Efeu - Die Kulturrundschau

Beim urbanen Stromern ins Driften geraten

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10.12.2022. Rieke Süßkow schiebt Peter Handke in Wien ins Pflegeheim ab und die Feuilletons amüsieren sich über so viel Respektlosigkeit. Nur die FAZ schluchzt: Skandal! Wo bleibt da die Ehrfurcht? Außerdem sucht die FAZ nach den Gemeinsamkeiten französischer Literatur-NobelpreisträgerInnen. FR, Welt und FAZ verbrennen sich in Frankfurt an der beißenden Ironie von Rosemarie Trockel. "Europa bleibt zersplittert", erkennt der Tagesspiegel auch bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises. Und die taz stolpert auf den Algenteppichen von rRoxymore.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.12.2022 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Zwiegespräch". Foto: Susanne Hassler-Smith

Erst im Frühjahr bei Suhrkamp erschienen, feierte Peter Handkes "Zwiegespräch" schon Premiere in der Inszenierung von Rieke Süßkow am Wiener Akademietheater. Wenn Süßkow ein Senioren-Trio in Sepia-Farben im Pflegeheim "Reise nach Jerusalem" spielen lässt, während das "La Paloma" singende Pflegepersonal schon die "Beerdigungsroutine" abspult, ist Margarete Affenzeller im Standard erstaunt, wie die Regisseurin aus Handkes "schmaler Gedankenflatterei" ein ganzes Stück macht: "Die Inszenierung übersetzt die Härte am Lebensende und die in Handkes Text widersprüchlich abgehandelte Wehmut in eindrückliche Bilder." "Süßkow macht aus dem intimen Zwie- beziehungsweise Selbstgespräch eine polyphone Komposition, die nicht zuletzt auf die musikalische Qualität des Textes abstellt", meint Nachtkritikerin Andrea Heinz. "Doch spätestens ab der Hälfte verpuffen mögliche Assoziationen, wird zunehmend offenbar, dass der Text sie nicht hergibt, zu sehr der Autorenpersona Handke verhaftet ist, als dass man ihn von ihr ablösen könnte."

"Handkes empfindsame Reflexionen kurzerhand in die Geriatrie zu verlegen, ist natürlich frech und streckenweise auch bitterböse", amüsiert sich Christine Dössel in der SZ: "Sie bekommen dadurch etwas Schnurrenhaftes, Anekdotisches, als seien es letzte rhetorische Zuckungen aus der Abteilung 'Großvater erzählt vom Krieg', und alle verdrehen die Augen, weil sie die Geschichten schon tausend Mal gehört haben. Das klingt nach Respektlosigkeit und Banalisierung, aber Handkes 'Zwiegespräch' hält das aus, und auch wenn in dieser sarkastischen szenischen Aneignung hinten raus nicht alles aufgeht, muss man doch sagen, dass es erfrischend ist, wenn da mal jemand Junges ganz unehrfürchtig rangeht." "Skandal!", ruft indes ein empörter Simon Strauss in der FAZ: "Dumpf vorgeführtes Alter. Abfällig parodierte Jugend. Der hoffentlich bald aus seinem Amt scheidende Burgtheater-Intendant Martin Kušej hat das Stück aus leicht durchschaubaren PR-Gründen einer 1990 geborenen Jungregisseurin gegeben, die die in sie projizierten Erwartungen pflichtschuldig erfüllt: nämlich so gar nicht ehrfürchtig zu sein. Sondern: desinteressiert am Text, desinteressiert an seiner Stimmung."

Am Münchner Metropol Theater wurde Wajdi Mouawads Stück "Die Vögel" nach den Antisemitismus-Vorwürfen jüdischer Studentenverbände abgesetzt (Unsere Resümees) - für Stefan Bachmann, Intendant des Schauspiels Köln völlig unverständlich, er zeigt seine Inszenierung als Stream. "Warum sehen Verlage oder Theatermacher wie Stefan Bachmann nicht, dass ein Stück wie Mouawads 'Vögel' sich simpelster antijüdischer und antiisraelischer Stereotype bedienen?", fragt Andreas Fanizadeh in der taz: "Mouawad leugnet den Holocaust nicht. Aber er lässt seine klischeehaft gestalteten Theaterjuden selbst behaupten, dass das, was Juden einst im Holocaust erlitten, sie nun den arabischen Palästinensern zufügten. Für panarabische und panislamische Reaktionäre ist das ethnisch plurale Israel der demokratische Stachel im Nahen Osten."

Außerdem: Laut Standard entscheidet sich die Wahl zum nächsten Burgtheater-Intendanten zwischen Martin Kušej, der Schauspielerin Maria Happel und einer weiteren Frau. Für die SZ hat Egbert Tholl schon einen Blick ins Programm der kommenden Salzburger Festspiele geworfen: "Das Konzertprogramm ist überbordend wie gewohnt, inklusive einem Schwerpunkt mit Werken György Ligetis. Zwei Liederabende seien hervorgehoben: Evgeny Kissin begleitet Renée Fleming, Asmik Grigorian singt Lieder aus dem russischen Repertoire."

Besprochen werden Toula Limnaios Choreografie "Staubkinder" zu Musik von Gustav Mahler im Berliner "Fuchsbau" (Tagesspiegel), Paolo Genoveses "Das perfekte Geheimnis" im Frankfurter Rémond-Theater (FR) und Alejandro Tantanians und Oria Puppos Projekt "L7L - Die sieben Irren" nach dem Roman von Roberto Arlt an den Münchner Kammerspielen (nachtkritik).
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Literatur

Heute erhält Annie Ernaux den Literaturnobelpreis. Mit ihr sowie Jean-Marie Gustave Le Clézio und Patrick Modiano kann Frankreich damit drei noch lebende Literaturnobelpreisträger vorweisen, schreibt Niklas Bender in der FAZ. Und alle drei entspringen in etwa derselben Generation. Gibt es weitere Gemeinsamkeiten? Auf den ersten Blick zwar nicht, doch beim genaueren Hinsehen schon: "Ihr Grundthema ist die Identität, und zwar als problematisches Terrain, stets in Mischung und Auflösung begriffen, von Kontrollverlust bedroht - Wahnsinn dräut bei allen dreien im Hintergrund. Le Clézio schafft fragile Existenzen, die sich geographisch, sozial und sprachlich mischen und suchen. Modiano entwirft Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenenalter, die beim urbanen Stromern ins Driften geraten und kaum Spuren hinterlassen. Ernaux' Figuren fremdeln mit ihrer geschlechtlichen oder ihrer gesellschaftlichen Stellung und werden im Fragment erfasst. ... Sie alle gestalten das Persönliche dieser Identitätssuche, legen es im Werk selbst progressiv offen, als wären Autofiktion oder Autobiografie der Horizont ihres literarischen Schaffens und eine äußerst prekäre Erinnerungsarbeit dessen natürliches Vorgehen." Und es zeigt sich, dass alle drei "der Sprache nicht allzu viel abverlangen, weder in Syntax noch in Bildlichkeit; es gäbe anspruchsvollere Autoren, von Pierre Michon über Marie NDiaye bis Mathias Énard." Leonie Gubela porträtiert für die taz Sonja Finck, die Annie Ernaux' Bücher ins Deutsche überträgt.

Die neue, von Sophie Passmann moderierte Büchersendung "Studio Orange" im RBB will bereits sanfte Anflüge von Intellektualität von vornherein ausschließen, dafür aber "lustig sein und entspannt", schreibt eine ziemlich angeödete Carolina Schwarz in der taz. "Und so, wie das hier klingt, ist es dann leider auch: ziemlich gewollt. ... Passmann macht Witze, über die niemand im Publikum lacht. Der Vorschlag, den Plot des ersten Buches ('2666' von Roberto Bolaño) mit Lego-Figuren nachzustellen, geht voll in die Hose." Atemberaubend trist in seiner Unbeholfenheit ist im übrigen auch der hier festgehaltene Versuch, sich über Bolaño hinwegzuwitzeln, indem man einfach über Harry Potter klönt.

Weiteres: Die NZZ bringt eine neue Lieferung von Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw. Helmut Böttiger würdigt in der taz die russische Schriftstellerin Maria Stepanova, die im kommenden April den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhält. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem Lyriker Keith Waldrop zum Neunzigsten.

Besprochen werden unter anderem Anuk Arudpragasams "Nach Norden" (taz), Hans Hermann Klares Biografie über den Auschwitz-Überlebenden Philipp Auerbach (taz), Artem Tschechs "Nullpunkt" (FR), Florian Neuners Sammelband "Für eine neue Literatur" (Freitag), eine Ausstellung der Arbeiten des Comiczeichners Cosy im Cartoonmuseum in Basel (FAZ) und Sirka Elspaß' Lyrikdebüt "ich föhne mir meine wimpern" (FAZ).
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Kunst

Zum Siebzigsten beschert das Frankfurter Museum für Moderne Kunst Rosemarie Trockel eine große Werkschau, zu sehen sind auch aktuelle Arbeiten. Noch immer gibt die Konzeptkünstlerin keine Ruhe, stellt Stefan Trinks in der FAZ erfreut fest, der in der Ausstellung mehr als 300 Werke bestaunt, in denen sich Trockel "bitterernst, beißend ironisch" und dennoch humorvoll einem ihrer Kernthemen, den Rechten von Frauen, widmet. Etwa in der "Schwarz-Weiß-Fotografie 'Sabine' von 1994, auf der die Künstlerschwester gleichen Namens bis auf eine Sonnenbrille nackt auf einem Herd hockt und die drei Kochplatten mit Händen und Füßen abdeckt. Zum einen spielt Trockel hier mit dem Klischeebild der Fünfziger (das Retro-Schwarz-Weiß!), der Frau am Herd, die dennoch sexy sein soll; zum anderen nutzt sie dafür aber eine der berühmtesten Statuen der Antike, die noch Rubens und das neunzehnte Jahrhundert zahllose Male zitierten: die kauernde Venus, die frisch aus dem Bade steigt und ihre Scham dabei vor dem erwartbaren männlichen Blick bedeckt und verhüllt."

An anderer Stelle begegnet der Herd auch FR-Kritikerin Lisa Berins in dieser "spielerisch-klugen" Schau: "In einer Art Darkroom im hinteren Teil des Erdgeschosses läuft die Videoarbeit 'Mr. Sun' aus dem Jahr 2000. Innig wird dort ein Herd abgefilmt, eine weibliche Stimme singt davon, dass Mr. Sun bei ihr bleiben solle. Die Gefahr ist groß, sich zu verbrennen. Die Schriftstellerin Sylvia Plath hat sich 1963 das Leben genommen, indem sie den Kopf in den Gasofen steckte - das assoziiert Susanne Pfeffer. Der Herd - ein Symbol für die gewaltvolle Unterdrückung der Frau. Trockel erkennt das Absurd-Komische daran." Und in der Welt wundert sich Swantje Karich, "wie sehr diese Ausstellung visuell beseelt, wie aufrecht und trotzig, warum man nicht genug kriegen kann von dieser eigenwillig-versponnenen Künstlerinnenwelt."

Ist Kunst, die von Algorithmen geschaffen wurde, überhaupt Kunst? Und wie sieht es mit den Urheberrechten aus?, fragt in der NZZ Marie-Astrid Langer nach einem Besuch der Ausstellung "Artificial Imagination" in der Bitforms Gallery in San Francisco. "Ob ein mit KI geschaffenes Bild tatsächlich Kunst sei, hängt für den Galeriebesitzer Sacks auch davon ab, wie viel Mühe sich der Künstler gegeben habe: Einen Algorithmus mit ein paar Begriffen zu füttern, sei für ihn nur der erste Schritt des künstlerischen Prozesses. Doch kann nicht ein jeder die Kunstwerke nachbauen, indem man die gleichen Begriffe in das KI-Programm eingibt? 'Das Referenzieren auf andere Künstler war schon immer ein fester Teil der Kunstgeschichte', sagt Sacks, 'aber man muss das Referenzwerk klar ersichtlich machen, sonst ist das ein Problem.'" Auf René Walters Substack "Good Internet" sind einige beeindruckende Bildergalerien zu von KI erstellten Film-Mashups zu sehen: hier, hier und hier.

Besprochen wird Sandra Mujingas Installation "IBMSWR" im Hamburger Bahnhof (taz), die Ausstellung "Roads not taken" im Deutschen Historischen Museum in Berlin (FAZ, FAS) und Heinz Bühlers Dokumentarfilm "Malstunden bei Raffael" über den Schweizer Maler Albert Anker (NZZ) Ebenfalls in der NZZ widmet Alain Claude Sulzer Anker, dem "Genie des genauen Blicks" ein großes Porträt.
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Film

Einer der schönsten Filme: "Farewell to the Summer Light" von Yoshishige Yoshida

Auf Facebook trauert SZ-Kritiker Philipp Stadelmaier um den japanischen Autorenfilmer Yoshishige Yoshida, einem im westlichen Ausland nicht ganz so bekannt gewordenen Regisseur der japanischen Neuen Welle: "Seine Filme bestehen nur aus Mise en scène, einem akzentuierten Stil, der das, was zerbrochen ist, verdichtet. Nicht, um Logik herzustellen, sondern um das Zersplitterte als Zersplittertes zusammenzuhalten. Diese Filme kultivieren das Nichts, die Leere, auf ruhige, intelligente, elegante Art. Sie sind raffiniert. Sehr fein. Ultrafein. "Farewell to the Summer Light" (1968) und "Akitsu Onsen" (1962) gehören zu den schönsten Filmen, die ich kenne." Seine "Hauptthemen: die Dekonstruktion aller Verwandtschaftsbeziehungen, der sexuellen Reproduktion, der Familie, der Ehe und der Revolution." Er "ist ebenso von Derrida beeinflusst wie von Godard, Resnais oder Duchamp." Das Filmmagazin Midnight Eye hat vor einigen Jahren ein langes Gespräch mit Yoshida geführt.

Heute wird der Europäische Filmpreis verliehen. Es ist eine Verleihung im Zeichen der Krise, nicht zuletzt der Krise Europas, kommentiert Christiane Peitz im Tagesspiegel. Die demonstrative Solidarität mit der Ukraine ist gut, der Totalausschluss russischer Filme, der auch Filme von Putinkritikern umfasst, geht ihr allerdings zu weit. "Filme über die Krise für Kinos in der Krise, so ließe sich die aktuelle Lage zusammenfassen." Nominiert sind vor allem Filme, die schon auf den großen Festivals Preise abstaubten. Diese Beschränkung zeige "auch: Es hapert mit der Sichtbarkeit, Europa bleibt zersplittert."

Außerdem: Im Kino sind immer mehr schwarze, weibliche Heldenfiguren zu sehen, freut sich Jenni Zylka in der taz. Bert Rebhandl porträtiert im Standard die Filmemacherin Maria Schrader, mit der er auch für den Tip gesprochen hat. Valerie Dirk spricht im Standard mit der Regisseurin Yngvil Sve Flikke über deren Komödie "Ninjababy". Was ist eigentlich aus dem 3D-Kino geworden, fragt sich Hanns-Georg Rodek in der Welt zum nun anstehenden Filmstart von James Camerons "Avatar"-Fortsetzung. In dieser hat Sigourney Weaver eine Hauptrolle, mit der David Steinitz in der SZ spricht. Die Schauspielerin Kristen Stewart wird Jurypräsidentin der nächsten Berlinale, meldet unter anderem der Tagesspiegel.

Besprochen werden unter anderem Mia Hansen-Løves "An einem schönen Morgen" (SZ, unsere Kritik), João Pedro Rodrigues' "Irrlicht" (Tsp, unsere Kritik), Noah Baumbachs Verfilmung von Don DeLillos Roman "Weißes Rauschen" (Zeit), Charlotte Wells' Spielfilmdebüt "Aftersun" (taz) und die Netflix-Dokuserie "Harry & Megan" (Presse).
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Musik

Julian Weber porträtiert in der taz die französische, in Berlin lebende Elektro-Musikerin Hermione Frank alias rRoxymore, die sich ihren ästhetischen Zugang von der musique concrète her erarbeitet hat (hier auch ein kleines Videoporträt). In ihr Album "Perpetual Now" taucht er tief ein: Sie "bringt in ihrem Sound Gefühle und Geräusche zum Klingen, die bei anderen aus der Formensprache herausgesiebt sind. Trotzdem bleibt sie reduziert. Ihre Build-ups sind mäandernde Gebilde, Algenteppichen nicht unähnlich. Wie im Auftakt 'At the Crest' die Rhythmusspur mit Stolpergeräuschen ausgeflaggt ist, um die Bergauf-Beschleunigung der Musik anschaulich werden zu lassen, das hat etwas Kunstvolles und zugleich Ungekünsteltes. Manchmal führt rRoxymore ihre Loops auch ins Nichts, wie bei 'Sun in C', wo ein Synthesizer-Arpeggio nach rund sechs Minuten von einem Saxofon aufgelöst wird, das wiederum sehr jazzy klingt."



Außerdem: In der Welt beerdigt Michael Pilz die glückselige Vorstellung von der tollen Popkultur der Neunziger: "Es war nicht alles schön." Céline Dion muss ihre Auftritte wegen einer unheilbaren Nervenkrankheit absagen, meldet unter anderem Lisa Füllemann im Tagesanzeiger. Außerdem liefert die SZ ihre Popfavoriten 2022.

Besprochen werden ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Andris Nelsons (Tsp), ein Berliner Konzert von Jan Lisiecki mit der Kammerakademie Potsdam (Tsp), ein Auftritt von Sofia Portanet (Tsp) und das Debütalbum "Auf den Dächern" der Schauspielerin Verena Altenberger (Standard).
Archiv: Musik