Efeu - Die Kulturrundschau

Auf dem blauen Kanal

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.12.2022. In Berlin tagte zum ersten Mal der PEN Berlin. Schön divers ist er, freut sich die FAZ, jünger, weiblicher, migrantischer. Die politischen Konflikte waren allerdings schon ganz schön handfest, berichtet die SZ, und ZeitOnline stellt fest, dass der neue PEN nicht mehr links, sondern liberalkonservativ ist. Die Nachtkritik schluckt schwer bei Kirill Serebrennikows Schreckensinszenierung "Der Wij" in Hamburg. ZeitOnline lauscht den Tuareg-Jams, die im mauretanischen Flüchtlingscamp M'berra entstehen.  
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.12.2022 finden Sie hier

Literatur

Der frisch gegründete PEN Berlin hat am Freitag erstmals getagt. Dieser ist im Vergleich zum deutschen PEN-Club, von dem er sich abgespalten hat, "jünger, weiblicher, migrantischer geworden", bestätigt Katharina Teutsch in der FAZ der Sprecherin Eva Menasse: Die versammelte Menge aus Journalismus und Literatur "hatte ihren ganz eigenen Lametta-Effekt." So diskutierte "mit attraktiver Selbstverständlichkeit der Israeli Tomer Gardi in seinem inzwischen preisgekrönten Broken German auf einem Podium über 'Gewalt, Erinnerung, Literatur' mit den Autorinnen Khuê Pham, Meral Şimşek und Ursula Krechel. Khuê Pham, Jahrgang 1982, stammt aus einer Familie, die durch den Vietnamkrieg so schwer traumatisiert wurde, dass sie über das Erlebte kaum sprechen konnte, erst der in Deutschland geborenen Tochter sollte dies gelingen: 'Wasserverdrängen, das führt zu Wellen.' Die Kurdin Meral Şimşek hat sich gerade mithilfe des PEN Berlin ihrer Verfolgung in der Türkei durch Flucht nach Deutschland entzogen. Und die 1947 geborene Ursula Krechel wiederum beschäftigt sich in ihrem vielfach ausgezeichneten Werk immer wieder mit dem unheimlichen Nachleben des Faschismus in der Nachkriegszeit."

Alles eine Wolke also? Nicht ganz: Bei der Mitgliederversammlung am darauffolgenden Samstag gab es als Nachklapp zur Gastrede von Ayad Akhtar vom PEN America, der darin vor allem das geistige Klima in den USA unter den Eindrucken von Wokeness kritisierte, auch handfeste Auseinandersetzungen, berichtet Sonja Zekri in der SZ: So habe Sprecher Deniz Yücel "die Idee eines Arbeitskreises 'Diversity' mit den Worten abmoderiert, er sei immer für Diversity, allerdings gebrauchten manche das Wort Diversität, wo sie in Wahrheit 'Ich' meinten. Das überzeugt nicht alle, immer wieder war die Rede von 'Brandherd', von 'gefährlichen Tendenzen', von drei Mitgliedern, die bereits ausgetreten seien und weiteren, die darüber nachdächten." Die - allerdings schon vor einigen Wochen im Zuge der Debatte um Kim de l'Horizon - ausgetretenen Mitglieder sind Alena Schröder, Stephan Lohse und Lann Hornscheidt.

Für Johannes Schneider von ZeitOnline bestand der Kongress in der ersten Hälfte vor allem aus "großer Harmlosigkeit" und vielen "schönen Sätzen". Sehr geärgert hat er sich allerdings über die Auftritte von Jan Fleischhauer, der den wirkungslos verpufften Protest einiger Autoren gegen die deutsche Veröffentlichung von Woody Allens Autobiografie in den Kontext des "Dritten Reiches" rückte, und dem bereits erwähnten Ayad Akhtar. Damit habe sich der PEN Berlin "als eher liberalkonservativ dominierte Institution präsentiert".

Weitere Artikel: Der ukrainische Schriftsteller Artem Tschech spricht bei einer Zürcher Buchpräsentation mit der NZZ über die Drangsal des Krieges in seinem Land. Sergei Gerasimow schreibt hier und dort in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Benno Stieber berichtet in der taz von der Präsentation des neu angeschafften Rilke-Nachlasses durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach. Die Schriftstellerin Eva Demski spricht in der SZ über ihre Sympathien für den Anarchismus, über den sie gerade ein Buch verfasst hat. Außerdem melden die Agenturen, dass der Schriftsteller Dominique Lapierre gestorben ist.

Besprochen werden unter anderem Marie Luise Knotts "370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive" (54books), Mohamed Mbougar Sarrs mit dem Prix Goncourt ausgezeichneter Roman "Die geheimste Erinnerung der Menschen" (Tsp, unsere Kritik), Shelly Kupferbergs "Isidor" (NZZ), Jonathan Lees "Der große Fehler" (FR) und Anna-Lisa Dieters Essay "Susan Sontag" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Marleen Stoessel über Marcel Prousts "Dordrecht (2)":

"Der Bäcker am Dorfplatz,
wo sich nur eine einzelne Taube rührt,
spiegelt auf dem blauen Kanal ..."
Archiv: Literatur

Bühne

Die Augfen weit geöffnet: Gogols "Wij" am Thalia Theater. Foto: Fabian Hammerl

Am Hamburger Thalia Theater hat Kirill Serebrennikow Nikolai Gogols Schauergeschichte "Der Wij" inszeniert. Der Wij ist in der slawischen Mythologie ein Dämon, der Vernunft und Moral bekämpft und dessen Blick tötet, wenn seine Augen geöffnet werden. In Serebrennikows Version kommen ukrainische Soldaten hinzu, die einen russischen Soldaten gefangen haben und ihn für sein Morden und Vergewaltigen zahlen lassen wollen, erklärt Till Briegleb in der SZ: "Während zwei Brüder sadistische Tötungsfantasien entwickeln, versucht der dritte davor zu warnen, so grausam zu werden wie ihre Feinde. Dann erscheint der Großvater (Falk Rockstroh) auf der Szenerie und befiehlt eine Form der humanistischen Folter. Der Soldat (Filipp Avdeev) soll sich in einen Menschen zurückverwandeln und dem toten Mädchen 'Romeo und Julia' vorlesen, ein Stück über zwei verfeindete Clans und die Liebe. Allein gelassen mit der Toten erlebt der stumme Soldat den Horror des Fantastischen.auf dem blauen Kanal"

In der Nachtkritik erlebt Falf Richter den "Wij" als absoluten Schrecken, und zwar in aller Drastik: "Unerträglich ist es, was man hier miterleben muss, das Schlagen und das Stöhnen, das Blut, den Schweiß und die Scheiße. Dazu kommt der ultrarealistische Raum, den Serebrennikov gebaut hat, ein dunkler Schlund aus Asche und Dreck. Ein Alptraum. Und als Theatermittel nicht unproblematisch. Darf man das eigentlich: Folter und Entmenschlichung so eins zu eins ungebrochen darstellen?" Emotional verständlich, aber irrig findet FAZ-Kritikerin Kerstin Holm daher die Demonstrationen aufgewühlter Ukrainer gegen das Stück: "Die Schlussszene gehört dem schuldigen Russen, den der phänomenale Filipp Awdejew als Kabinettstück einer zerstörten Persönlichkeit gibt, das doch an keiner Stelle Mitleid erzeugt."

Besprochen werden außerdem René Polleschs neues Stück "Und jetzt?" an der Berliner Volksbühne (das an den Versuch Benno Bessons erinnert, im Petrochemischen Kombinat Schwedt Arbeitertheater zu machen, aber taz-Kritikerin Katrin Bettina Müller mit seinen selbstreferenziellen Spiralen dann sehr enttäuschte), Marius von Mayenburgs Komödie "Nachtland" über ein Nazi-Bild und die Diskursfallen in den gebildeten Ständen (Tsp), Kornél Mundruczós Inszenierung des "Lohengrin" an der Bayerischen Staatsoper (die Marco Frei in der NZZ als Befreiungsschlag für die Staatsoper wertet, SZ), Reinhard Keisers "Ulysses"-Fragment beim Schwetzinger Winter (FR), Barrie Koskys Inszenierung von Puccinis "Turandot" an der Amsterdamer Nationale Opera und Umberto Giordanos Revolutionsoper "Andrea Chénier" in der Wiener Staatsoper (Standard).
Archiv: Bühne

Film

So authentisch wie möglich: "She Said" von Maria Schrader

Im Standard unterhält sich Bert Rebhandl mit Maria Schrader über die Dreharbeiten ihres Films "She Said", der als Journalismusthriller die Aufdeckung von Harvey Weinsteins Übergriffen erzählt. Gedreht wurde in den Räumlichkeiten der New York Times, die dafür erstmals einen großen Dreh in ihrem Haus gestattete. "Das war auch nur möglich, weil die Reporter im Homeoffice waren. ... Wenn man in das vollkommen leergefegte Gebäude der Redaktion kommt, das hatte damals ja einen Eindruck wie Pompeji. Da lagen zum Teil private Laptops, auf jedem Schreibtisch die physischen Zeitungen vom 13. März 2020. Alles, was essbar war, war von irgendwelchen Brigaden einmal weggeräumt worden, der Rest war immer noch da."

Außerdem: In seiner Serienkolumne für die Zeit blickt Matthias Kalle auf 34 Staffeln "Simpsons". Besprochen wird Aino Sunis Spielfilmdebüt "Heartbeast" (taz).
Archiv: Film

Kunst

Gerd Höhler meldet in der FR, dass London und Athen geheime Verhandlungen um eine eventuelle Rückgabe des Parthenon-Fries führen. Besprochen werden eine Ausstellung zur Art Brut im Kölnischen Kunstverein (taz), eine Überblicksschau mit junger Kunst aus Berlin in den KunstWerken (Tsp) sowie die bereits vielfach gefeierte Ausstellung zu ungarischer Kunst "Magyar Modern" in der Berlinischen Galerie (FAZ).
Archiv: Kunst

Musik

Florian Sievers berichtet für ZeitOnline von der Musik, die sich im Flüchtlingscamp M'berra in Mauretanien entwickelt hat, in dessen Einöde Zehntausende Menschen in flirrender Hitze verbringen. Aus Tuareg-Jams entstand das M'berra Ensemble, unter deren Aufnahmen der italienische Produzent Khalab Sounds aus dem Camp gelegt hat. "Dazu kommen umsichtig eingesetzte elektronische Beats und Effekte. Das Ergebnis sind Aufnahmen, so karg und geräumig wie die Wüste rings um das Camp, mit trockenen, psychedelischen Gitarrenriffs, stoischen Basslines, auch mal unbegleitetem Gesang samt frenetischem Händeklatschen und knirschenden, sandigen Synthesizerflächen. ... Khalab selbst erinnert sich an den Kommentar eines jüngeren Tuareg-Musikers, der ihm gesagt habe, diese Musik sei sehr nah an den ursprünglichen Traditionen. Und das auch wegen ihrer Form einer dynamischen Collage, in der Rhythmen auftauchen und wieder verschwinden wie vom Wind geblasene Wellenmuster im Sand; in der Musikerinnen und Musiker wie bei einer kollektiven Meditation am Lagerfeuer minutenlang dasselbe Riff spielen, ohne Harmoniewechsel, ohne Unterbrechungen."



Nina Hagen hat nach langer Pause mal wieder ein Album veröffentlicht. Aufs Neue zieht es sie in höhere und entlegene, auf jeden Fall aber ziemlich bunte Sphären, schreibt Christian Schachinger im Standard. "Hagens Heimatplanet Nimmerland wird traditionell von lustiger Freizeitchemie befeuert und seit Jahrzehnten vermehrt von Superheld Jesus, süßen felligen Quietschtieren, einer Reggaeband vom Ende der Milchstraße und anderen, mindestens fünfdimensionalen Wesen aus den alten Hipsterbuden von Star Wars bewohnt. Nimmerland findet man tief im limbischen System im menschlichen Gehirn: Die wahren Abenteuer sind im Kopf. Nina ist also nicht ganz aus der Welt." Sie "heult, zetert, zwitschert, macht schnurrend auf kuschelig, auf Alien mit Migräne oder große Oper. Funk im Tank, Peitsche in der Hand, Dub und Reggae, bisschen Lärm als Reminiszenz an alte 'Punk'-Zeiten. ... Natürlich wird in jeder einzelnen Sekunde mit großem Besteck hantiert."



Besprochen werden die Uraufführung von Peter Ruzickas und George Enescus neuem Bratschenkonzert durch Nils Mönkemeyer (NZZ), ein von Tugan Sokhiev dirigiertes Konzert der Berliner Philharmoniker (Tsp), ein Berliner Schubert-Abend mit Christian Gerhaher (Tsp) sowie neue Alben von Al-Qasar und der Künstlerin Catherine Graindorge mit Iggy Pop (taz).
Archiv: Musik