für den Wettbewerb hat seinen Vertrag bis 2029 verlängern können. Ein Neubau beim Gropiusbau für das Filmmuseum wird wohl erst Ende des Jahrzehnts etwas und zu allem Unglück hat das CinemaxX am Potsdamer Platz, als letztes verbliebenes Kino für öffentliche Vorführungen "elektrisch verstellbare Luxus-Ledersessel eingebaut und somit die Sitzkapazität des Hauses halbiert. ... Aus all diesen Provisorien droht ein Dauerzustand zu werden. Es ist leider klar, dass der zwei Jahrzehnte gelebte Traum von einer Berlinale der kurzen Wege endgültig vorbei und das einzigartige Filmquartier am Potsdamer Platz verloren ist."

Radikales Formenerfinden: "Inu-Oh" von Masaaki Yuasa

Masaaki Yuasa gelingt mit seinem Animationsfilm "Inu-oh" der Spagat, aus seiner magisch angehauchten Geschichte im Japan der Vormoderne eine "psychedelische Rockoper" zu gestalten, freut sich Lukas Foerster im Perlentaucher. Den Filmemacher würdigt er als einen "unermüdlichen Erfinder von Formen, der, mit einem schier unglaublichen Arbeitstempo, sowohl Lang- als auch Kurzfilme und außerdem noch regelmäßig ganze Fernsehserien inszeniert." Doch "nachdem er zuletzt, auf freilich betont eigensinnige Art, mit dem Mainstream flirtete - und im Zuge dessen mit 'Lu Over the Wall' (2017) eine der schönstmöglichen Hommagen an die Filme der Ghibli-Studios verantwortete - kehrt er mit 'Inu-Oh' wieder zur Radikalität seines frühen Meisterwerks "Mind Game" (2004) zurück. Die Bilder selbst sind immer frei bei Yuasa. In seinem neuen Film fallen auch wieder die narrativen Rahmungen weg, die sie in einigen seiner anderen Arbeiten zwar nicht bändigen, aber doch kanalisieren. ... Erzählen als permanentes Überschreiben der Erzählung - das ist der Kern des Films, zu dem 'Inu-oh' vorstößt." Weitere begeisterte Kritiken in taz, critic.de, Artechock und epdFilm.

Weitere Artikel: Fiona Berg resümiert für critic.de die Duisburger Filmwoche. Bert Rebhandl empfiehlt dem Wiener Publikum im Standard die Retrospektive Peter Schreiner im Filmarchiv Austria. In der FR erinnert Daniel Kothenschulte an Asta Nielsen. Welt-Kritiker Matthias Heine erkennt im neuen, von Taika Waititi inszenierten und mit Daniel Craig prominent besetzten Wodka-Werbespot nicht nur seinen eigenen Style wieder, sondern auch die Zeit seiner Jugend in den Achtzigern.



Besprochen werden Alejandro González Iñárritus "Bardo" (taz), neue Porträtfilme über Leonard Cohen und Elfriede Jelinek (FR, Nachtkritik), Karoline Herfurths romantische Komödie "Einfach mal was Schönes" (es "stellt sich immer wieder jene Leichtigkeit ein, die Prinzip und Ziel aller guten Komödien ist", freut sich Bert Rebhandl online nachgereicht in der FAS, SZ), Tilman Königs Dokumentarfilm "König hört auf" über den gegen Neo-Nazis engagierten Pfarrer Lothar König (Tsp), die von den "Dark"-Machern produzierte Netflix-Serie "1899" (ZeitOnline), Mark Mylods Satire "The Menu" (Standard) und die DVD-Ausgabe von Lilith Kraxners und Milena Czernowskys Debütfilm "Beatrix" (taz).
Archiv: Film