Efeu - Die Kulturrundschau

Haut, Wasser und Leder

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.12.2022. James Camerons Blockbuster "Avatar 2" soll Geld in die Kinokassen spülen, die Filmkritik ist berauscht von dem Meeres-Fantasy-Spektakel in 3D, auch wenn sich manche ein Drehbuch gewünscht hätten. Im Filmdienst beobachtet Lars Henrik Gass derweil, wie im deutschen Kino wirtschaftliches Unvermögen zu kultureller Relevanz umgedeutet wird. Die FAZ spürt in der Hamburger Kunsthalle dem Hauch der Inspration nach. Und in der SZ erzählt Stuart Murphy, wie der English National Opera von einem Tag auf den anderen die Subventionen gestrichen wurden.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.12.2022 finden Sie hier

Film

Lars Henrik Gass, Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen, ärgert sich in einem großen Filmdienst-Essay mächtig über Monika Grütters und Claudia Roth: Die amtierende Kulturministerin und ihre Vorgängerin verschleppten das nötige Update der Filmförderung und vergeudeten damit wertvolle Zeit, gerade so als gäbe es keine Kinokrise: "Die Umdeutung von wirtschaftlichem Unvermögen in kulturelle Relevanz hat nun volle Fahrt aufgenommen. Niemals war so viel von 'Filmkunst' und 'Kinokultur' die Rede wie heute, seit davon kaum mehr etwas übrig ist. Die Frage, was kulturell relevant ist und wie man es ausweisen müsste, darf selbstverständlich nicht beantwortet werden, denn die Antwort wäre systemgefährdend. Bessere Filme braucht und will hier keiner, könnte auch keiner herstellen, keiner erkennen. ... Die Kinowirtschaft in Deutschland macht ihre Geschäfte sowieso nicht mit deutschen Filmen, aller patriotischen Sonntagsreden zum Trotz, die unentwegt auf uns niedergehen. 'Top Gun: Maverick', Aufguss eines Films von 1986, ist derzeit Maßstab und Hit. Das hält diese Bande nicht davon ab, unverfroren auf Förderentscheidungen Einfluss nehmen zu wollen, damit Filme, die ihnen nicht passen, 'so früh wie möglich aus der Förderung verschwinden'. So weit kommt's noch, dass die Kinowirtschaft bestimmt, was gefördert wird."

Natürlich unter Wasser: "Avatar - The Way of the Water"

Ziemlich viel Geld verdient hat die Kinowirtschaft vor dreizehn Jahren mit James Camerons 3D-Pionierfilm "Avatar", dessen Fortsetzung nun wider Erwarten doch noch in die Kinos kommt. Das nahezu vollständig mit CGI und Motion-Capturing-Verfahren produzierte Bombast-Vehikel setzt effekttechnische Standards, staunt tazlerin Barbara Schweizerhof insbesondere über die weiten Strecken, die der Film unter Wasser spielt: "Von den Meerestieren, den Pflanzen, den Wellen und Strömungen bis hin zu den einzelnen Tropfen auf den Gesichtern und Haaren der Helden und Heldinnen fließt, schwimmt und taucht alles mit einer visuellen Selbstverständlichkeit, die förmlich in die Leinwand hineinzieht." Große Begeisterung auch bei Perlentaucher Nicolai Bühnemann: "Dass 'Avatar - The Way of Water' das Meisterwerk geworden ist, das der Vorgänger gerne gewesen wäre, liegt an der emotionalen Wucht des Films, aber auch daran, dass Cameron den Ethno-Kitsch, an dem auch diesmal kein Mangel herrscht, mit einer atemberaubenden Gemeinheit konterkariert, die sich zuerst gegen die walartigen Wesen, dann gegen das Publikum selbst richtet." Auch SZ-Kritikerin Kathleen Hildebrand findet: "Nie hat die Interaktion von Haut, Wasser und Leder überzeugender ausgesehen", allerdings hätte sie dem Treiben "ein originelleres Drehbuch" gewünscht. Satt kommt Presse-Kritiker Andrey Arnold aus dem Kino: "Während geringere Attraktionsdrechsler uns dreist nährstoffarme Grütze ins Gesicht klatschen, serviert Cameron ein reichhaltiges, vollwertiges Mahl."

Jan Küveler würdigt Cameron in der Welt als großen Antriebsmotor des Blockbusterkinos, der immer einen noch aufwändigeren und gigantischeren Film drehen muss. "Die untergründige Botschaft des Films ist wie gemacht für Grüne und die 'Letzte Generation': Menschliche Spitzentechnologie und terraformerische Ambition muss sich tribalistischem Gemeinschaftsgeist und den Selbstheilungskräften der Natur notwendig geschlagen geben. Angesichts des enormen technischen Aufwands" wirkt dies auf Küveler aber "etwas heuchlerisch." Das denkt sich auch Andreas Scheiner in der NZZ.

Dietmar Dath von der FAZ deutet den übergroßen Film vom Kleinklein der sozialen Zumutungen im Alltag der Benachteiligten her, die zur Ertragsmaximierung fortlaufend quantifiziert und optimiert werden: "Ob das Ding damit alle Kassen knackt oder in einem Floploch versinkt, hängt freilich davon ab, ob es noch genügend Zahlungswillige gibt, die außerhalb der zermürbenden Tortur zwischen Langeweile und Hektik, Überstunden und Arbeitslosigkeit, die wir 'Gegenwart' nennen, noch die Kraft zum Mitfantasieren besitzen. Näheres dazu in den Wirtschaftsnachrichten."

Außerdem: Helmut Hartung berichtet in der FAZ vom anhaltenden Gewerkschaftsstreit zwischen dem Bundesverband Regie und Netflix. Besprochen werden Michael Kochs Schweizer Oscarkandidat "Drei Winter" (Zeit), die Gangsterserie "The Offer" (ZeitOnline) und die auf Disney+ gezeigte True-Crime-Serie "Mord im Auftrag Gottes" (taz).
Archiv: Film

Kunst

Oscar Muñoz: Aliento, 1995-2002. Foto: Kunsthalle Hamburg

Was bedeutet es, wenn Pandemie, Umweltverschmutzung, Kriege uns die Luft zum Atmen rauben? In der sehr anregenden Ausstellung "Atmen" in der Kunsthalle Hamburg begegnet FAZ-Kritikerin Alexandra Wach ganz unterschiedlichen, aber immer interessanten Positionen: "Schon im Foyer fallen Seifenblasen von der Decke herab. Kaum am Boden angekommen, hauchen sie ihr Leben aus. Man könnte die Installation 'En el Air' der Mexikanerin Teresa Margolles für verspielt halten. Das Gegenteil ist der Fall. Die gerichtsmedizinische Assistentin und Künstlerin bevorzugt Materialien, die mit Toten in Berührung gekommen sind. In Mexiko-Stadt mit ihrem Drogenkrieg muss sie nicht lange suchen. Die Seifenblasen hat sie mit Wasser aus durchnässten Stoffen hergestellt, die an Orten von Gewalttaten gefunden wurden. Die Vergänglichkeit zum Anfassen sollte man deshalb als Anleitung zum langen Atem verstehen, denn die Lebensluft oder das Pneuma, anima oder spiritus, sind heute schließlich bedrohter denn je. Leidet in Zeiten, in denen der Mundschutz das Atmen beeinträchtigt, nicht auch die Inspiration, die der Barock an den beweglichen Luftmolekülen so schätzte?"

Besprochen werden die große Rosemarie-Trockel-Retrospektive zum siebzigsten Geburtstag der Künsterin im Museum für Moderne Kunst Frankfurt (taz) und Douglas Gordons Ausstellung "Neon Ark" in der Londoner Gagosian Davies Street (Guardian).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Hamburger Kunsthalle

Literatur

In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Besprochen werden unter anderem zwei neue Romane von Cormac McCarthy (Jungle World), Mircea Cartarescus "Melancolia" (NZZ), Tim Krohns und Chrigel Farners Comic "Pippin der Nichtsnutz" (Tsp), Sophie Passmanns neue RBB-Literatursendung "Studio Orange", die Anselm Neft in der BLZ besser findet als seine Kritikerkollegen dies bislang taten, Ror Wolfs "Tagebuch" (SZ) und Marianna Kurttos "Tristania" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Im SZ-Interview mit Alexander Menden zeigt der Leiter der English National Opera, Stuart Murphy, wie in Großbritannien Kulturpolitik funktioniert: Von einem Tag auf den anderen wurde der ENO, das zweite große Opernhaus in London neben Covent Garden, mitgeteilt, dass ihre Subventionen gestrichen würden: Sie könnte aber nach Manchester ziehen, dann würde sie Gelder aus dem regionalen Fördertopf fürs Levelling-Up bekommen. Murphy: "Es hat uns niemand gesagt, wie wir alle Musiker und Mitarbeiter samt ihren Familien in eine andere Stadt verpflanzen sollen. Es hieß immer nur: Wir haben der ENO ein finanzielles Angebot gemacht, nun liegt es an ihr, uns zu sagen, was sie damit machen will. Das ist, als würde ich zu Ihnen sagen: Du kriegst von jetzt an nur noch ein Drittel deines Gehalts, und das auch nur, wenn du 300 Kilometer weit wegziehst - aber letztlich ist es deine Entscheidung. Und bei alldem hat das ACE sich wie gesagt nicht mal an seine eigenen Regeln und Kriterien gehalten. Es ist empörend!" Mehr dazu im Guardian.

Besprochen wird Tschaikowskys wiederententdeckte "Zauberin" an der Frankfurter Oper (die für NMZ-Kritiker Wolf-Dieter Peter von jetzt an in jedes Repertoire gehören sollte).
Archiv: Bühne
Stichwörter: English National Opera

Musik

Trauer um den Filmkomponisten Angelo Badalamenti, David Lynchs Haus- und Hofkomponisten. Die Anekdote, wie Lynch ihm Stimmungsbilder aus dem dunklen Wald an den Kopf warf, zu denen Badalamenti improvisierte, woraus im Nu das Titelthema zu "Twin Peaks" entstand, findet sich in fast allen Nachrufen. Am liebsten setzte Badalamenti Streicher ein, "was auch sonst", schreibt Edo Reents in der FAZ. "Es gibt keine andere Instrumentierung, mit der man entweder durch epischen Fluss beim Zuhörer die Bereitschaft, sich durch Melodramatik noch zusätzlich bewegen zu lassen, erhöhen kann oder, durch nervöses Zittern, die angstvolle Spannung. ... Man mag eine Ironie darin sehen, dass die schönste Musik dieses Alleskönners seine untypischste ist: 'Rose's Theme' aus Lynchs gleichfalls untypischstem und eben auch schönstem Film 'Straight Story' (1999). Die zart, unendlich wehmütig perlende Harfe lässt einem Sissy Spaceks unaufhebbare Traurigkeit direkt ins Herz schießen; man wünscht, dass dieser Schmerz nie aufhört."



Auf den Soundtrack zu "Twin Peaks" kommt Tobi Müller auf ZeitOnline aber doch noch zu sprechen und entpuppt sich als intimer Kenner der Entstehungsgeschichte des ikonischen Titelstücks. Badalamenti schwelgte nicht nur, er tüftelte auch gern und so wurde aus dem simpel komponierten Stück doch noch etwas Komplexes: "Der heute ikonische Sound der Twin-Peaks-Erkennungsmelodie ist ein mehrfach geschichteter Klang aus einem tiefer gelegten Tonsample des Rock-'n'-Roll-Gitarristen Duane Eddy und einer neu aufgenommenen, aber runtergestimmten elektrischen Gitarre. Dieser Sound wurde dann über einen Synthesizer angesteuert und abermals bearbeitet, damit er sauber klingt und nicht verzerrt. Vier Noten, viel Arbeit." Noch detailierter in die Klangforensik steigt dieses Feature bei Noisegate aus dem Jahr 2018 ein. Einen weiteren Nachruf schreibt Andrian Kreye in der SZ.



Weitere Artikel: Kirsten Liese besucht für den Tagesspiegel Riccardo Mutis Verdi-Proben in Italien. Arno Lücker spricht für das VAN-Magazin mit dem Komponisten und Pianisten Kaan Bulak. In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner dem Saxofonisten John Lurie zum 70. Geburtstag, der in den Neunziger das Coolste war, was New Yorks East Village zu bieten hatte: "Alle wollten John Lurie sein oder mit ihm schlafen." Außerdem verkündet The Quietus nicht nur die besten Punk- und Hardcore-Veröffentlichungen des Jahres, sondern an dieser Stelle noch die 50 besten Stücke des Jahres. Auf der Spitzenposition ist dieser buchstäbliche Kracher:




Besprochen werden das neue Album der Düsseldorf Düsterboys aus Essen (online nachgereicht von der FAZ), Mira Lu Kovacs' und Clemens Wenger' Album "Sad Songs To Cry To" ("Traurige Lieder helfen oft, aber nicht immer", seufzt Christian Schachinger im Standard), ein Konzert von Patricia Kopatchinskaja (Standard), ein Auftritt von Porridge Radio (Tsp) und die große CD-Edition Walter Gieseking (SZ, mehr dazu bereits hier).
Archiv: Musik