Efeu - Die Kulturrundschau

Der Geist von Tegel

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02.12.2022. Die Berliner Zeitung bewundert ungarische Kunst aus dem Untergrund der Nachkriegszeit. Das British Filminstitute versucht den Filmkanon umzuschreiben: Als bester Film aller Zeiten gilt ihm jetzt Chantal Akermans "Jeanne Dielman 23, quasi du Commerce, 1080 Bruxelles". Die SZ staunt bei der Pressekonferenz zum Nachlass von Rilke über die originellen Gründe des Literaturarchivs in Marbach, warum der Kaufpreis nicht genannt wird. Die Musikkritiker trauern um Christine McVie von Fleetwood Mac, die Architekturkritiker um Meinhard von Gerkan.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.12.2022 finden Sie hier

Architektur

Gerkans Flughafen Tegel, verewigt auf einer Sonderbriefmarke


Der Architekt Meinhard von Gerkan ist gestorben. Bekannt ist er vor allem als Erbauer des wunderbaren Flughafen Tegel, der 1974 eröffnet wurde, und des Berliner Hauptbahnhofs. Der BER, den sein Büro ebenfalls baute, kann da nicht heranreichen. "Vor allem die früheren Gebäude überzeugten mit ihren transparenten, durchdachten und schnörkellosen Konstruktionen. Mit Benutzerfreundlichkeit und Wartungsarmut", schreiben in der SZ Jörg Häntzschel und Peter Richter. "In einer Zeit, als Kollegen wie Frank Gehry oder Rem Koolhaas das Berufsbild des Architekten in alle möglichen Richtungen erweiterten, zum Künstler, Bildhauer bis hin zum Kulturkritiker, bewährten sich Gerkan und Marg als Stararchitekten ohne Starallüren, als verlässliche Profis, die bauen wollten, nicht 'anders' bauen, und vor allem nicht die Welt verändern. In ihren Augen schränkten formale und konzeptuelle Experimente nur die Funktionalität sein, also verzichteten sie darauf lieber."

"Bemerkenswert" ist auch Gerkans Planstadt Nanhui New City bei Schanghai", erinnert Niklas Maak in der FAZ: "Sie entfaltet sich in Ringen um einen im Durchmesser drei Kilometer großen See, dessen Strände von Gerkan als 'endlose Copacabana' bezeichnete. Die bereits auf 800 000 Einwohner angewachsene Stadt gilt mit ihren vielen Grünflächen und kurzen Wegen als Vorbild für die sich rasant verdichtenden Ballungsräume Asiens; man kommt schnell zu allen öffentlichen Einrichtungen, Schulen und Freizeitorten, der Geist von Tegel wurde hier zu einer ganzen Stadt. Die 'endlose Copacabana' ist auch ein Bild für den menschenfreundlichen Charakter und den sozialen Anspruch der Architektur von Gerkans: Wie in Rio de Janeiro soll sich am Strand die Bevölkerung jenseits aller Einkommensunterschiede und Herkünfte heiter mischen." Weitere Nachrufe in der FR und der Welt. Dlf Kultur hat zum Tod Gerkans ein Dossier erstellt - darin auch Hinweise zu zwei historischen Radiogesprächen.
Archiv: Architektur

Musik

Die Feuilletons trauern um Christine McVie, Keyboarderin und eine der Sängerinnen von Fleetwood Mac. Edo Reents würdigt in der FAZ ihre "profunde Musikalität", die ihr auch dabei half, einige der größten Hits aus der klassischen Phase der Band zu schreiben. "Auch ihre Beiträge in der wechselvollen Umbruchsphase nach Peter Greens Weggang mit häufig wechselnden Gitarristen bildeten mit dem dezenten Bluesfeeling und einem handfesten Rock-Shuffle eine Konstante, die in den absoluten Superstar-Zeiten ein wenig verblasste." Ihre Songs "intonierte sie mit einem wie teilnahmslos, bisweilen geradezu aseptisch wirkenden, aber leichtfüßig daherkommenden Alt. Neben der auf den Part der versponnenen Fee abonnierten, musikalisch manchmal etwas knochenlos wirkenden Stevie Nicks war Christine McVie schon als gelernte Bluesrockerin ein Stabilitätsfaktor."

Von Stabilität weit entfernt gewesen sein dürften die Umstände der von Beziehungschaos innerhalb der Band überschattete Produktion von Fleetwood Macs Klassiker-Album "Rumours", an die Willi Winkler in der SZ erinnert: "Der Titel war Programm. ... Stevie Nicks und Lindsey Buckingham hatten sich getrennt, Christine McVie hatte ihren Mann verabschiedet, während sie noch unterwegs waren, und eine Affäre mit dem Beleuchter angefangen. Damit es der Ex auch kapierte, dass es vorbei war, schrieb sie über den Neuen den Song 'You Make Loving Fun'. So entstanden unter größtem emotionalen Druck und nicht ohne Mitwirkung des berüchtigten bolivianischen Marschierpulvers Bruchstücke einer großen Konfession." Weitere Nachrufe schreiben Harry Nutt (FR), Christian Schröder (Tsp) und Julian Weber (taz). Und "Rumours" ist tatsächlich ein Album, zu dem sich an einem sonnigen Wochenende auf der Yacht ganz wunderbar die Nase pudern lässt.



Außerdem: In der taz gratuliert der Schriftsteller Georg Oswald dem (auch von diesem Musik-Perlentaucher geschätzten) Münchner Platten- und Buchladen Optimal zum vierzigjährigen Bestehen: Dieser Laden "ist ein Monument unabhängiger künstlerischer Ideen, musikalisch, literarisch und politisch". Besprochen werden ein Gesprächsband mit Nick Cave (NZZ), Haftbefehls neues Album "Mainpark Baby" (ZeitOnline, SZ), ein Auftritt von Burna Boy (NZZ) und DJ Pipers Rapalbum "A Dream in a Dream" (taz).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Lorenz Jäger über "Weights & Measures" von Dry the River:

Archiv: Musik

Literatur

Gestern präsentierte das Deutsche Literaturarchiv in Marbach offiziell den großen Rilke-Nachlass, den das Haus kürzlich erwerben konnte (mehr dazu hier). "Dass er ein Reisender war, der häufig die Wohnorte wechselte, prägt die Marbacher Neuerwerbung ebenso wie der Umstand, dass er ein Wanderer und Fädenknüpfer zwischen den Künsten, zumal der Literatur und der bildenden Kunst war", nimmt Lothar Müller (SZ) von der Pressekonferenz mit nach Hause. Und: "Zum Kaufvertrag, der mit den Urenkelinnen Rilkes geschlossen wurde und den der Berliner Anwalt Peter Raue ausgehandelt hat, gehört ein Paragraf, der Marbach zum Stillschweigen über den Kaufpreis verpflichtet. Wie viele Millionen er umfasst, mochte die Archivdirektorin Sandra Richter denn auch nicht verraten. Der Leiter der Archivabteilung, Ulrich von Bülow, assistierte ihr mit dem Argument, dass Archive durch die Nennung von Zahlen die Preise bei künftigen Erwerben hochtreiben, durch ihr Schweigen also Steuern sparen helfen."

Einen "kulturföderalen Triumph" sieht FAZler Andreas Kilb in dem Zusammenspiel vieler Institutionen und Behörden, das den Erwerb ermöglicht hatte. Überhaupt war die Präsentation "ein historischer Tag für die deutsche Literatur", gehoben wurde hier "ein Schatz, dessen Wert sich mit Geld nicht beziffern lässt. Etwa das Notizbuch von 1909, in dem Rilke Eindrücke einer Spanienreise festhält - überall sieht er El Grecos Bilder, in Madrid die 'Auferstehung' und die 'Ausgießung des heiligen Geistes', in Toledo das 'Begräbnis des Grafen Orgaz'. ... So geht es weiter: ein Brief Rilkes an Hugo von Hofmannsthal, in dem er ihm die Zusendung von Gedichten ankündigt; das Manuskript der Erstfassung der 'Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge', eine Essenseinladung des Kollegen Paul Valéry mit der virtuosen Tuschezeichnung einer Schlange, eine mit Korrekturen versehene Fassung des fünften Orpheus-Sonetts. In drei Jahren, zum hundertfünfzigsten Geburtstag des Dichters, will das Marbacher Literaturarchiv seine Rilke-Bestände in einer großen Ausstellung ausbreiten, die ein ganzes Jahr lang, bis zum hundertsten Todestag, zu sehen sein soll."

Der PEN Berlin lädt heute zu seinem ersten Kongress nach Gründung ein. Die Schriftstellerin und PEN-Berlin-Sprecherin Eva Menasse gibt im Welt-Gespräch nochmal Entwarnung, dass mit dieser Abspaltung vom bisherigen PEN-Deutschland eine Art Sektiererei im Klein-Klein vorgenommen werde: Hierzulande sei "unbekannt, dass es in vielen Ländern mehrere PENs gibt und ebenso, dass unsere Gründung für PEN International gar nicht der große Skandal war, als der sie hier in den Medien teilweise dargestellt worden ist." Was die politische Ausrichtung des Verbands betrifft, in dem Autorinnen und Autoren sehr unterschiedlicher Couleur gemeinsame Sache machen, "herrscht ein Grundprinzip von Kompromissfähigkeit. Wir haben zum Beispiel lieber keine Presseaussendung gemacht, wenn wir uns nicht einigen konnten, etwa in Sachen Documenta. Dafür haben dann einige Board-Mitglieder auf eigene Rechnung kommentiert, in ihrem Namen, nicht in dem des PEN. Auch das stellt Vielfalt dar." In der taz spricht Mitbegründerin Ursula Krechel über die Pläne, Hoffnungen und Erwarten, die mit diesem ersten Kongress verbunden sind.

Außerdem: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Die FAZ dokumentiert Daniel Kehlmanns Schillerrede. In seinem Intellectures-Blog unternimmt Thomas Hummitzsch einen Streifzug durch die spanische Gegenwartsliteratur. Stefan Pannor weiß im Tagesspiegel nicht recht, ob er sich darüber freuen soll, dass Comicmeister Frank Miller Hugo Pratts Comicklassiker "Corto Maltese" als Serie verfilmt: Diese Kombination wird "entweder ein kreatives Feuer entzünden oder es wird ein gewaltiger Schlamassel werden". Der Standard spricht mit der Wiener Poetry-Slammerin Mieze Medusa.

Besprochen werden unter anderem die von Vahidin Preljevic und Clemens Ruthner herausgegebene Aufsatzsammlung "Peter Handkes Jugoslawienkomplex" (Standard), Nicolas Mathieus "Connemara" (FR), Gu Byeong-mos Krimi "Frau mit Messer" (Dlf Kultur), Johannes Groschupfs Krimi "Die Stunde der Hyänen" (TA), Olga Ravns "Die Angestellten" (SZ) und Samantha Harveys "Das Jahr ohne Schlaf" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Géza Perneczky: Drei Figuren mit Maske, 1964 | Mit freundlicher Genehmigung des Petőfi Literaturmuseums


In der Berlinischen Galerie kann man zur Zeit eine Ausstellung ungarischer Künstler im Berlin der Weimarer Zeit sehen. Das Collegium Hungaricum knüpft gewissermaßen daran an und zeigt eine Schau mit inoffiziellen ungarischen Bildkünstlern der Nachkriegszeit, die Irmgard Berner in der Berliner Zeitung empfiehlt. "Viele von ihnen agierten im Untergrund und waren mit Deutschland verbunden. ... Sie standen damit in scharfem Gegensatz zu Kunstauffassungen des sozialistischen Realismus. So wandte sich der Maler Imre Bak, 83, Mitinitiator der Iparterv-Bewegung früh ab von den tristen Braun-/Grautönen des Realismus und hin zur Farbfeldmalerei, wobei ihm eine Stuttgart-Reise, die er 1965 zusammen mit dem Malerfreund István Nádler unternahm, zum Schlüsselerlebnis wurde. In der Galerie Müller trafen sie neben Thomas Lenk und Günther Uecker auch auf Werke der Amerikaner Frank Stella und Ellsworth Kelly. Die Werke symbolisieren einen Wendepunkt in der modernen Kunstgeschichte Ungarns: Der Autodidakt István Harasztÿ brachte die kinetische Kunst ins Land. Endre Tót wiederum experimentierte mit informeller Malerei und László Méhes stellte auf der Ipartev-Ausstellung das erste ungarische fotorealistische Gemälde aus."

Die indonesische Künstlergruppe Ruangrupa wurde von der englischen Zeitschrift Art Review auf Platz 1 der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten der internationalen Kunstwelt gewählt (auf der Liste von Monopol schafften sie es nur auf Platz 2). "Glückwunsch, Deutschland!", ruft in der Welt Ulf Poschardt. Die Antisemiten haben es mit deutscher Hilfe wieder ganz nach oben geschafft. "In der Kunstwelt steht jetzt Ruangrupa ganz oben. Ein Kollektiv, das den zeitgenössischen, mit einem antikolonialen Anstrich daherkommenden Antisemitismus mit aller Härte aus der Salonfähigkeit in den Status des Musealen erhoben hat. Seit 1945 hat es einen solchen antisemitischen Dreck nicht mehr mit Steuergeld finanziert ausgestellt gegeben. Nun, 2022, hat es ausgerechnet das Land der Täter und seiner Nachfahren geschafft, diesen Antisemitismus global zu einer großen Nummer zu machen. Roth, Görgen, der Oberbürgermeister und das ganze opportunistische Kunst-Establishment und das pseudoliberale Maulheldentum können stolz auf sich sein. Sie haben ganze Arbeit geleistet." In der FAZ wundert sich Andreas Platthaus nicht über die Erhebung Ruangrupas: "Dumm und frech, das passt zusammen", meint er.

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Sunset. Ein Hoch auf die sinkende Sonne" in der Kunsthalle Bremen (taz) und die Beckmann-Ausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne (FAZ).
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Bühne

Saba-Nur Cheema und Meron Mendel protestieren in der FAZ gegen die Absetzung des Theaterstücks "Vögel" im Münchner Metropoltheater nach Antisemitismusvorwürfen: Es sei zwar einseitig, aber nicht antisemitisch, finden die beiden. Die Mezzosopranistin Claudia Mahnke, die ab Sonntag an der Oper Frankfurt als giftmörderische Fürstin in der Tschaikowski-Oper "Die Zauberin" zu hören ist, spricht im Interview mit der FR über ihren Beruf. Die Ballettschule Theater Basel beendet nach Missbrauchsvorwürfen ihre Profiausbildung, berichtet in der NZZ Lilo Weber. Die Salzburger Festspiele zeigen 2023 den "Jedermann" mit Michael Maertens und Valerie Pachner in den Hauptrollen, meldet die FAZ.

Besprochen wird die Uraufführung von Angelika Messners "Iphigenie" im Theater an der Gumpendorfer Straße in Wien (Standard).
Archiv: Bühne

Film

Das cinephil-boulevardeske Dekaden-Großereignis ist da: Das British Film Institute hat seine traditionell alle zehn Jahre durchgeführte Kritikerumfrage nach den besten Filmen aller Zeiten ausgewertet (auch einige Perlentaucher-Filmkritiker haben daran teilgenommen). Das Ergebnis ist durchaus bemerkenswert: Chantal Akermans "Jeanne Dielman 23, quasi du Commerce, 1080 Bruxelles" gilt jetzt quasi aus dem Nichts (jahrzehntelang war "Citizen Kane" der unangefochtene Spitzenreiter, vor zehn Jahren gestürzt von "Vertigo") mit Kritikersegen als bester Film überhaupt - zumindest für die nächsten zehn Jahre. Ein Videoessay von IndieWire klärt uns darüber auf, was es mit diesem dreieinhalbstündigen Film auf sich hat:



Weitere Artikel: In der Welt schreibt Daniel Kothenschulte über den tragischen Fall des Filmhistorikers und -archivars Serge Bromberg, dem in Frankreich vier Jahre Haft drohen, weil bei einem durch unachtsam eingelagertes Nitrofilm-Material entstandenem Brand zwei Menschen gestorben sind (mehr dazu hier). Außerdem erklärt Kothenschulte  in der FR, wie es dazu kam, dass John Houstons Klassiker "African Queen" überhaupt erst jetzt zum ersten Mal ungekürzt in die deutschen Kinos kommt. Isabella Caldart staunt auf 54books, wie sich die die lange Zeit brachliegende RomCom in diesem Jahr grunderneuert hat. Jan Feddersen schreibt in der taz zum Tod der Schauspielerin Christiane Hörbiger. Und ohne darf sich ein Jahr nicht neigen: John Waters kürt im Artforum seine zehn Filme des Jahres - dass Ozons "Peter von Kant" seine Liste anführt, dürfte unseren Kritiker Robert Wagner nicht begeistern.

Besprochen werden Thomas Stubers "Die stillen Trabanten" nach Kurzgeschichten von Clemens Meyer (Tsp, SZ), Phyllis Nagys Abtreibungsdrama "Call Jane" (FAZ, SZ, taz, mehr dazu hier) und Jeanine Meerapfels Dokumentarfilm "Eine Frau" über ihre eigene Familiengeschichte (SZ).
Archiv: Film