Efeu - Die Kulturrundschau

Unausgesetzter Goldregen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.11.2022. Die SZ beobachtet leicht abgestoßen, wie sich Hollywood-Größen an Katar und Saudi-Arabien anbiedern. Dezeen blickt auf ein 4,4 Kilometer hohen Abgrund katarischer Schäbigkeit. Mitten ins Herz trifft Luca Guadagnino den Tagesspiegel mit seiner Kannibalenromanze "Bones and All". Im chinesischen Kino florieren dagegen glamouröse Großstadtliebesgeschichten, weiß ZeitOnline. Die FR feiert das Basler Kulturzentrum Elys als Pionierprojekt in Sachen Urban Mining. Die FAZ berauscht sich im Städel an Guido Renis Farbspektakeln. Und der Streit um Teodor Currentzis geht weiter.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.11.2022 finden Sie hier

Architektur

6751 Betonblöcke übereinandergestapelt. Bild: Week 

Das französisch-chilenische Architekturstudio Week hat ein Mahnmal entworfen, das die humanitäre Katastrophe der WM in Katar widerspiegeln soll. Dezeen erklärt die Idee: "Der Turm, der Katar-WM-Mahnmal heißen könnte, würde aus gestapelten Betonblöcken bestehen, wobei jeder Block einen Arbeitsmigranten repräsentiert, der seit Vergabe der WM 2010 in Katar ums Leben gekommen ist." Er würde 4,4 Kilometer hoch werden. Instruktives zur Lage der Arbeitsmigranten in Katar und dem peinlichen WM-Spektakel beim unnachahmlichen John Oliver.

Einst Warenlager, jetzt Kultur- und Gewerbehaus. Das Elys in Basel. Foto: in situ

"Lieber gar nicht bauen als zu viel bauen!", forderte schon Frei Otto, und in der FR kann der Architekturtheoretiker Robert Kaltenbrunner diese Devise nur bekräftigen. Und wenn bauen, dann bitte mit Bestand: "Wie man das Banal-Vorhandene in den Mittelpunkt kreativen Schaffens rückt, zeigt das Schweizer Büro in situ. So hat es unlängst ein Pionierprojekt in Sachen 'Urban Mining' verwirklicht: das Kultur- und Gewerbehaus ELYS in Basel. Es handelt sich um den Umbau eines knapp 32 000 Quadratmeter großen Gewerbebaus von 1982, der als Verteilzentrum und Großbäckerei der Schweizer Supermarktkette Coop diente, wobei man so weit wie möglich auf die Verwendung bestehenden oder gebrauchten Materials setzte. Bei den Fenstern handelt es sich um Restbestände verschiedener Hersteller aus der Umgebung, die Lamellen des Holzrahmenbaus wurden aus rückgebauten Holzkonstruktionen zugesägt, und bei der Dämmung setzte man zu einem großen Teil auf Steinwolleverschnitt von anderen Baustellen. Das spart reichlich CO2."
Archiv: Architektur

Film

Auf der Suche nach Nahrung im amerikanischen Hinterland: "Bones and All"

Wenn Luca Guadagnino mit "Bones and All" seine jungen Hauptdarsteller Taylor Russell und Timothée Chalamet in den Achtzigern als Kannibalenpärchen ins Herzland der Vereinigten Staaten ziehen lässt, dann geht es da nicht nur um New-Hollywood-Romantik, sondern das mit dem Herz hat schon seinen doppeldeutigen Hintersinn, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Trotzdem ist in Guadagninos Liebesgeschichte nie eine spekulative Freude an der Grenzüberschreitung spürbar. Der Kameraschwenk auf ein Arrangement von Familienbildern, auf denen das Opfer zu sehen ist (während auf der Tonspur Knochen knacken), vergegenwärtigt selbst im Moment des Todes die moralische Dimension ihrer Tat." Der Film ist "auch eine Zeitreise", verrät Bert Rebhandl im Standard, was "nicht zuletzt der Soundtrack verrät: von Joy Division bis New Order. Denn das ist Guadagnino ja auch: ein Pop-Enzyklopädiker, der sich nimmt, was ihm gerade passt, oder der immer das Pop-Zitat findet, das tatsächlich gerade passt. Hipsterkino auf der Suche nach wahren Gefühlen." Für die taz bespricht Arabella Wintermayr den Film.

Ziemlich schäbig findet es Suan Vahabzadeh in der SZ, dass der sonst als moralisches Gewissen und Elder Statesman Hollywoods auftretende Morgan Freeman sich für einen Auftritt in Katar hergegeben hat. Der Geldbetrag, der dafür geflossen ist, dürfte groß genug gewesen sein, um Bedenken auszuhebeln. Zugleich lädt Saudi-Arabien, wo Kinos lange verboten waren, plötzlich internationale Superstars auf ein neues Festival. Das Land "ist der neueste heiße Markt für Filme, und das zählt. Dort werden derzeit Hunderte Kinos gebaut, und die ersten Änderungen an Hollywood-Filmen für diesen Markt hat es schon gegeben, aus dem ersten 'Black Panther' wurde rasch eine Kuss-Szene herausgeschnitten. ... Darin besteht vielleicht die eigentliche Enttäuschung des Zuschauers: Hollywood ist ja nicht zufällig liberal - das alte Hollywood, die amerikanische Filmindustrie, wurde mehrheitlich von Geflüchteten und Geächteten gegründet, deren Erfahrungen die Grundlage waren für die Haltung, die ihre Filme der Welt entgegensetzten. Kino und Autokratie passen nicht zusammen, was dabei rauskommt, ist höchstens Propaganda."

Die unter Pseudonym arbeitende chinesische Journalistin Franka Lu nimmt die bizarre Geschichte von Li Ruijuns Armutsdrama "Return to Dust" - gezeigt auf der Berlinale, von der chinesischen Kritik zunächst gefeiert, dann schlagartig aus dem Verkehr gezogen - zum Anlass, auf ZeitOnline über die aktuelle Lage des chinesischen Kinos zu schreiben: Von der Armut im Land will dieses nämlich kaum etwas wissen. Die "Unterhaltungsindustrie richtet ihre Produkte in erster Linie an das urbanisierte China, an Konsumentinnen und Konsumenten mit wachsendem Wohlstand: mit glamourösen Großstadtliebesgeschichten, Amouren zwischen Kaisern und ihren Frauen, Fantasyfilmen, Thrillern, Sci-Fi- und Kriegsfilmen. Aus Publikumsträumen wird dort die vermeintliche Realität, die sich die Leute herbeisehnen. Die Filmkritikerin Mao Jian hat einen alarmierenden Trend bei chinesischen Filmen und Fernsehfilmen beobachtet: Die Storys sind in der Regel unglaublich konservativ. In vielen der beliebtesten Filme sehen die Reichen und Mächtigen, überhaupt Menschen mit hohem sozialem Status, hervorragend aus und verhalten sich tugendhaft, während die Armen und Marginalisierten unvernünftig, hässlich und sogar verachtenswert erscheinen. Unter dem Einfluss dieser Sorte populärer Kultur nimmt unter der jüngeren Generation das Mitgefühl für die Benachteiligten geradezu folgerichtig ab. Arm und hässlich zu sein, das wird zunehmend als moralischer Defekt betrachtet."

Weitere Artikel: Die Berlinale widmet Steven Spielberg ihre nächste Hommage, meldet Andreas Kilb in der FAZ. Besprochen werden Alejandro G. Iñárritus "Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten" (Jungle World), Eva Webers Dokumentarfilm "Merkel - Macht der Freiheit" (ZeitOnline), der Disney-Animationsfilm "Strange Worlds" (Standard), Johannes Hartmanns und Sandro Klopfsteins Schweiz-Groteske "Mad Heidi" (ZeitOnline) sowie die Justizserie "Reasonable Doubt" (taz).
Archiv: Film

Bühne

Das Kopenhagener Ballett kündigt dem Choreografen John Neumeier die Zusammenarbeit, wie Thomas Borchert in der FR berichtet. Stein des Anstoß ist offenbar Neumeiers Othello-Choreografie, in der sich Desdemona Othello als wilden Stammeskrieger imaginiert, was einige Tänzer als "rassistische Stereotypen" werten, aber Borchert sieht mit Blick auf Ballettchef Nicolaj Hübbe auch veränderte Machtverhältnisse: "In der TV-Dokumentation 'Tanz mit Rassismus' hat der 55-jährige Hübbe einen faszinierend offenen Einblick in seine Beweggründe für die Absetzung von Neumeiers 'Othello' gegeben. Nie im Leben würde er dem Choreografen Rassismus unterstellen. 'Aber wenn sich die jungen Kräfte beim Tanzen unwohl fühlen, muss ich mich dem stellen.' Auch weil die Zukunft des Balletts von deren Arbeitskraft abhängig sei."

Besprochen werden Yael Ronens Komödie "Blood Moon Blues" am Maxim-Gorki-Theater Berlin (SZ) und Vivaldis Barockoper "Il Giustino" an der Staatsoper Berlin (FR, FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Sergei Gerasimow führt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw weiter. Helmut Böttiger schreibt in der taz einen kurzen Nachruf auf Gunilla Palmstierna-Weiss, deren (in der FAZ besprochene) Autobiografie eben erst auf Deutsch erschienen ist.

Besprochen werden unter anderem Mohamed Mbougar Sarrs 2021 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneter Roman "Die geheimste Erinnerung der Menschen" (FR, SZ), Elfriede Jelineks "Angabe der Person" (NZZ), Lukas Bärfuss' Essay "Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben" (taz), Thomas von Steinaeckers und David von Bassewitz' Comic "Stockhausen. Der Mann, der vom Sirius kam" (Standard), Seishi Yokomizos Krimi "Die rätselhaften Honjin-Morde" (online nachgereicht von der FAZ) und Steven Uhlys "Die Summe des Ganzen" (SZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Im Goldregen: Guido Renis "Himmelfahrt Mariens", 1599. Bild: Städel Museum


Im 17. Jahrhundert galt Guido Reni als göttlich, im 19. Jahrhundert krähte kein Hahn mehr nach dem Barockmaler aus Bologna, erzählt FAZ-Kritiker Stefan Trinks, der im Frankfurter Städel ein Spektakel aus Farben, Licht und Tränen erlebt. Etwa bei dem Auftaktbild der Schau, der "Himmelfahrt Mariens": "Auf eine Kupferplatte gemalt, strahlen die Farben metallisch klar, das Blau des aufflatternden Marienmantels unterseeisch azurblau, die durch dunkle Wolken brechenden goldenen Strahlen überirdisch stark, als prassle wie in der Mythologie bei Danaë eine Wand unausgesetzten Goldregens auf die Muttergottes herab - tatsächlich verzichtet Reni völlig auf die Heiliggeisttaube, Gottvater in Menschengestalt sowie Christus -, allein sein Goldlicht vermag die Maria im Himmel aufnehmende Trinität zu verkörpern. Noch vor der Jahrhundertwende 1599 gemalt, sind solche Farbfeuerwerke ohne wirkliche Konkurrenz und prägten nordalpine Italienreisende wie Rubens massiv."

Weiteres: Der Tagesspiegel meldet, dass die Fotografin und Aktivistin gegen die Pharma-Machenschaften der Familie Sackler Nan Goldin im Ranking der Zeitschrift Monopol die Top 100 der Kunstwelt anführt. Im Guardian meldet Benn Quinn, dass zwei Klimaaktivisten, die sich in der Courtauld Gallery an Vincent van Goghs "Pfirsichbäume in Blüte" festgeklebt hatten, von einem Londoner Gericht verurteilt wurden. Der Schaden, den sie mit ihrem Protest verursachten, lag unter 2.000 Pfund, doch der alte Rahmen sei dauerhaft beschädigt, befand die Richterin. In der taz freut sich Susanne Messmer über Sanierung und Ausbau des Zentrum für Kunst und Urbanistik, kurz ZK/U, das sie als eine der spannendsten Adressen Berlins preist, "wo sich zeitgenössische Kunst und stadtpolitische Diskurse auf eine angenehm unabgehobene Art treffen".
Archiv: Kunst

Musik

In der SZ nimmt Michael Stallknecht das Konzert von MusicAeterna unter Teodor Currentzis in Baden-Baden zum Anlass, den kritisierten Dirigenten und das von einer russischen Bank finanzierte Orchester zu verteidigen: "Die Musiker können nichts dafür, dass ihr Sponsor sanktioniert wird. Und ein frei finanziertes, nichtstaatliches Ensemble dürfte es sich kaum leisten können, sich aus politischen Gründen von sämtlicher ökonomischer und institutioneller Unterstützung zu lösen, ohne sich damit selbst zu zerstören. ... Und da ist zum anderen der Vorwurf, dass Currentzis selbst sich nach wie vor nicht öffentlich von Wladimir Putin distanziert habe. Doch da es bislang kein Indiz gibt, dass er diesem weltanschaulich nahesteht (eher viele für das Gegenteil), läuft die wahrscheinlichste aller Antworten auf dasselbe hinaus: dass Currentzis schlicht das Überleben seiner Ensembles sichern will, die er aus dem Nichts aufgebaut hat."

Axel Brüggemann von Crescendo, der sehr genau hinsieht, was MusicAeterna und Teodor Currentzis veranstalten, wird von Stallknecht übrigens der Namensnennung nicht für würdig erachtet und als anonymer "Musikblogger" hingestellt. Ihm verdanken wir aber Hinweise darauf, dass ein Musiker von MusicAeterna sich auf Instagram dabei filmte, wie er die Heizung hochdreht und dabei "Ich bringe die deutsche Wirtschaft zu Fall" feixt. Aber auch darauf, dass Ensemblemitglieder von MusicAeterna die Ukraine verunglimpfen. Und dass Musiker des Orchesters auch mal "für unsere Jungs an der Front" singen. Vielleicht ist Stallknechts Deutung am Ende doch etwas bequem.

Weitere Artikel: Musiksoziologe Rainer Prokop sorgt sich im Standard-Gespräch, dass immer mehr klassische Musiker prekarisiert werden. Christian Wildhagen würdigt in der NZZ die Verdienste von Michael Haefliger als Leiter des Lucerne Festivals, das er 2025 verlassen wird. Dazu passend resümiert Marco Frei in der NZZ die "Forward"-Ausgabe des Festivals. Harald Eggebrecht resümiert in der SZ den Cellistenwettbewerb "Grand Prix Emanuel Feuermann", der erstmals seit Jahren wieder in Berlin stattfand. In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner dem Jazzmusiker Jiří Stivín zum 80. Geburtstag. Andrian Kreye schreibt in der SZ kurz und knapp zum Tod des kubanischen Liedermachers Pablo Milanés.

Und Neues von Bob Dylan: Dass er kein einziges Exemplar der sündhaft teuren Sonderausgabe seiner Essaysammlung "The Philosophy of Modern Song" selbst signiert hat, sorgt für heftigen Ärger und reumütige Kaufpreiserstattungen, meldet Gerhard Matzig in der SZ. Hoffentlich selbst verfasst hat Dylan indessen die frühen Liebesbriefe, die gerade in Boston versteigert wurden, wie Christian Schröder im Tagesspiegel berichtet.

Besprochen werden eine Darbietung von Georg Friedrich Haas' Komposition "ceremony II" (Standard), ein Hölderlin-Abend in Frankfurt (FR), ein Konzert des Chineke Orchestras (FR), neue Alben von Weyes Blood (ZeitOnline), und Die Nerven (Standard) sowie ein gemeinsames Live-Album von Oxbow und Peter Brötzmann (taz). Hier ein Video-Ausschnitt des dokumentierten Konzerts:

Archiv: Musik