Efeu - Die Kulturrundschau

Hoheitlich lektorierte Kultur

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21.12.2022. Die SZ fragt angesichts des Streits um Wajdi Mouawads "Vögel", ob künftig Wahrheitskommissionen darüber entscheiden, welche Stücke gespielt werden dürfen. Der Standard meldet, dass Stefan Bachmann neuer Direktor des Burgtheaters wird. Die Welt bewundert in Mailand die Kunst der Römer, Schönheit zu recyclen. Die FAS versucht Jerzy Skolimowskis geheimnisvollen Filmhelden EO zu ergründen. Außerdem trauern die Feuilletons um Terry Hall, bei dessen Specials Weiß und Schwarz noch zusammen gegen die Deindustrialisierung anspielten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.12.2022 finden Sie hier

Bühne

Wajdi Mouawads abgesetztes Stück "Vögel" am Münchner Metropoltheater. Foto: Jean-Marc Turmes

Seit Wochen kocht in München der Streit um das Theaterstück "Vögel" des libanesisch-kanadischen Autors Wajdi Mouawad. Eine Gruppe jüdischer Studenten wirft dem Stück Antisemitismus vor, das Metropoltheater setzte es sofort ab. In der SZ findet Rene Hofmann das Agieren der Politik nicht nur übervorsichtig, sondern ängstlich: "Seither kursiert die verwegene Idee, ein Expertengremium solle beratschlagen, wie umgearbeitet oder eingebettet das Stück in der Stadt vielleicht doch noch gezeigt werden kann. Hoheitlich lektorierte Kultur also. Nicht nur die Kulturszene fürchtet, das Beispiel könne Schule machen. Womöglich nicht nur in München. Dort hat das Gerangel, wie die Wahrheitskommission für den Theaterdonner besetzt sein soll, schon begonnen. Würde sie wirklich kommen, drohte die völlige Eskalation."

Stefan Bachmann soll neuer Direktor des Wiener Burgtheaters werden, melden Margarete Affenzeller und Stephan Hilpold im Standard unter Berufung auf den ORF. Bachmann ist derzeit Intendant des Schauspiel Köln - und übrigens ausgezeichnet mit dem Nestroy-Preise für die Beste Regie mit einem Stück von Wajdi Mouawad (siehe oben) in Köln. Monatelang war der amtierende Burgtheater-Direktor Martin Kušej im Ungewissen gelassen worden, ob sein Vertrag verlängert wird. Dass er gestern von sich aus hingeworfen hat findet Christine Dössel in der SZ nur folgerichtig, zumal Kušej in mehrfacher Hinsicht angeschlagen war: "Die angeblich schlechte Stimmung ist das eine. Kušejs Performance als Burgtheaterdirektor das andere. Seine bisherige Bilanz schaut eher mau aus. Künstlerische Höhepunkte sind an dem Haus rar gesät, und wenn, dann kamen sie nicht von Kušej, der schon in München an Kraft verloren hatte. Dass er zum Auftakt in Wien Kleists "Hermannsschlacht" inszenierte, mit welcher dereinst auch Claus Peymann an der Burg antrat, und zwar glorreich, mochte man als totale Unerschrockenheit oder Hybris ansehen, inhaltlich-ästhetisch war es eine seiner altbackensten Arbeiten." Auch Margarete Affenzeller hält im Standard Kušejs Abgang für eine gute Entscheidung, auch wenn sie ihm die Wiederentdeckung vieler Autorinnen positiv anrechnete.

Gegen die Theaterkrise haben die Münchner Kammerspiele einen Popup-Store des feministischen Sexshop-Kollektiv eröffnet, mitten hinein in die Maximilianstraße mit ihren Edelboutiquen. Für die SZ bildet sich Marlene Knobloch gern weiter, abends bei der Diskussion zu Fürsorge und Liebe im Kapitalismus erfährt sie, was sie alles an Care-Arbeit leistet: "Geschenke kaufen ist Arbeit. Telefonieren ist Arbeit. 'Wenn du deinem Freund zuhörst, kann das als Arbeit gedeutet werden', sagt er, ich könnte schließlich in der Zeit 'Netflix schauen'."

Besprochen werden Tina Laniks Inszenierung "Wie es euch gefällt" an der Wiener Burg (FAZ), Gian Carlo Menottis Weihnachtsoper "Amahl und die nächtlichen Besucher" in Wien (SZ), Bellinis "Sonnambula" im Teatro Real in Madrid (FAZ).
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Kunst

Leone che azzanna il cavallo. Hellenistsiche Skulptur. Foto: Musei Capitolini

Überwältigt ist Welt-Kritiker Hans-Joachim Müller von der Schau "Recycling Beauty" in der Mailänder Fondazione Prada, die zeigt, wie die Römer bei den Griechen abkupferten und die Renaissance bei den Römern: "Wer durch Rom spaziert, entdeckt in den Renaissance-Mauern überall architektonische Einsprengsel aus der Zeit, als Rom noch Weltmacht war. Selbst Päpste und Kardinäle kannten keine Bedenken, die wenig schamhaften Venusfiguren, auf die man im Müll dunkler Jahrhunderte stieß, hochglanz reinigen zu lassen und sie in ihren Gemächern aufzustellen. Wobei das männliche Nacktpersonal - Apollo, Eros, Dionysos - vor allem den Malern allerbeste Anschauung bei schwierigen Körperaufgaben wie dem heiligen Sebastian lieferten. Überhaupt boten die fantastischen Schaustücke, die mit einem Mal zur Lebenseinrichtung der aufbrechenden Epoche gehörten, den Künstlern allerbeste Anschauung zeitloser Meisterschaft. Der marmorne Löwe, der sich im wehrlosen Pferd verbeißt, hat der Bildhauerei bis hin zu Meistern wie Donatello Anregungen geliefert."

Weiteres: Für die FAZ besucht Peter Kropmanns das neueröffnete Zentrum für Glasmalerei, die Cité du Vitrail, in Troyes. Im Monopol empfiehlt Alexandra Wach die Ausstellung zu Helen Frankenthaler "Malerische Konstellationen" im Essener Folkwang Museum.
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Film

Der Größte: Ennio Morricone

"Er ist der größte Filmkomponist", schreibt Tim Caspar Boehme in der taz über Ennio Morricone. Den Anlass dazu bietet ihm Giuseppe Tornatores diese Woche in den Kinos startender Porträtfilm, der die wichtigsten Stationen im Leben des italienischen Maestros abgeht - und mit ihm auch der taz-Kritiker. An Lob, Einsichten, Filmausschnitten und Höreindrücken herrscht kein Mangel, doch "was der Film weniger gut löst, ist der Einsatz von sprechenden Köpfen. Diese sagen nicht immer Notwendiges. Manches ist verplaudert, vieles erschlägt einen mit dem stetigen Betonen von Morricones Ausnahmestatus. Das wird eigentlich so schon deutlich. ... Am Ende ist es etwas viel der Hagiografie. Ein so großer Musiker wie Morricone hätte Besseres verdient." Crescendo spricht mit Tornatore über seinen Film.

Der Geheimnisvollste: EO

Jerzy Skolimowskis Eselfilm "EO" ist ein loses Remake von Robert Bressons "Au Hasard Balthazar" (mehr dazu bereits hier). Wie im Vorbild auch verfolgen wir einen stoischen Esel auf seinem Lebensweg zwischen Zuneigung und Pein. "Skolimowskis Film eröffnet vor allem eine Möglichkeit", schreibt Peter Körte online nachgereicht in der FAS: "einem nicht-menschlichen Protagonisten durch eine Handlung zu folgen, ohne an seiner Mimik und Gestik ablesen zu können, wie er sie erlebt. Er erfährt Gewalt, Freundlichkeit, Zuwendung, Gleichgültigkeit. Wäre er ein Mensch, ordnete man ihm Motive, Gefühle, eine Haltung zur Welt zu. Welchen Reim sich EO auf die Welt macht, bleibt ein Rätsel. Skolimowski belässt es bei der Spekulation, dass auch ein Esel sich nach der Person sehnt, die gut zu ihm war. EO ist einer der geheimnisvollsten Helden der Kinogeschichte."

Weitere Artikel: Claudia Mäder fragt sich in der NZZ, ob Michael Kochs auch hierzulande sehr positiv besprochenes Schweizer Bergdrama "Drei Winter" heute den Sprung aus der Oscar-Vorauswahl zur Oscar-Nominierung schaffen wird. Manuel Brug quält sich für die Welt durch den Stapel von neuen Sisi-Filmen und -Serien, die von den Streamingdiensten in Hülle und Fülle angeboten werden. James Cameron hat wissenschaftlich untersuchen lassen, ob Leonardo DiCaprios Figur am Ende von "Titanic" wirklich hätte sterben müssen, meldet Pascal Blum im Tagesanzeiger. Und der Guardian meldet, dass der britische Regisseur Mike Hodges ("Get Carter", "Flash Gordon") gestorben ist.

Besprochen werden Xavier Giannolis Neuverfilmung von Balzacs "Verlorene Illusionen" (ZeitOnline, Tsp), Tim Burtons Serie "Wednesday" (NZZ), eine Berliner Ausstellung über 100 Jahre "Nosferatu" (taz), Graham Hamocks Netflix-Eiszeit-Dokuserie "Ancient Apocalypse", die Tagesspiegel-Kritiker Uwe Ebbinghaus für historisch völlig haarsträubend hält, die neue Staffel von "Emily in Paris" (Presse) und die neue Staffel von "Tom Clancy's Jack Ryan" (Tsp).
Archiv: Film

Literatur

In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Susanne Lenz stellt in der Berliner Zeitung Fabrice Caro vor, der das nächste "Asterix"-Abenteuer geschrieben hat. Wilma Werner und Paula Parker berichten in der taz von der 20. Ausgabe des Steglitzer Literaturfestes. In seinem Intellectures-Blog empfiehlt Thomas Hummitzsch Hörbücher für den Gabentisch.

Besprochen werden unter anderem eine Wiederveröffentlichung von Michael Leiris' "Phantom Afrika" (SZ), Werner Schmitz' Neuübersetzung von Ernest Hemingways "Wem die Stunde schlägt" (Welt) und Lena Anderssons von Antje Rávik Strubel übersetzter Roman "Der gewöhnliche Mensch" (FAZ).
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Musik

Terry Hall von den Specials ist tot. "Ohne Hymnen wie 'Ghost Town' und 'Gangsters' wäre nicht nur das britische Königreich heute ein anderes", schreibt Michael Pilz in der Welt. "Mit dem Tod von Terry Hall stirbt auch eine der größten Bands der Welt." Ein Comeback erlebte die Band mitten im Brexit-Trubel und generell war sie stets zur Stelle, wenn Krisen das Land erschütterten. "Hall beschwor sein eigenes Großbritannien und ein anderes England. Es waren nicht nur die Rechten, die sich nach den alten Zeiten sehnten. Auch die Linken träumten sich zurück in eine Zeit, in der Weiße und Schwarze sich die Subkulturen teilten, Punk und Reggae mochten und, ob nun als weiße Skinheads oder schwarze Rudeboys, stolz das Proletarische zur Schau stellten, ob sie nun wirklich Proletarier waren oder nicht. Es war die Haltung."

Ähnliches schreibt Ulrich Gutmair in der taz: " Bei den Specials spielten Schwarz und Weiß zusammen, sie repräsentierten die Jugend eines Landes, das nach dem Zweiten Weltkrieg seine Stellung als Empire verloren hatte. Ihre Musik war der Sound des postkolonialen United Kingdom. Sie war stark vom jamaikanischen Genre 2 Tone geprägt. Ihre Texte erzählten von Armut und Rassismus in einem deindustrialisierten Land. ... Wenn die Specials sangen, dass es so nicht weitergehen könne, sprachen sie für viele, und als sie davor warnten, dass die Leute wütend werden, nahmen sie die Streikwellen und Krawalle vorweg, die das Königreich erschüttern sollten." Weitere Nachrufe schreiben Christian Schröder (Tsp) und Jakob Biazza (SZ).



"Deutscher Hip-Hop ist zum Therapiefall geworden", stellt Daniel Haas in der NZZ mit Blick auf die neuen Alben von Sido und Haftbefehl, aber auch von Prinz Pi, Casper und Alligatoah fest. Sie "verdunkeln das Mackertum mit Selbstzweifeln und Reue. Das passt zum Zeitgeist. Eine sich feminisierende Gesellschaft hat für den aggressiven männlichen Akteur immer weniger Verwendung. ... Aus dem Schatten der deutschen Rapper treten dafür immer mehr Rapperinnen - Shirin David, Badmómzjay und Ebow zum Beispiel. Sie feiern ihr kapitalistisches Selbst ohne Zerknirschung oder Schuldgefühle. Wenn die aus Hamburg stammende Shirin David im Song 'Juicy Money' die Verwendungsarten für verdientes Geld durchdekliniert - es gibt 'Clooney Money' (für ihre Lover), 'Sushi Money' (für gesunde bzw. luxuriöse Ernährung) und 'Spooky Money' (für Kosmetik) -, dann schließen sich Ironie, Coolness und Stolz zu einem überzeugenden Rap-Stil zusammen."



Weitere Artikel: Erik Wenk erzählt im Tagesspiegel von seinem Treffen mit der Berliner Soulmusikerin Jocelyn B. Smith. Holger Gertz (SZ) und Tilman Spreckelsen (FAZ) gratulieren Reinhard Mey zum 80. Geburtstag. Dazu passt gut diese schon (allerdings schon etwas ältere) Reflektor-Episode, in der Jan Müller ausführlich mit Mey spricht.

Besprochen werden das Zürcher Konzert des Schweizer Trios Dino Brandão, Faber und Sophie Hunger (NZZ, TA), Patti Smiths autobiografischer Fotoband "Buch der Tage" (Standard), ein Berliner Konzert der K-Popband Blackpink (Tsp, BLZ), ein Konzert von Steve Lacy (taz), ein Berliner Konzert des Freiburger Barockorchesters mit dem Chor Vox Luminis (Tsp), neue Popveröffentlichungen, darunter Adrian Belews "Elevator" (Standard), Mark Andrews' Buch "BlackPlanet" über die Geschichte der Sisters of Mercy (FAZ) und Loyle Carners Album "Hugo" (FR).

Archiv: Musik