Efeu - Die Kulturrundschau

Dieses Erbe des Absolutismus

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19.12.2022. SZ und FAZ beobachten hingerissen, wie sich Elfriede Jelinek in ihrem neuen Stück "Angabe der Person"" die Wunden aufreißt, die ihr das deutsche Finanzamt schlug. Die FR erklärt, warum dagegen Tyrannen auf der Bühne so wenig hergeben. Die SZ berichtet von der Verhaftung der iranischen Schauspielerin Taraneh Alidoosti. Und die NZZ beleuchtet den skurrilen Kosmos klassischer Orchestermusiker.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.12.2022 finden Sie hier

Bühne

Fritzi Haberlandt, Linn Reusse und Susanne Wolff in Elfriede Jelineks "Angabe der Person". Foto: Arno Declair

Am Deutschen Theater hat Jossi Wieler Elfriede Jelineks neues Stück "Angabe der Person" inszeniert, in dem Jelinek vom Tod ihres Mannes erzählt, aber auch von ihrem Leiden an deutschen Finanzämtern. Grandios findet Christine Dössel in der SZ den Abend: "Als 'Totendompteuse' schimpft sie in ihrem Text, der Anklage- und Verteidigungsschrift, Trauer- und Wutrede zugleich ist, ein sprudelnder Sermon voller Zynismen, Kalauern, ätzendem Witz. Es ist ein starker, phänotypischer Text, widerständig und widerborstig, dringlich und bedrängend, in Wunden bohrend und an Nerven sägend. 'Ich bin eine Art Windel für die Welt', heißt es einmal, 'ich lasse nichts durch'. Jelinek at her best. Ein Signature-Text." Dass Jossi Wieler ihn ganz "ohne Regietheaterbrimborium" auf die Bühne bringt beglückt auch Irene Bazinger in der FAZ: "Ansonsten hat Wieler mit Herz, Hirn und Fingerspitzengefühl die ganze Theaterwelt für die Schauspielerinnen Fritzi Haberlandt, Linn Reusse und Susanne Wolff freigeräumt, die Elfriede Jelineks Worte in einer Weise sprechen, wie man es nie zuvor gehört hat. Die drei entpuppen sich als hinreißende Alleinunterhalterinnen im Interesse der Autorin und zeigen, wie klug und gut deren Text konstruiert ist, wie witzig und schräg, theatral und spielbar. "

Jelinek jagt eigentlich nur zwei Stunden lang Wut über die Rampe, stellt Ulrich Seidler in der FR fest, erkennt aber trotzdem, vor allem im Vergleich zu Albert Camus' "Caligula", warum die Demokratie jeder Tyrannei auch auf der Bühne überlegen ist: "Zum Wesen der Tyrannei gehört, dass sie undramatisch ist. Denn der Tyrann handelt nicht, wie er muss, sondern wie er will. So funktioniert, weil der Unterschied zum unfreien Zuschauer prinzipiell ist, die Identifikation nicht mehr, und zwingende Situationen lassen sich auch nicht bauen, wenn der Protagonist je nach Gusto die Regeln bricht. Deswegen kann man mit Tyrannen auch nicht verhandeln, sie halten sich an nichts. Umbringen und fertig - das ist, bei allem Gerede, das diesen Ausgang verzögert, nicht abendfüllend."

Weiteres: In der SZ umreißt Dorion Weickmann die Schwierigkeiten der Ballettwelt, die in diesem Winter ohne Gastspiele aus Moskau oder Petersburg auskommen und ihre "Nussknacker"-Inszenierungen generalüberholen muss.  

Besprochen werden Tina Laniks Inszenierung von Shakespeares "Wie es euch gefällt" am Wiener Burgtheater (Nachtkritik), Sivan Ben Yishais "Bühnenbeschimpfung" am Berliner Gorki-Theater (Nachtkritik, Tsp), Shakespeares "Ein Sommernachtstraum" am Theater Basel (Nachtkritik), Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks Endzeitrevue "Sonne, los jetzt" am Schauspielhaus Zürich (taz, Welt), Claudia Bauers Karl-Valentin-Abend am Münchner Residenztheater ("Meisterstück!", ruft Egbert Tholl in der SZ) und Kurt Weills Musical-Komödie "Ein Hauch von Venus" an der Oper Graz (FAZ).
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Kunst

Klaus Nüchtern schlängelt sich in der FAZ in einem etwas gewundenen Essay zu Krieg, Klimawandel und Letzter Generation zu den Bildern Jan Vermeers, deren in sich versunkene Frauen für ihn stets tiefe Ruhe und Frieden ausstrahlen, obwohl Vermeer in Zeiten des Krieges und der Bedrohung lebte. Am Ende überlegt er, ob Vermeer ähnlich gegen den Krieg wirkt wie etwa das Haager Kriegsverbrechertribunal: "Beiden geht es um eine emphatische Wahrnehmung von Menschen als einzigartige Individuen, beide wenden sich gegen eine entpersönlichende Sichtweise, die das Gegenüber zum bloßen Repräsentanten eines Typs, einer Ethnie, eines Kollektivs degradiert. So gesehen könnte man - wenn ein bisschen Pathos erlaubt ist - in Analogie zu Rebecca Solnits hortikulturellem Pazifismus auch behaupten: Das Gegenteil von Krieg sind die Bilder Vermeers."

Besprochen wird Wieland Schönfelders Ausstellung "Was ist verloren?" in der Städtischen Galerie Delmenhorst, die El Lissitzkys Arbeiten zur Revolutionsoper "Sieg über die Sonne" nachgeht (taz).
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Film

Die iranische Schauspielerin Taraneh Alidoosti ist vom Teheraner Regime festgenommen worden. Man kennt sie unter anderem aus Filmen von Asghar Farhadi, in ihrem Land gilt sie als Kino-Ikone, schreibt Tomas Avenarius in der SZ. Das hat sie vor dem Zugriff der Mullahs nicht geschützt: Wegen ihrer anhaltenden Kritik an Irans Führung sitzt sie nun im Evin-Gefängnis und sieht einer mehrjährigen Haftstrafe entgegen. "Die Justiz wirft ihr vor, 'zum Chaos' angestiftet zu haben mit 'nicht belegten Bemerkungen über jüngste Ereignisse' und mit der 'Veröffentlichung provokanten Materials'. Was mit dem kruden Gestammel der Schergen des Mullah-Systems gemeint ist? Die Schauspielerin hatte die Hinrichtung eines jungen Mannes angeprangert, der wegen der Proteste nach dem Tod der 22 Jahre alten Mahsa Amini verurteilt worden war. Das Regime werde irgendwann für die ihm eigene Brutalität den Preis bezahlen müssen, hatte sie dem Sinn nach gepostet. ... Es wird das Regime kaum beeindrucken, dass sich eine ganze Reihe bekannter Schauspieler, Regisseure und andere Kino-Leute und Künstler nach der Verhaftung vor dem Evin-Gefängnis versammelten, um auf das Schicksal von Taraneh Alidoosti hinzuweisen. Im Gegenteil, auch diese Künstler riskieren ihre Freiheit."

Außerdem: Max Florian Kühlem erzählt in der Berliner Zeitung die Geschichte des Hollywoodproduzenten Carl Laemmle. In seiner Serienkolumne für die Zeit blickt Matthias Kalle auf "Weeds" zurück. Besprochen werden Stepan Burnashevs und Dmitrii Davydovs "Sibirisch für Anfänger" (SZ), Guillermo del Toros "Pinocchio" (Welt), die Berliner Ausstellung zu "100 Jahre Nosferatu" (BLZ) und die auf Disney+ gezeigte Serie "The Patient" (BLZ).
Archiv: Film

Literatur

Michael Krüger verneigt sich in der SZ vor Walter Höllerer, der heute vor hundert Jahren geboren wurde und als Literaturwissenschaftler an der TU Berlin sowie als Gründer des Literarischen Colloquiums maßgeblich Anteil daran hatte, dass das Berliner Literaturleben nach dem Verheerungen der Nazis wieder aufblühte. "Es kamen auf sein Zeichen hin die Autoren der ganzen Welt in die 'Frontstadt' und legten das Fundament, auf dem die heutige Attraktivität für Literaten immer noch beruht. Man sah John Dos Passos in der Kreuzberger Gastwirtschaft 'Leydicke' deutschen Whisky trinken und den aus Argentinien nach Europa zurückgekehrten Polen Witold Gombrowicz im 'Cafe Kranzler' Hof halten, Nathalie Sarraute, Heimito von Doderer und Henry Miller lasen in der vollbesetzten Kongresshalle. Wenn es eine literarische Gerechtigkeit gäbe, müssten schon mindestens drei ausführliche Bücher die Geschichte der Taten und Meinungen des Herrn Walter Höllerer aus Sulzbach-Rosenberg dokumentieren. ... Es ist seltsam, dass in Berlin weder eine Straße noch ein großer Literaturpreis nach dieser Jahrhundertfigur benannt ist; traurig ist, dass kein gescheites Buch sich diesem urbanen Ermöglicher (und seinem unwiderstehlichen Lachen) widmet."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Besprochen werden unter anderem die Briefe von Ingeborg Bachmann und Max Frisch (Standard), W. E. B. Du Bois' "'Along the color line'. Eine Reise durch Deutschland 1936" (Jungle World), Bettina Wilperts "Herumtreiberinnen" (Intellectures), Jeremy Adlers "Goethe" (FR), Comicadaptionen der Science-Fiction-Romane von Cixin Liu (Intellectures), Andrea Bajanis "Buch der Wohnungen" (Standard), Nadine Schneiders "Wohin ich immer gehe" (Standard), Jerry Z. Mullers "Professor der Apokalypse. Die vielen Leben des Jacob Taubes" (taz) und neue Hörbücher, darunter Walter Andreas Schwarz' Lesung von Stefan Zweigs "Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Urs Heftrisch über Taras Schewtschenkos "Vermächtnis":

"Wenn ich sterbe, so bestattet
Mich auf eines Kurhans Zinne
Mitten in der breiten Steppe ..."
Archiv: Literatur

Musik

Christian Wildhagen befasst sich in der NZZ mit Klischees und Skurrilitäten in Orchestern: Bratischisten sind belächelte Musiker zweiter Klasse, Tubaspieler per se männlich - und so weiter. Das hat auch viel mit althergebrachten und ziemlich verkrusteten Strukturen zu tun, schreibt er: Aufstiegschancen innerhalb eines Orchesters gibt es kaum und wer einmal in einem renommierten Orchester Platz genommen hat, bleibt darauf sitzen, bis es gar nicht anders mehr geht - irgendwann herrscht blanke Routine. "Bestrebungen, die internen Strukturen zu flexibilisieren und Entscheidungsprozesse durch Mitspracherechte demokratischer zu machen, gibt es dennoch seit langem, und sie werden absehbar weiteren Aufwind erhalten. Schon jetzt hat sich die Rolle der Dirigenten wesentlich verändert, sie können kaum mehr so autoritär durchregieren wie noch im 20. Jahrhundert. ... Allerdings führen Mitbestimmungsmodelle - das haben Versuche im Fahrwasser der 68er Bewegung gezeigt - nicht automatisch zu großer Kunst. In der Musik muss bei Aufführungen mit einem teilweise mehr als hundertköpfigen Orchester am Ende eben doch einer (oder neuerdings vermehrt: eine) die Richtung und den Ton vorgeben. Dieses Erbe des Absolutismus wird die klassische Musik nie völlig überwinden, es ist ihr eingeschrieben. Über Dirigenten existieren denn auch fast so viele garstige Witze wie über Bratscher."

Weitere Artikel: Manuel Brug erzählt in der Welt Dolly Partons Erfolgsgeschichte (wir empfehlen flankierend dazu diesen tollen Podcast über Parton). Für die taz porträtiert Andreas Hartmann den Musiker und Booker Marc Weiser, der mit zahlreichen Underground- und Avantgardekonzerten im Jugendwiderstandsmuseum die subkulturellen Wurzen des gentrifizierten Berliner Friedrichshains rettet. Unter anderem trat dort vor kurzem der Neo-Krautrocker Franz Bargmann mit seinen Ein-Mann-Gitarrenflächen auf:



Besprochen werden ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Christian Thielemann (BLZ), ein vom Nachwuchsdirigenten Tarmo Peltokoski dirigiertes Konzert des Berliner Konzerthausorchesters (Tsp) und eine neue Abmischung von Dexys Midnight Runners' Album "Too-Rye-Ay As It Should Have Sounded" (taz).
Archiv: Musik