Efeu - Die Kulturrundschau

Zwischen künstlerischer Größe und selbstreflexivem Ghetto

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24.12.2022. Die SZ schaut in Hannover erschüttert auf die blutverschmierten Frauen, die Paula Rego in den Neunzigern malte, um die Legalisierung der Abtreibung in Portugal voranzutreiben. artechock fragt ungehalten, wann der deutsche Film eigentlich zuletzt echte Debatten und ästhetische Fantasien entfesselt hat. Die taz lauscht in Berlin der iranischen Komponistin Aida Shirazi, die ein Gedicht Walt Whitmans wie kriechende Termiten klingen lässt. Und alle trauern um den Lyrikkritiker Michael Braun, der sich mit Neugier und Offenheit auch unbekannten Dichtern widmete.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.12.2022 finden Sie hier

Kunst

Bild: Paula Rego, Love, 1995, Courtesy of Ostrich Arts Ltd and Victoria Miro, © Ostrich Arts Ltd

Einen beeindruckenden Überblick von Paula Regos "alchemistischem Werk aus Macht- und Lusterfahrungen" erhält Till Briegleb (SZ) in der Kestnergesellschaft in Hannover, die der kürzlich verstorbenen portugiesischen Künstlerin die erste große Retrospektive in Deutschland widmet. Regos "Mut zum Tabubruch" offenbart sich dem Kritiker nicht zuletzt in jenen Bildern, die die Künstlerin, die in den fünfziger Jahren selbst einige Male zu Engelmachern ging, Ende der Neunzigerjahre malte, als ein Referendum in Portugal zur Legalisierung der Abtreibung wegen geringer Wahlbeteiligung scheiterte, wie Briegleb erzählt. Sie malte Bilder von Frauen, die aus Not illegal abgetrieben hatten: "Blutverschmierte Frauen mit gespreizten Beinen zeigen die Pastellgemälde und Stiche, kotzend, auf einem improvisierten gynäkologischen Stuhl aus Regiestühlen liegend oder wie erschlagen auf dem Bett, bei der anschließenden Waschung auf einem Zinkeimer oder gekrümmt zwischen Laken. Die ansonsten im Phantastischen beheimatete Künstlerin hat für diese erschütternde Serie ihre Inspiration aus dem realistischen Grauen bezogen, das Goya in seinen Serien zum Krieg auszeichnete. Es sind mutwillige Selbstentblößungen von einer Radikalität, die Grenzen überschreitet."

Außerdem: In der SZ erzählt Johanna Adorjan die Geschichte von Babubhai Prajapati, der in Gujarat im Westen Indiens eine riesige Herde Votivpferde töpfert und von denen einige dank der Kunsthistorikerin Katharina Koppenwallner nun in Europa gezeigt werden.

Besprochen werden zwei Werke von Max-Beckmann in der Ausstellung "Kunst der Gesellschaft 1900-1945" in der Berliner Neuen Nationalgalerie (Berliner Zeitung), die Version des 1945 verschollenen Wandbildes "Auferstehung", das die Künstlerin Rebecca Raue für eine Kapelle der Nikolaikirche gemalt hat (FR), eine elektro-akustische Installation von Haroon Mirza in der Berliner Galerie Max Goelitz (Tagesspiegel), die Ausstellung "Gego. Lines in Space" mit Werken der Bildhauerin Gertrud Goldschmidt in der Pariser Galerie LGDR (Welt) und die große Rosemarie-Trockel-Ausstellung im Frankfurter Museum für Moderne Kunst (FAS).
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Literatur

Der Lyrikkritiker Michael Braun ist zur Bestürzung seiner Kollegen überraschend gestorben. Alle, wirklich alle Nachrufe sprechen von letzten Begegnungen mit Braun: "Kein Lyriker im deutschsprachigen Raum ist in den vergangenen Jahrzehnten an Braun vorbeigekommen, vielen wurde durch seine Vermittlung überhaupt erst Aufmerksamkeit zuteil", schreibt Beate Tröger in der FAZ. "Neugier und Offenheit zeichnen sein gesamtes Werk aus", schreibt die Schriftstellerin Ulrike Draesner auf ZeitOnline. "Er hatte eine besondere Gabe, sich zu öffnen, ohne parteiisch zu werden, und auf das zu blicken, was ein Text oder Werk wirklich unternahm: ästhetisch, thematisch (das ist ja nicht zu trennen). Selbst auf die Gefahr hin, sich zu täuschen, ließ er sich darauf ein, und er formulierte seine Fragen und Erkenntnisse in einer Sprache, die man mit Freude lesen wollte: einfach - auf jene Weise, die nur entsteht, wenn eine Sache wirklich durchdrungen wird."

Braun pflegte den Fundus der Literaturgeschichte und zeichnete sich zugleich durch "eine notorische Neugier auf noch unbekannte Dichter" aus, schreibt Henning Ziebritzki in der SZ. Braun "war stets bewusst, dass er ein eigentümliches Feld zwischen künstlerischer Größe und selbstreflexivem Ghetto beackerte", schreibt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel. "Halb Pater familias, halb Direktor eines Flohzirkus, bemühte er sich, auch dem Geringsten mit theoretischer Durchdringungskraft literaturhistorisches Gewicht zu verleihen." Im Dlf Kultur erinnert sich der Schriftsteller Hans Thill an Braun. Einige von Brauns Texten finden sich zum Beispiel bei ZeitOnline und beim Tagesspiegel.

Elisabeth Brauer erzählt in der taz von ihrem Treffen mit dem ukrainischen Schriftsteller Oleksandr Mykhed durch Kyjiw. Die Einnahme von Butscha konnte er derweil von seinem Fenster aus beobachten. Seitdem treibt ihn "die Brutalität um, mit der Russland einen Krieg nicht nur gegen das ukrainische Volk, sondern genauso gegen kulturelle Symbole führt. 'Die ukrainische Sprache reagierte sofort: Sie erinnert sich an die Ereignisse, beschreibt sie - und schafft so eine neue Grundlage für die Erinnerung', sagt er. In der neuen ukrainischen Realität beschäftigt den Autor die Frage, wie der Krieg die Sprache beeinflusst - und immer neue bedeutungsschwere, kämpferische oder subversive Zeichen und Bilder hervorbringt." Er sieht "sein Schreiben im Kontext einer umfassenden Dokumentations- und Erinnerungsarbeit, die auch (aber nicht nur) von Ukrainer:innen geleistet werden sollte."

Außerdem: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Roman Bucheli blättert für die NZZ nach, wie weihnachtsmuffelige Schriftsteller über das Fest der Liebe schrieben. Dirk Knipphals freut sich in der taz über einen Twitter-Account, der täglich einen Satz aus Thomas Manns Tagebüchern bringt: "An manchen Tagen lässt einen das schmunzeln, an anderen erhellt es auch für einen schönen Augenblick das eigene begrenzte Dasein." Dazu passend erinnert Michael Hesse in der FR an eine Weihnachtspassage aus Manns Aufzeichnungen. Gerrit Bartels schreibt im Tagesspiegel darüber, wie Proust in einem Artikel für Le Figaro einmal über das Lesen und Telefonieren nachdachte. Im SWR2-Radioessay erkundet der Übersetzer Hannes Riffel die fantastischen Welten des Comic- und Romanautors Neil Gaiman. Die FAZ dokumentiert Péter Nádas' Dankesrede zur Auszeichnung mit dem Bermann-Literaturpreis. Die FR erinnert außerdem in kurzen Notizen an Weihnachtsszenen in Goethes "Leiden des jungen Werther" und Dylan Thomas' "Weihnachten in meiner Kindheit". Lorenz Jäger wirft wiederum für die FAZ einen Blick auf eine weihnachtliche Passage in Joyce' "Finnegans Wake".

Besprochen werden unter anderem Margaret Atwoods Gedichtband "Innigst" (taz), Willi Winklers "Herbstlicht" (Dlf Kultur), Anna Hogelands "Die Antwort" (Dlf Kultur), Tomas Venclovas Gedichtband "Variation über das Thema Erwachen" (Standard), eine von Thomas M. Müller illustrierte Neuausgabe von Arthur Schnitzlers "Anatol" (online nachgereicht von der FAZ), Yevgenia Belorusets' "Glückliche Fälle" und "Anfang des Krieges" (FR), Ville Rantas Comic "Kajaani - Der Verbannte der Kalevala" (taz) und Thomas Clercs "Interieur" (FAZ).
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Film

Rüdiger Suchsland ist auf Artechock weiterhin sehr unzufrieden mit dem Stand der Dinge in der deutschen Filmkultur: Ohne Rückhalt in der Bevölkerung, viel Ernstelei, Lebensferne, wenig Hunger auf den großen Wurf - oder wenigstens den Versuch eines solchen. "Die mangelnde gesellschaftliche und ästhetische Bedeutung des Kinos hierzulande zeigt sich auch daran, dass es - jedenfalls in Deutschland - keinerlei ästhetische Fantasien entfesselt. Wo gäbe es denn in den letzten 30, 40, 50 Jahren eine vernünftige ästhetische Theorie des Kinos?" Und "was hätten unsere Filmschaffenden über einige der Kunst-Themen des Jahres zu sagen gehabt, etwa über die 'documenta-Debatte', über BDS, über die Zukunft der Kritik? ... Viel und gern wird von unseren 'Filmschaffenden' gerade über 'Feminismus' und 'Diversität' geschwafelt, über 'Postkolonialismus' und 'Nachhaltigkeit', über 'Rassismus' und 'Ökologie'. Aber wo geht das über halbgelesene, viertelverdaute Leitartikel hinaus?"

Außerdem: Jochen Werner arbeitet sich fürs Weird Magazin durch sechs Weihnachtsfilme des ursprünglich mit Horrorfilmen bekannt gewordenen Regisseurs Tibor Takács. In den FR-Notizen zu Weihnachtsszenen erinnert Lisa Berins an Terry Gilliams Groteske "Brazil".

Besprochen werden Jerzy Skolimowskis "EO" (Artechock, critic.de, Filmdienst, mehr dazu hier), Xavier Giannolis Balzac-Verfilmung "Verlorene Illusionen" (critic.de, Filmdienst, Artechock), Florian David Fitz' "Oskars Kleid" (Filmdienst, Artechock), Kasi Lemmons' Biopic "I Wanna Dance With Somebody" über Whitney Houston (ZeitOnline, mehr dazu hier), die Disney-Serie "Mord im Auftrag Gottes" (Welt) und die Netflix-Serie "Ein Sturm zu Weihnachten" (taz).
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Bühne

Außerdem: Im Standard berichtet Sebastian Borger, was die Kürzungen im britischen Kulturbudget unter anderem für die English National Opera bedeuten: "Das renommierte Haus, seit 1968 im Londoner Coliseum-Theater beheimatet, soll statt bisher 12,6 Mio. pro Jahr jetzt lediglich noch eine Zahlung von insgesamt 17 Millionen über drei Jahre erhalten, allerdings nur unter einer Bedingung: dem Umzug in eine andere englische Großstadt."

Besprochen werden John Neumeiers Tanzstück "Dona Nobis Pacem" zu Bachs h-Moll-Messe in Hamburg (NZZ) und die Late-Night-Show "Berlin feiert Ramadan" mit Khida Khodr Ramadan am Berliner Maxim Gorki Theater (Tagesspiegel).
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Musik

Für ihre düstere Berliner Konzertperformance "distempered corpses and distilled winds" hat sich die iranische Komponistin Aida Shirazi bei einem Gedicht Walt Whitmans bedient, schreibt Anna Schors in der taz. Darin geht es um Erneuerung durch Verwesung. Dieser "Prozess klingt nicht angenehm. Quietschend erinnern Streicher, Perkussion, Klarinette, Klavier und Elektronik an den Sound kriechender Termiten und erzählen in kratzenden Glissandi von brennendem Schmerz. Klänge finden sich einen Atemzug lang und verlieren sich sofort wieder. Alles zerfällt, erstirbt und verläuft im Nichts." Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Shirazis Heimatland "wiegen Whitmans Sätze schwerer denn je. Der Schatten der politischen Ereignisse reicht bis ins Berliner Radialsystem. ... Wie eine überreiche Frucht kurz vor dem Platzen erzittert es in intensiven Tremoli und murmelt: 'The resurrection of the wheat appears with pale visage out of its graves.'"

Wer war der Musiker Ahmet Kaya, nach dem das kurdische Kulturzentrum in Paris benannt ist, vor dem gestern Mittag ein mutmaßlicher Rechtsextremist drei Menschen erschossen hat? In der Türkei lässt der Name aufmerken, denn "Kaya war einer der bekanntesten und kommerziell erfolgreichsten Musiker der Türkei des 20. Jahrhunderts", erklärt Deniz Yücel in der Welt. "Mit seinen Songs zwischen politischem Songwritertum, melancholischem Pop und Arabeskschnulzen begann Kaya seine Karriere in den Achtzigerjahren, in jener vom Militärputsch vom September 1980 geprägten Atmosphäre, als hunderttausende in den Foltergefängnissen der Junta verschwanden. ... Ende der Siebzigerjahre hatte er selbst einige Monate in Haft verbracht. Nun wurden Gefängnis, Folter und Hinrichtungen zu seinen wiederkehrenden Themen. Er sang über das Leid und die Enttäuschung einer Generation, die von der Revolution geträumt, dafür einen hohen Preis gezahlt hatte und nun die Erfahrung machen musste, dass sich der Rest der Gesellschaft noch für sie interessierte. Ahmet Kaya wurde zum Sprachrohr dieser Generation, mehr noch: zu einer Art Therapeuten." Ein Best-of-Mix findet sich auf Youtube:



Weitere Artikel: Ljubiša Tošic spricht für den Standard mit Franz Welser-Möst, der das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker dirigiert. Im Tagesspiegel-Kommentar erklärt Christiane Peitz, warum sie Bachs Weihnachtskantaten so liebt: "Weil darin der Himmel der Erde so nah ist."  Nadine Lange vom Tagesspiegel langweilt sich beim Blick in die deutschen Charts und freut sich umso mehr, dass Beyoncé bei so gut wie allen Popkritik-Jahresbestenlisten richtig triumphiert. Thomas Stillbauer erinnert in den FR-Texten zu Weihnachtsszenen an Chris Reas unausstehlichen Dudelfunk-Klassiker "Driving Home for Christmas". In der FAZ gratuliert der Jazzpianist Michael Wollny dem Saxofonisten Heinz Sauer zum 90. Geburtstag. Hier ein gemeinsamer Auftritt der beiden:



Besprochen werden die Box "Divine Symmetry" mit Demo- und Sessionaufnahmen zu David Bowies '71er-Album "Hunky Dory" (die Aufnahmen lassen "auf sympathische Weise ein bisschen die Luft aus dem Geniekult" um Bowie, schreibt Stephanie Grimm in der taz), Brian Enos neues Album "Foreverandevernomore" (FR) und das ukrainische Weihnachtskonzert des Berliner Rundfunkchors (Tsp - hier ein Mitschnitt beim Dlf Kultur).
Archiv: Musik