Efeu - Die Kulturrundschau

Intellektueller Salto vorwärts

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26.11.2022. Die Zeitungen verneigen sich ein letztes Mal vor Hans Magnus Enzensberger, dem großen Chronisten, der dem Zeitgeist immer eine entscheidende Bleistiftlänge voraus war, wie die Welt schreibt. Die NZZ verabschiedet einen Luftikus, mit dem ideologisch kein Staat zu machen war. In der FAZ ärgert sich Michael Kleeberg, dass Übersetzer "schamlos ausgebeutet" werden. Berliner Zeitung und taz feiern eine wüste Party im SM-Käfig von Monica Bonvicini. Die Berliner Zeitung entdeckt einige Ungereimtheiten im Zeit-Bericht über Johann König. In der Zeit hört Navid Kermani echte Musik aus Madagaskar.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.11.2022 finden Sie hier

Literatur

Hans Magnus Enzensberger (Bild: Mariusz Kubik, CC BY 2.5)

Hans Magnus Enzensberger ist tot. Die Feuilletons trauern um einen so großen wie wendigen, furiosen Schriftsteller, Essayisten, Interventionisten, Übersetzer, Verleger und Chronisten - "einen wie ihn gab es noch nicht und wird es wohl auch nicht wieder geben", schreibt Paul Ingendaay in der FAZ. Enzensberger hat das geistige Leben der alten Bundesrepublik nicht nur maßgeblich geprägt, sondern überhaupt erst mit aus der Taufe gehoben hat - er "war dem Zeitgeist immer eine entscheidende Bleistiftlänge voraus", schreibt Richard Kämmerlings in der Welt. "Dass er nicht zu fassen und zu fangen ist, seinen Kritikern und dem Diskurs immer eine entscheidende Finte voraus, gerann bei Enzensberger fast zum Klischee und machte ihn zum bewunderten Vorbild debattenprägender Großfeuilletonisten."

"Den Typus des Intellektuellen, der mit Hans Magnus Enzensberger in atemberaubender Geschwindigkeit heranwuchs, gab es im Nachkriegsdeutschland noch nicht", schreibt dazu passend Lothar Müller in der SZ. Enzensbergers Lyrikdebüt 1957, ein Jahr nach dem Tod Benns und Brechts, brach sich aggressiv Bahn. "Ja, es gab den Zorn und den Hohn in seinen Versen", doch "der Autor dieser aggressiven Wendung war kühl bis ins Mark. ... Er dichtete mal reimlos, in unregelmäßigen Rhythmen, setzte sich aber auf der nächsten Seite über alle Reimverbote hinweg, experimentierte hier mit diesem, dort mit jenem Metrum, stieg in ältere Sprachschichten hinab, nahm Binsenweisheiten beim Wort und auseinander. Zorn und Hohn dieses jungen Dichters waren eingebettet in ein aufreizend souveränes Formbewusstsein, eine unbändige Lust am artifiziellen Sprachspiel."

Er habe "ihn immer für den Intelligentesten unseres Jahrgangs gehalten", schreibt Jürgen Habermas in einer kurzen Notiz in der SZ. Enzensberger habe "auf literarisch einzigartige Weise die Plastizität des menschlichen Geistes verkörpert. ... Sein Tod macht mir seine anhaltende intellektuelle Präsenz bewusst."

Für Peter von Becker im Tagesspiegel war Enzensberger "einer der hellsten Köpfe im Halbdunkel der deutschen Nachkriegszeit, im Zwielicht vieler kulturpolitischer Debatten, im scharfen Glanz der internationalen Literatur- und Medienszene". Die bleierne Medienkritik, wie sie in den Sechzigern Mode war, ließ Enzensberger hinter sich, er ätzte als junger Mann, "so scharfsinnig wie spitzzüngig gegen die Sprache des Spiegels oder den 'Journalismus als Eiertanz' der damals altkonservativen FAZ. Dass Enzensberger später in beiden Medien durchaus gerne auftrat, im Spiegel sogar regelmäßig, spielte keine Rolle. Oder besser gesagt: HME spielte dabei nur seine Rolle. Zu ihr gehörte auch der intellektuelle Salto vorwärts (nie rückwärts). Er war ein quecksilbriger Kopf, ein Gedankenflieger, Formulierungstänzer."

Christian Thomas führt in der FR durch Enzensbergers bewegtes Leben zwischen Literaturbetrieb, Rundfunkredaktionen, direkter Tuchfühlung zur Studentenrevolte und späterer Aufarbeitung deren Versäumnisse und Fehlleistungen. "Die Verhältnisse mochten noch so misslich, die Anfechtungen noch so brüskierend sein: Zum Betriebsverfassungsgesetz seiner intellektuellen Zeitgenossenschaft gehörte gelenkige Lässigkeit. ... Wenn ihm etwas widerstrebte, dann einer von diesen 'schwer gekränkten Kulturkritikern' zu sein. Cool hielt er zu einem Milieu Abstand, das im bebenden Ton der Betroffenheit um Aufmerksamkeit buhlte." Paul Jandl verabschiedet sich in der NZZ von einem entspannten Individualisten: "Den 'Freuden der Inkonsequenz' hat sich der Autor eher hingegeben als der ordentlichen Buchhaltung, aber genau das hat zu einem Werk geführt, das vielseitiger kaum sein könnte." So "war in diesem langen Leben stets ein Zickzack des Tuns und Denkens".

Der Schriftsteller Jochen Schimmang erinnert in der taz an einen Literaten, den immer schon das Leichte und Wendige auszeichnete: "Seine berühmten Zeit- und Generationsgenossen, von Grass über Walser bis zu Johnson, waren doch sehr schwerblütig-deutsch, in ihrem Habitus ebenso wie in ihrer Schreibweise." Enzensberger hingegen "war ein Autor mit einem Sinn fürs Spielerische im besten Sinn". Enzensbergers Literatur wird wohl eher museal werden, glaubt hingegen Helmut Böttiger auf ZeitOnline, aber "als analysierender und beobachtender Reporter und Essayist wird Enzensberger zweifellos überdauern."

Die SZ sammelt zahlreiche Stimmen von Weggefährten und Kollegen: "Solange ich lebe, ist er nicht tot", schreibt Alexander Kluge, "einen solchen Geist wie ihn gab es in Deutschland nicht zweimal", hält Michael Krüger fest und für Durs Grünbein war Enzensberger "der einzige durch und durch vernünftig denkende Dichter, der mir im Leben begegnet ist".  Dlf Kultur hat eine Enzensberger-Aufzeichnung von 1994 aus seinem Archiv geholt. Der Dlf sprach 2018 mit Enzensberger über dessen Leben und Arbeit. Der BR präsentiert ein Radioporträt von Knut Cordsen. Der SWR hat ein Radiogespräch von 1999 in seinem Archiv entdeckt. In der ARD-Mediathek finden wir ein Porträt von 2014, daneben hier und dort zwei Archivbeiträge aus dem Jahr 1961. Außerdem hat die Zeit Moritz von Uslars "99 Fragen an Hans Magnus Enzensberger" aus dem Jahr 2010 wieder online gestellt.

In der FAZ ärgert sich der Schriftsteller und Übersetzer Michael Kleeberg darüber, dass die Honorare fürs Übersetzen seit rund 20 Jahren stagnieren - nicht nur angesichts der zuletzt rapiden Inflation also de facto eine gravierende und fortschreitende Honorarkürzung. "Entweder werde ich unterbezahlt, oder der gesamte Berufsstand der literarischen Übersetzer wird unterbezahlt oder deutlicher: schamlos ausgebeutet. ... Natürlich argumentieren die Verlage seit eh und je, solch eine Angleichung der Übersetzerhonorare an die wirtschaftliche Realität sei nicht darstellbar. In dieser Szene wird ja gerne mit der Apokalypse gearbeitet, also steht gleich die Zukunft des Buches auf dem Spiel, wenn Übersetzer einen angemesseneren Lohn verlangen. Aber die Bücherpreise haben ja halbwegs Schritt gehalten mit der Teuerung. Wenn die Übersetzer daran nicht teilhaben, wer dann? Ich weiß, dass die Buchhändler mehr als ein Drittel des Ladenpreises bekommen, Amazon angeblich sogar bis zu fünfzig Prozent, und ich weiß auch, dass ich mehr Verleger als Übersetzer kenne, die Mercedes fahren und ein eigenes Haus haben. Was tun?"

Weiteres: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. In seiner FR-Reihe zur ukrainischen Literatur widmet sich Christian Thomas diesmal den Erzählungen Nikolai Gogols. Thomas Hummitzsch spricht in seinem Intellectures-Blog mit Martin Zähringer, dem Begründer des Climate Cultures Festival Berlin, über Nature Writing. Der Schriftsteller Guillaume Gagnière schreibt in der NZZ über sein Jahr auf Reisen im Fernen Osten. Für das "Literarische Leben" der FAZ beugt sich Axel Weidemann über das nach 25 Jahren endlich fertiggestellte "Große japanisch-deutsche Wörterbuch". Und Erhard Schütz räumt für den Freitag Sachbücher vom Nachttisch, unter anderem Andreas Isenschmids Studie über Proust und das Jüdische. Johan Schloemann (SZ) und Andreas Platthaus (FAZ) gratulieren dem Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem zwei neue Romane von Cormac McCarthy (SZ), Charlotte Kraffts "Marlow im Sand" (ZeitOnline), Tillie Olsens "Was fehlt" (taz), Magali Le Huches Comic "Nowhere Girl" (taz) und Joshua Groß' "Prana Extrem" (FAZ).

Außerdem erscheint heute noch eine Literaturbeilage der FAZ, die wir in den nächsten Tagen auswerten werden.
Archiv: Literatur

Film

Sebastian Seidler nimmt im Filmdienst Luca Guadagninos "Bones and All" zum Anlass, um über Kannibalismus als filmische Metapher nachzudenken. In der FAZ gratuliert Maria Wiesner Rosa von Praunheim zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden James Grays "Zeiten des Umbruchs" (Standard, mehr dazu hier), Frances O´Connors Biopic über Emily Brontë (SZ, mehr dazu bereits hier), Yvan Attals MeToo-Drama "Menschliche Dinge" mit Charlotte Gainsbourg (Standard), Don Halls Disney-Animationsfilm "Strange World" (critic.de) und die Amazon-Serie "Fair Trade" (FAZ).
Archiv: Film

Kunst

Als "zärtlich-brutale Gotteslästerung" am Mies-van-der-Rohe-Bau erlebt Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung) Monica Bonvicinis Installation "I Do You" in der Neuen Nationalgalerie, in der die in Berlin lebende Künstlerin ein überdimensionales Baugerüst errichten ließ, es dröhnen, poltern und krachen lässt und einmal mehr Machtverhältnisse in Frage stellt: "Bonvicini hat die Kühnheit, darüber noch eine metallene Empore als zweite Ebene zu setzen, mit einem Bilderteppich von wie nach einer wüsten Party oder einer Razzia auf dem Fußboden verstreuten Klamotten. Darüber hängen an SM-Interieur erinnernde Kettenschaukeln mit Lederlappen und grelle Neonröhrenleuchten. Von der Hallendecke baumeln Handschellen. Da kennt sich offenbar jemand aus in der Welt aus Macht, Sex, Spiel und bizarrer Partyszene. Dreht sich Mies jetzt wohl im Grabe um bei diesen anzüglichen Implantaten?" In der taz würde sich Sophie Jung wünschen, Bonvicinis "humorvolle" Installation wäre eine "Ansage zu mehr kulturpolitischem Mut", etwa mit Blick auf das geplante Museum des 20. Jahrhunderts.

Bild: Tesfaye Urgessa: Hiatus. 2017. Courtesy Shariat Collections. Foto: Jorit Aust.

Recht seltsam erscheint Olga Kronsteiner und Katharina Rustler im Standard die aktuelle Ausstellung "The New African Portraiture. Shariat Collections" in der Kunsthalle Krems schon. Direktor Florian Steininger zeigt Werke aus der Sammlung des Wieners Amir Shariat, der auch als Künstlermanager tätig ist. Unüblich ist, dass ein Großteil der gezeigten Werke erst während der Entstehung der Ausstellung angekauft wurden. Handelt es sich um eine reine Verkaufsschau?, fragen Kronsteiner und Rustler. Zu sehen sind auch Werke des in Ghana geborenen Künstlers Amoako Boafo, der vielen jungen Kollegen nicht nur Studios zur Verfügung stellt. Er gilt ihnen auch als "unmittelbares Vorbild": Das "verraten Werke von Millicent Akweley oder Aplerh-Doku Borlabi. Das Rezept scheint bewährt: monumentale Figuren, bunte Kleidung, Betonung der Hautfarbe. In den von Schiele beeinflussten Werken Boafos sind es mit den Fingern gemalte Brauntöne, bei Akweley Patchworkarbeiten und bei Borlabi Kokosnussschalen. Ein 'Signature-Style', der sich bei den in den letzten zwei Jahren entstandenen Arbeiten widerspiegelt. Durch die Nachfrage am Markt scheint Boafos Stil längst zur Marke geworden. Kunst und Markt seien nicht zu trennen, so Direktor Steininger."

Anfang September berichtete die Zeit von anonymen Belästigungsvorwürfen gegen den Galeristen Johann König, König selbst veröffentlichte in der Berliner Zeitung eine Stellungnahme, der Freitag warf der Zeit reine "Verdachtsberichterstattung" vor, online wurden schließlich Passagen von der Zeit gelöscht. (Unsere Resümees). Es gab Ermittlungen gegen König, die keinen Grund zur Klageerhebung gaben, berichtet Sören Kittel heute in der Berliner Zeitung. Dennoch: Die Karriere des Galeristen ist "schwer beschädigt". Für Kittel ein Fall von "aktivistischem Journalismus", wie er in einer ausführlichen Analyse darlegt: "Recherchen der Berliner Zeitung lassen den Schluss zu, dass dieser Bericht so niemals hätte veröffentlicht werden dürfen. Es gibt Compliance-Konflikte bei einer der Autorinnen und einem Herausgeber der Zeit. Der Text wirkt einseitig recherchiert - und obendrein existiert ein Drehbuch-Exposé für eine Art Netflix-Serie, in dem der König-Fall ebenfalls behandelt wird und das sich wie ein Handbuch für Aktivismus liest, geschrieben von einer Autorin jenes Zeit-Textes. Es ist einer anonymen Quelle zufolge vor der Veröffentlichung des Zeit-Textes entstanden und hat die anschließende Recherche quasi präjudiziert, also den Schuldspruch vorweggenommen."

Außerdem: Erst der Juwelenraub im Grünen Gewölbe vor drei Jahren, dann ergriff ein von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden mit dem Rückkauf beauftragter Antwerpener Kunsthändler samt 40.000 Euro die Flucht, erinnert Peter Richter, der in der SZ noch einmal die Ereignisse nachzeichnet, aber auch nach der Rolle der Sicherheitsbehörden fragt. In der FAZ berichtet Wolfgang Krischke von einer Diskussion am Hamburger Institut für Sozialforschung über die Documenta 15, bei der der Präsident der Hamburger Hochschule für bildende Künste (HfbK), Martin Köttering, an dessen Hochschule auch zwei Mitglieder von Ruangrupa Gastprofessuren innehaben, eine "'tendenziell pauschalisierende Frontstellung' vor allem seitens der Medien, die durch 'Unverständnis, Unterstellungen' und 'Verurteilungen' geprägt sei." Auch ansonsten wurde viel relativiert, schreibt Krischke.

Besprochen werden die Etel-Adnan-Ausstellung im Münchner Lenbachhaus (FAS), die große Guido-Reni-Schau im Frankfurter Städel Museum (FR) und die Max-Beckmann-Schau "Departure" in der Pinakothek der Moderne in München (Welt).
Archiv: Kunst

Bühne

"Das Spiel wird heute zerstört", sagt Sophie Bischoff, Regie-Studentin der an der Ernst-Busch-Schauspielschule, über den "Kulturkampf", der auch an Schauspielschulen Einzug gehalten habe, im Welt-Gespräch mit Jakob Hayner. "Einfach nur Schauspieler werden? Das geht nicht. Es muss immer mit einem moralischen Mehrwert einhergehen, ob Rassismus, Sexismus oder Ableismus (also Behindertenfeindlichkeit), irgendetwas soll mit dem eigenen Tun unmittelbar bekämpft werden. Für Bischoff ist das eine 'Privatisierung von Theaterpolitik', die Idee, man müsse das eigene Ich zum Austragungsort aller politischen Kämpfe unserer Zeit machen. Vor allem das eigene Schauspieler-Ich. Der Umweg über die Kunst stört dann nur."

Außerdem: Im Gespräch mit Michael Maier (Berliner Zeitung) macht sich Staatsopern-Intendant Matthias Schulz Gedanken, wer Daniel Barenboim als Generalmusikdirektor ersetzen könnte: Christian Thielemann kommt offenbar "gerade auf den Geschmack, dass es eigentlich das viel angenehmere Leben wäre, sich als freier Dirigent überall auf der Welt feiern zu lassen, nur noch das zu machen, was er will, sich mit keinen Institutionen beschäftigen zu müssen. Ich weiß nicht, ob er eine solche Position überhaupt noch anstrebt."

Besprochen werden Steffen Wilhelms Inszenierung "Ein Zimmer für zwei" in der Komödie Frankfurt (FR), das Donizetti-Festival in Bergamo (Tagesspiegel), das irische Opernfestival "Wexford" (FAZ), Lily Sykes' Inszenierung von Ben Jonsons "Der Alchemist" am Staatsschauspiel Dresden (nachtkritik), Michael Rufs "Die Klima-Monologe" im Heimathafen Neukölln (nachtkritik), Adewale Teodros Adebisis Inszenierung von Shakespeares "Othello" am Nationaltheater Weimar (nachtkritik) und Anna-Sophie Mahlers Inszenierung von Johann Strauß' "Die Rache der Fledermaus" am Hamburger Thalia Theater (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Musik

In der aktuellen Ausgabe der Zeit schreibt Navid Kermani sehr beeindruckt über die Musiker, denen er im Süden Madagaskars begegnet ist. "Die traditionellen Musiker sind die letzte Hoffnung für unsere Region, wird der Sänger Nainako später sagen, und ich werde begriffen haben, wie viel Wahrheit die kühne Aussage enthält. ... Bass, Laute und Gitarre sind elektrisch verstärkt, das Schlaginstrument ist ein moderner Cajon, man erkennt Einflüsse von Gospel, von Popmusik, von Soul. Die Musik, die ich auf den Dörfern selbst gehört habe, die nächste Asphaltstraße drei Tagesreisen entfernt, war erst recht nicht 'rein': auf der ersten Beerdigung so etwas Tranceartiges mit einem Sprechgesang darüber, der mir wie Hip-Hop vorkam und vielleicht tatsächlich Hip-Hop war, der Rhythmus durch Trillerpfeifen strukturiert, gewöhnliche Trillerpfeifen wie auf dem Fußballplatz; auf der zweiten Beerdigung eine Rockband mit scheppernden, metallenen Riffs; auf der dritten Beerdigung, die genau gesagt eine 'Famadihana' war, eine Wiederbestattung und also das wichtigste Fest überhaupt, auf dieser Beerdigung fünfzehn Blechbläser plus Trommel wie auf dem Schützenfest. Und doch klang die Musik - Sprechgesang, Gitarrenriffs, Blasmusik - kein bisschen übergestülpt, sondern unverwechselbar und echt. Wenn man so will: kulturelle Aneignung in Perfektion."

Im Standard äußert sich Ljubiša Tošic zu den Social-Media-Äußerungen mancher Musiker aus Teodor Currentzis' Ensemble MusicAeterna: "Selbst wenn es die neuen Social-Media-Reflexe nicht gegeben hätte: Je länger der Krieg dauert, desto unhaltbarer wird Currentzis' Schweigen und der Versuch, in Russland und im Westen verankert zu bleiben."

Außerdem: In der Zeit feiert Hannah Schmidt das britische Chineke!-Orchester. Manuel Brug porträtiert in der Welt den rumänischen Dirigenten Cristian Măcelaru. Ulrich Stock erzählt in der Zeit die Geschichte von Sun Ra und seinem Arkestra. Die taz spricht mit dem Rapper Hendrik Bolz über das von Gewalt gesäumte Aufwachsen im Osten der Nullerjahre, worüber er er kürzlich auch ein Buch veröffentlicht hat. In der SZ spricht Sido über seinen langwierigen Kokainentzug. In der FAZ gratuliert Jan Brachmann dem Komponisten Christfried Schmidt zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden ein Ligeti-Konzert des Organisten Dominik Susteck (jW), ein Berliner Auftritt der Pianistin Martha Argerich und des Cellisten Mischa Maisky (Tsp), Kae Tempests Berliner Konzert (Tsp), ein Konzert des hr-Sinfonieorchesters (FR) und Bonos Autobiografie "Surrender" (SZ).
Archiv: Musik