Efeu - Die Kulturrundschau

Das Feuer ist in den Köpfen

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28.11.2022. Die SZ lässt in der Münchner Pinakothek Max Beckmanns schwarze Karosserien an sich vorbeiziehen. In Wien begeben sich FAZ und Standard mit Dostojewskis "Bösen Geistern" in vorrevolutionäre Gesellschaft. Ronya Orthmann erkundet für die FAS mit dem syrischen Schriftsteller Khaled Khalifa die Geheimnisse der arabischen Sprache und den Alltag der Diktatur. Die FR wiegt sich mit dem Fotografen Thomas Sandberg in der Melancholie Siziliens.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.11.2022 finden Sie hier

Kunst

Max Beckmann: "Departure" 1932/35. Foto: Pinakothek der Moderne


Auch einen leichtfüßigen Max Beckmann erlebt SZ-Kritikerin Kia Vahland in der Münchner Pinakothek der Moderne, die ihre Beckmann-Ausstellung um das Thema der Abreise herum komponiert hat. Aber natürlich ist Beckmann vor allem schwermütig: "Hatte er früher einen spätimpressionistischen Stil mit hellen Farben und weichen Formen gepflegt (wie in der großen Leinwand 'Junge Männer am Meer' von 1905), so wurden seine Werke mit der Zeit immer kantiger, klarer, farbintensiver; schließlich konturierte er die meisten Figuren schwarz, was sie voneinander und von der Welt hart abgrenzt. Die moderne Unverbundenheit und Einsamkeit zog so noch offenkundiger in seine Kunst ein." Einwände erhebt Vahland allerdings, wenn die Schau Beckmann auf eine Stude mit Pablo Picasso stellt, der viel mutiger ins Offene geflogen sei: "Beckmann dagegen fährt seine schwarze Karosserie bisweilen lieber mit angezogener Handbremse. Zu sehr steht der Fahrer selbst im Mittelpunkt dieser Kunst, mit seinen Möglichkeiten und Grenzen. Weswegen Beckmanns Selbstbildnisse, die ein zwischen Wut, Zweifel und Verzagtheit hin- und hergerissenes Ich zeigen, besonders eindrucksvoll sind." Im Tagesspiegel schreibt Bernhard Schulz.

Thomas Sandberg: "Fischhändler in Catania", 2021. Bild: Galerie Pankow

Überwältigt von der trägen Schönheit Siziliens zeigt sich Ingeborg Ruthe in der FR und empfiehlt nachdrücklich die Schau "Ostinato" des Fotografen und Ostkreuz-Mitbegründers Thomas Sandberg in der Galerie Pankow: "Sandbergs Fotomotive taugen nicht für den touristischen Gebrauch. Sie entfalten ihre Wirkung abseits der Klischees, erzählen, immer wie Abschied nehmend, eine posthistorische Geschichte, melancholisch, aber nie sentimental. Er verwebt seine Bilder von der Ankunft - mal mit dem Flugzeug, mal mit der Fähre - als feinsinniger Beobachter mit der heutigen Situation in den alten Straßen, auf den mit dramatischen Skulpturen überzogenen Plätzen, den pittoresk maroden, den hart kontrastierenden modernen Bauten der Stadt. Seine Bildsprache durchdringt die Sprachbilder des Romanciers Lampedusa. Sandberg porträtiert die Sizilianer beiläufig, nie direkt. Seine Kamera bannt die sonnengebleichte Landschaft mit gleichmütigen Schafen und den antiken Ausgrabungsstätten bis hin zum rauchenden Vulkan Ätna."

Durchaus inspiriert berichtet Jörg Häntzschel von einer Bonner Tagung zur Zukunft der Kritik. Hanno Rauterberg etwa begrüßte dort den neuen Geist in der Kunst, der neue Fragen auf die Agenda gesetzt habe: "Von der nach der Dominanz weißer Männer bis zu der nach Raubkunst in den Museen. Dass es nicht die Kritik, sondern die Kunst war, die diesen Wandel eingeleitet hat, das sieht er 'mit einiger Beschämung'."

Besprochen wird eine Schau des Romantikers Johann Heinrich Füssli im Pariser Musée Jacquemart-André (FAZ).
Archiv: Kunst

Design

Im Tages-Anzeiger gratuliert Silke Wichert Calvin Klein zum 80. Geburtstag.
Archiv: Design

Literatur

Warum kehrt der syrische Schriftsteller Khaled Khalifa immer wieder in seine von Krieg und Gewalt gezeichnete Heimat zurück, fragt sich Ronya Othmann von der FAS und stellt die Frage auch ihm selbst bei einer Begegnung in Berlin. "Der Schriftsteller, sagt er, müsse bei den Menschen sein, über die er schreibt. Er müsse seine Sprache als Umgebung haben, und die sei bei ihm nun mal Arabisch. Eine andere habe er nicht. 'Manchmal denke ich, wie froh ich doch bin, diese wunderbare Sprache zu haben. ... Ich kenne noch immer nicht all ihre Geheimnisse.'" Und "während wir uns unterhalten, frage ich mich, ob der Begriff der sogenannten inneren Emigration auch auf Khaled Khalifa zutrifft, ob er überhaupt auf die Situation in Syrien zutrifft. Spricht er vom Leben in der Diktatur, dann sagt er, 'das ist normal für uns'. Als er die Beerdigung eines ermordeten Freundes besuchte, nahmen Sicherheitskräfte ihn fest und brachen seinen Arm - 'nichts Besonderes'."

In der FAZ erklärt die Schriftststellerin Angelika Overath, warum sie nicht gendern will. Sie hält es "nicht für nötig. Denn das generische Maskulinum (die allgemeine Männlichkeitsform) benennt Frauen nicht nur 'mit', es meint Männer wie Frauen gleichermaßen: 'Frauen sind die entspannteren Bruchpiloten.' Im Deutschen sind alle Plurale weiblich: der Mann, die Männer. Da könnten sich die Männer ja auch nur 'mitgemeint' fühlen in einem weiblichen Kosmos der Vielheit. Zugegeben, der Vergleich ist schief. Aber solche Schieflagen bestimmen die Gender-Diskussion aufs Abenteuerlichste."

Weiter Trauer um Hans Magnus Enzensberger (unser Resümee der ersten Nachrufe). Für ZeitOnline hat Dirk Peitz mit Alexander Kluge über den verstorbenen Weggefährten gesprochen, mit dem er sich lange gesiezt hat und von dem er auch nach dem Tod im Präsens spricht: Enzensberger "ist jemand, der Leben um sich verbreitet. Und er ist ein Gründer, er hat das Kursbuch gegründet und die Andere Bibliothek. Und er ist auch niemand, der sich wichtig macht oder nur selber Autor ist. Er hat gedankliche und poetische Städte errichtet, da ist er sehr urban. Enzensberger ist eben ein Mensch genau unseres Jahrhunderts, gerade des 21., sogar noch mehr als des 20. Jahrhunderts. Und dennoch hat er Wurzeln im 18. Jahrhundert. Er ist ein heller Geist der Enzyklopädie."  In der FAS reicht Jürgen Kaube seinen Nachruf auf Enzensberger nach - für ihn "einer der ganze wenigen" Intellektuellen. Außerdem sammelt die FAZ weitere Stimmen aus dem Betrieb zum Tod Enzensbergers.

Weitere Artikel: Die FAZ hat Michael Kleebergs Aufschrei gegen zu niedrige Übersetzunshonorare (hier unser Resümee) online nachgereicht. Die taz dokumentiert die Laudatio von Frank-Walter Steinmeier auf die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar zur Auszeichnung mit dem Schillerpreis. In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow hier und dort weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Cornelia Geißler spricht für die FR mit dem irischen Schriftsteller John Boyne. Verena Harzer erinnert in der taz an die Dichterin Anna Louisa Karsch, die vor 300 Jahren geboren wurde. Corinne Orlowski berichtet im Literaturfeature für den Dlf Kultur vom Berliner Open Mike, bei dem unser Filmkritiker Patrick Holzapfel ausgezeichnet wurde.

Besprochen werden Elfriede Jelineks "Angabe der Person" (FAS), zwei neue Romane von Cormac McCarthy (Tsp), Rachel Kushners "Harte Leute" (FR), Norbert Gstreins "Vier Tage, drei Nächte" (Zeit), Ferdinand Schmatz' "Strand. Der Verse Lauf" (NZZ), Madame d'Oras "Tagebücher aus dem Exil" (Jungle World), Adám Bodors Endzeitroman "Die Vögel von Verhovina" (NZZ), Shirley Jacksons "Krawall und Kekse" (NZZ), Nick Drnasos Comic "Acting Class" (Tsp) und Nadia Buddes Übersetzung von Dr. Seuss' Kinderbuchklassiker "Schlummerbuch" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Heinrich Detering über Walt Whitmans "Als ich am abend hörte":

"Als ich am abend hörte wie ich im Capitol gerühmt worden war,
war die nacht doch nicht glücklich, die ..."
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Bühne

Der Großroman als Konversationsstück: Dostojewskis "Böse Geister" am Burgtheater. Foto: Matthias Horn

Eine Gesellschaft exaltierten Unglücks hat Jürgen Kaube in Johan Simons' Inszenierung von Dostojewskis "Bösen Geistern" am Wiener Burgtheater erlebt. Verzweifeltes Reden steigere sich zu verzweifelten Taten, stellt Kaube in der FAZ fest und fühlt sich dicht dran an der letzten Generation: "Sarah Viktoria Frick, die immer noch den rot bepunkteten Brautschleier trägt, gibt diese schwierige Rolle (der marja) hoppelnd und zappelnd, plappernd und spöttelnd, als Irrlicht, das den Abend unheimlich beleuchtet: 'Das Feuer ist in den Köpfen, nicht auf den Dächern.' Um diese schreckliche Komödie herum gruppiert sich die zündelnde Gruppe der Umstürzler, Gottsucher und Gottesleugner, eine letzte Generation, angeführt von Werchowenskijs hitzköpfigem und kaltherzigem Sohn Pjotr, den Jan Bülow böse, herablassend und intrigant spielt. Er hält fest, was es zu einer Revolution braucht: Uniformen und Ränge für ihre Betreiber, das Gefühl, an etwas Großem mitzuwirken, Gauner wie ihn, Chaos und Sündenböcke aus den eigenen Reihen." Standard-Kritikerin Margarete Affenzeller ist Simons' Settings zu museal, mit den Weltproblemen wälzenden Herren und den Damen als Heiratsobjekten: "Neues Theater hat Simons daraus nicht gemacht. Mit wenigen Ausnahmen bremsen die Vorgänge in ihrer Trägheit und Überraschungslosigkeit das Zuschauen aus. Dem luxuriösen Ensemble folgt man deshalb auch nur bedingt begeistert."

In der SZ berichtet Christine Dössel von der Verleihung der Faust-Theaterpreise im Düsseldorfer Schauspielhaus. In der Welt wehrt sich Choreograf John Neumeier gegen den Vorwurf, seine "Othello"-Inszenierung sei rassistisch, weswegen Kopenhagens Königliches Ballett sie aus dem Programm genommen hat (unser Resümee): "Man hat in Kopenhagen offenbar mein 'Othello'-Konzept nicht verstanden."

Besprochen werden Alban Bergs "Wozzeck" in Freiburg (bei dem NMZ-Kritiker Georg Rudiger "konzentrierten Schmerz" erlebte), Herbert Fritschs Inszenierung von Wagners "Fliegendem Holländer" (die Nachtkritiker Georg Kasch als "erfrischend witzigen Wagner-Spaß" mit viel Kulleraugen und Kussmündern zu goutieren weiß), Katie Mitchells Inszenierung von Tschechows "Kirschgarten" am Hamburger Schauspielhaus (Nachtkritik), Roy Assafs Choreografie "Please don't touch the art piece" in Mainz (FR) und erste Inszenierungen des Festivals "Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart" an den Münchner Kammerspielen (taz).
Archiv: Bühne

Film

Besprochen werden James Grays "Zeiten des Umbruchs" (Filmfilter, mehr dazu bereits hier), Guillermo del Toros Animationsfilm "Pinocchio" (Tsp, unsere Kritik), Rian Johnsons Krimi "Glass Onion" mit Daniel Craig (FAZ), Sebastián Lelios auf Netflix gezeigte Verfilmung von Emma Donoghues Bestseller "Das Wunder" (NZZ), eine Arte-Doku über Jamie Lee Curtis (FR), sowie die Serien "The English" (FAZ), "The English Game" (Zeit) und "A Friend of the Family" (taz).
Archiv: Film
Stichwörter: Netflix, Johnson, Rian

Musik

Florian Zinnecker erzählt in der Zeit die Geschichte des von von Emánuel Moór vor etwa hundert Jahren erfundenen, über zwei Klaviaturen verfügenden Duplex-Flügels, auf das zwar viele Komponisten und Musiker damals in höchsten Tönen schwärmten, das dann aber doch so sehr in Vergessenheit geraten ist, dass der Pianist David Stromberg für eine geplante Aufnahme monatelang nach einem überlieferten Instrument suchen musste (nur um es dann im Fundus der "Europa"-Hörspielregisseurin Heikedine Körting zu finden).  "Die zweite Klaviatur sollte nicht einfach nur helfen, Tonsprünge abzukürzen, die auf dem normalen Klavier große Virtuosität erfordern. Zusätzlich sollte der Pianist über ein Pedal die Töne koppeln können - sodass bei einem Tastendruck gleich zwei Töne erklingen: der angeschlagene Ton und noch einmal der gleiche, eine Oktave höher. Wer auf einem konventionellen Klavier fünf Tasten drückt, hört fünf Töne. Hier sind es zehn. Der Duplex-Flügel, so nannte ihn sein Erfinder, sollte das Klavier der Zukunft werden, ein ideales Instrument für die Werke Bachs."

Die Agenturen melden, dass "Flashdance"-Sängerin Irene Cara gestorben ist.



Besprochen werden ein von Robin Ticciati dirigiertes Mahler-Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters (Tsp), ein Auftritt von Avishai Cohen (NZZ), eine Darbietung von Georg Friedrich Haas' "Iguazú superior" bei Wien Modern (Standard), ein ukrainischer Konzertabend in Berlin (Tsp), das neue Album "Blue Rev" von Alvvays (FAZ) und Jean-Michel Jarres neues Album "Oxymore" ("eine Zeitreise, die ins Metaverse führt", findet Ronal Pohl).

Archiv: Musik