Efeu - Die Kulturrundschau

Schinkel-Grün und Barcelona-Orange

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.12.2022. Die SZ bewundert das Zusammenspiel von Action und Intellekt in Noah Baumbachs Verfilmung des DeLillo-Romans "Weißes Rauschen". In der taz möchte Kim de l'Horizon mit allen Männern die Schönheit männlicher Körper erdreamen. Der Guardian badet in den Farben der Annie Sloane. Die NZZ erinnert an eine Zeit, als Architektur auf Sperrholz, Dachpappe oder Eternit setzte statt auf Marmor und Edelhölzer. Und: Dirigent Franz Welser-Möst verspricht in der FR unbekannte Strauss-Musik beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. In diesem Sinne wünschen wir allen Lesern einen guten Rutsch ins neue Jahr und viel purple rain to you!
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.12.2022 finden Sie hier

Film

Zurück zum Fernsehen! "Weißes Rauschen" von Noah Baumbach

Noah Baumbachs Verfilmung von Don DeLillos Katastrophenroman "Weißes Rauschen" ist nach einer kurzen Kinoauswertung nun auch auf Netflix gelandet. SZ-Kritiker Fritz Göttler sieht hier keinen mit Bewegtbildern illustrierten Roman vor sich, sondern genuines Kino. "Der Film ist wie eine amerikanische Paraphrase von Godards 'Weekend'. Doch "in Baumbachs Dylarama finden - so artifiziell wie bei Godard - Action und Intellekt zusammen. Der Film löst sich von komplizierten menschlichen Passionen, um uns etwas Elementares, Lautes und Feuriges zu zeigen. Einen wundervoll überbordenden Geist der Unschuld." Aus diversen Ehedramen stolpert der Film in eine Giftgas-Apokalypse: "Das Chaos produziert jedoch keine Helden, nur Leute, die nach Hause wollen, zurück vor ihre Fernseher", schreibt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline. Alles in allem bleibt er allerdings eher unterwältigt - trotz einer "Wahnsinnsszene", in der ein Hitler-Forscher und ein Elvis-Forscher "die Scheinverbindungen ihrer Forschungsgegenstände buchstäblich durchtanzen".

Weitere Artikel: Der Standard spricht mit Léa Seydoux über ihre Rolle in Mia Hansen-Løves Kinodrama "An einem schönen Morgen" (unsere Kritik). In der taz erinnert Tim Caspar Boehme an Robin Hardys heute eher von Spezialisten in guter Erinnerung gehaltenen Horrorfilm "The Wicker Man", der vor 50 Jahren in die Kinos kam und mit dem sich buchstäblich ein Heidenspaß haben lässt. Susan Vahabzadeh fragt sich in der SZ anlässlich von Rian Johnsons Whodunnit "Glass Onion" (unsere Kritik), warum Agatha-Christie-Plots im Kino gerade wieder so populär sind. Hanns-Georg Rodek (Welt) und Joachim Huber (Tagesspiegel) schreiben Nachrufeauf den vor allem aus TV-Krimis bekannten Schauspieler Hans Peter Hallwachs. In den Neunzigern sprach er den Aragorn in der großen Hörspieladaption von Tolkiens "Herr der Ringe", die derzeit in der ARD-Audiothek online steht. Außerdem blickt das critic.de-Team auf die schönsten Film- und Kinomomente 2022 zurück.

Besprochen werden Aron Lehmanns Verfilmung von Mariana Lekys Bestseller "Was man von hier aus sehen kann" (FAZ-Kritiker Bert Rebhandl nimmt sich daraus Anregungen mit, wie man sich den Alltag "mit allerhand exotischen Ideen behübscht") und eine Berliner Ausstellung zu "100 Jahre Nosferatu" (Welt).
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Design

Man kann alles streichen - von der Wand bis zum Lampenschirm. Foto: Annie Sloane


"Als ich die Kunstschule verließ, wurde mir klar, dass mich konzeptionelle Arbeit nicht wirklich glücklich macht. Es war die Farbe, die die Menschen in ihrem Leben am meisten zu brauchen schienen", erklärt die Farbenpionierin und -herstellerin Annie Sloane der heftig zustimmenden Nell Card, die sie für den Guardian in ihrer Wohnung in Oxford besucht hat. Und sie erklärt, warum man praktisch nie zu viel Farbe in einem Raum haben kann: "Im Erdgeschoss wurden zwei getrennte Wohnräume zusammengelegt. An einem Ende hebt sich der kunstvolle Stuck von den grasgrünen Wänden ab (Schinkel Grün, benannt nach dem neoklassizistischen deutschen Architekten Karl Friedrich Schinkel). 'Ich wusste, dass ich hier etwas Starkes und Helles haben wollte', sagt Sloan. 'Es musste eine Farbe sein, die die starken Kunstwerke, die wir haben, tragen kann. Wenn man diese Farben auf etwas zu Neutrales legt, gehen sie einfach unter, also musste es leuchtend, aber nicht heiß sein.' In den Nischen zu beiden Seiten des Kamins wurden Regale in einer Reihe von Farben gestrichen, die 'die Objekte zum Singen bringen'. Am gegenüberliegenden Ende des Raums sind die Wände in einem gedämpften, warmen Grau (French Linen) gehalten, das die ruhigeren Kunstwerke und Objekte in diesem Teil des Raums widerspiegeln soll (obwohl sie einem Sonnenuntergangsstreifen in Barcelona-Orange über der Bilderleiste nicht widerstehen konnte)."

Zum Tod von Vivienne Westwood hatten wir gestern schon einiges zitiert, heute kommen die Nachzügler. "Die britische Mode war ein verfestigtes System in der traditionsorientierten Klassengesellschaft", erinnert Alfons Kaiser in der FAZ an die Zeit, als Westwood den Grundstein ihrer Karriere legte. "Nur eine starke gesellschaftliche Bewegung konnte das aufbrechen." Und "die wirkliche Häresie der Formlosigkeit brauchte einen starken Charakter. Westwood erfand den Bondage-Stil mit Gurten um den Körper und legte mit Frauen in Latex-Anzügen den Verkehr lahm. Sie bedruckte T-Shirts mit nackten Brüsten, mit Anti-Phrasen ('Only Anarchists are Pretty'), mit kombinierten Haken- und Christuskreuzen. Sie garnierte die Hemdchen mit aufgenähten Hühnerknochen, schnitt Minikrawatten aus Leder, die mit Reißverschluss zu öffnen waren, so dass ein Pin-up-Girl herauslugt. Der Hass auf das Establishment sprang aus jedem aufgerissenen Knopfloch. Die Öffentlichkeit staunte über den Furor der Straße." Marlen Hobrack erinnert in der taz an Westwoods schönste Provokationen: Der Queen den nackten Hintern entgegenstrecken, mit einem Panzer auf das Wohnhaus von David Cameron zuhalten - all das hat sie getan. Doch bei aller Lust am grellen Überschwang, "sollte nicht vergessen werden, dass ihr Designerleben beherrscht war von der Faszination für Schneiderhandwerk, insbesondere der Konstruktionsweise klassischer Korsetts, Kostüme und historischer Kleider. ... Auch in den Punk-Looks trat ihre Faszination für die Konstruktion von Kleidung zum Vorschein, buchstäblich sogar. Die Shirts und Hosen zeigen ihre Nähte, tragen ihr Innerstes nach außen; Sicherheitsnadeln werden zum Dekor."

Weitere Nachrufe schreiben Arno Widmann (FR) und Jan Kedves (ZeitMagazin). Der Dlf sprach mit Modehistorikerin Barbara Vinken. NZZ und ZeitMagazin bringen Bilderstrecken.
Archiv: Design

Literatur

Die taz bringt zum Jahresbeschluss einen großen Essay von Kim de l'Horizon über Männlichkeit und Männer. "Ich träume von einer nicht-patriarchalen Männlichkeit, ich hege hier in mein Notizbüchlein kritzelnd die keuschen Träume von einer vergangenen und noch möglichen Männlichkeit, die sich die Liebe erlaubt, die sich Gewalt verbietet. Eine Männlichkeit, die sich nicht durch Angst in diese Welt bringt. Eine Männlichkeit, die wir lieben können, ohne sie verherrlichen zu müssen. ...  Ich will euch eure Männlichkeit nicht rauben. Ich will mit euch die Möglichkeit männlicher Körper imaginieren, die nicht im WettKampf mit anderen Körpern stehen. Ich möchte mit euch die Schönheit männlicher Körper erdreamen, die ihre Scham vor dem Wörtchen Liebe lauthals hinaus kichern, statt sie auf andere zu projizieren. Die die juvenilen Garderobenregeln brechen. ... Und ich will euch für eure Geschlechtlichkeit wertschätzen können. Dafür, dass ihr ein Geschlechterstrauß unter vielen seid. Und nicht das Beste sein müsst. Weil, let's be honest: An Prince kommt niemensch ran. Viel purple rain to you."



Pünktlich zum Ende der ausgedehnten Proust-Festspiele vom 150. Geburtstag des Schriftstellers im Juli 2021 bis zum hundertsten Todestag im November 2022 hat auch Stéphane Heuet seine kursorische Comicadaption der "Recherche" abgeschlossen. Ein ganzes Vierteljahrhundert hat der französische Comiczeichner dafür gebraucht. In der FAZ erzählt Andreas Platthaus von Heuets Problemen bei diesem Unterfangen, bei dem irgendwann die mutmaßliche Rest-Lebenszeit und der Umfang des zugrunde liegenden Werkes gegeneinander abgewogen werden mussten: "Warum sich also nicht bei der Comicadaption an das halten, was Proust nie infrage gestellt hat: die Teile eins, zwei und sieben? ... Lange genug ist er täglich früh ans Zeichenbrett gegangen. Also auch ein Torso? Ja, und doch einer, der Literaturgeschichte geschrieben hat: Auf keinen anderen Roman ist eine derartige Adaptionsmühe verwendet worden."

Weitere Artikel: In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Paul Jandl erzählt in der NZZ die Lebensgeschichte des Schriftstellers Jaroslav Hašek und erinnert an dessen berühmteste Figur, den braven Soldaten Švejk. Die taz druckt eine bislang unveröffentlichte Geschichte des Schriftstellers Wolfgang Welt, der heute 70 Jahre alt geworden wäre. Sonja Hartl und Thomas Wörtche blicken im Podcast "Abweichendes Verhalten" aufs Krimijahr 2022 zurück. Und die SZ bringt das literarische Neujahrsrätsel von Burkhard Müller.

Besprochen werden unter anderem neue Romane von Cormac McCarthy (FR), die französische Erstausgabe von Louis-Ferdinand Célines Nachlassroman "Londres" (FAZ), Lili Grüns "Alles ist Jazz" (taz), Tatsuo Horis Novelle "Der Wind erhebt sich" (online nachgereicht von der FAZ), Yonatan Sagivs Krimi "Der letzte Schrei" (taz), Grégory Pierrots "Dekolonisiert den Hipster" (Jungle World) und Lukas Hartmanns "Ins Unbekannte" (FAZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Das Kirchner-Museum in Davos von Gigon/Guyer wurde 1992 eröffnet


In der NZZ feiert Hubertus Adam die Museumsbauten der drei Schweizer Architekturbüros Peter Märkli, Herzog & de Meuron und Gigon/Guyer. Vor allem letztere haben 1992 mit ihrem Kirchner-Museum in Davos das moderne, nicht hierarchisch aufgebaute Museum geprägt, meint er: "Vier rechteckige, miteinander nicht verbundene Ausstellungssäle werden über ein gemeinsames Foyer erschlossen. Sichtbeton an Boden, Decken und Wänden bestimmt zusammen mit den großflächigen Verglasungen, die Ausblicke auf Davos und die Hochgebirgslandschaft freigeben, das Foyer; Parkett, weiße Wände und gläserne Lichtdecken prägen die Museumssäle. ... Revolutionär mutet das Museum" den Kritiker auch an, weil die Wärmedämmung hinter der gläsernen Hülle sichtbar ist. "Die in Kassetten verpackten Wärmedämmelemente scheinen durch die gläserne Fassadenhaut hindurch und bilden eine schimmernde horizontale Struktur in Kontrast zum vertikalen Raster der Glasplatten. Auch an diesem Detail zeigt sich, in welchem Maße die Schweizer Architektur seinerzeit einen Gegenpol zur Form- und Materialwelt des postmodernen Museumsbaus darstellte. Einfache, selbstverständliche, alltägliche Werkstoffe rückten im hiesigen Bauschaffen - und im architektonischen Vokabular - verstärkt in den Vordergrund, wie unter anderem das Frühwerk von Herzog & de Meuron beweist. Sperrholz, Dachpappe oder Eternit wurden nicht mehr als minderwertige Baustoffe bewertet, sondern bewusst gegenüber massiveren, edleren und als dauerhafter konnotierten Materialien bevorzugt und damit nobilitiert."

Den Nachruf auf den Architekten Arata Isozaki (siehe auch unser efeu von gestern) schreibt heute Gerhard Matzig in der SZ.
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Bühne

Besprochen wird Anne Lenks Inszenierung von Michael Frayns "Der nackte Wahnsinn" in Hannover (FAZ).
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Kunst

Wiebke Siem. Das maximale Minimum. Ausstellungsansicht im Museum der Moderne in Salzburg. Foto: Rainer Iglar


Fast wie bei einem Hausbesuch fühlt sich Standard-Kritikerin Ivona Jelcic in Wiebke Siems Schau "Das maximale Minimum" im Salzburger Museum der Moderne. "Bei dem freilich einiges aus den Fugen gerät. Vor allem das mit der Vorstellung vom trauten Heim verknüpfte Bild von der braven Hausfrau. Weibliche Rollenbilder hat die 1954 in Kiel geborene Künstlerin auch im Visier, wenn sie Alltagsgegenstände wie Kleidung, Spielzeug, Hüte, Taschen oder Kochlöffel in überdimensionierte Objekte übersetzt oder einen monströsen Teppichklopfer aus Kautschuk in den Treppenaufgang des Museums hängt. Keineswegs eindimensional Es ist, als würden die Dinge ein subversives Eigenleben entwickeln, was für eine Weibliche Skulptur eher schlecht ausgeht: Sie hat sich hoffnungslos in einer Singer-Nähmaschine verfangen."

Außerdem: Ekkehard Maaß schreibt in der Berliner Zeitung zum Tod des Malers Eberhard Göschel.
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Musik

In der FR spricht Markus Thiel mit Franz Welser-Möst, der morgen das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker dirigiert. Dafür greift er hauptsächlich auf Stücke zurück, die zu diesem Anlass noch nie gespielt wurden. In der Pandemie "hatte ich wie alle viel Zeit und immer wieder geschmökert. Ständig habe ich mir notiert: 'Dies ist ein tolles Stück, das sollte man spielen...' Als die Einladung für mein drittes Neujahrskonzert kam, habe ich mir aus dem philharmonischen Archiv ausdrucken lassen, was bis jetzt gespielt wurde. Da bin ich draufgekommen: Viele dieser Stücke, die ich mir notiert hatte, waren noch nie beim Neujahrskonzert zu erleben. Schauen Sie sich doch unseren Musikbetrieb insgesamt an: Was wurde in den vergangenen 30 Jahren alles an Barock-Opern entdeckt! Warum sollte man also nicht einmal zeigen, wie viel wunderbare Musik es noch aus der Strauß-Dynastie gibt und die kein Mensch in den vergangenen hundert Jahren gehört hat?" Das Konzert wird am morgigen Vormittag live im ZDF übertragen und steht dort für Spätaufsteher ab 15 Uhr als Video zur Verfügung.

Besprochen werden eines der von Kiril Petrenko dirigierten Silvesterkonzerte der Berliner Philharmoniker mit Jonas Kaufmann (Tsp), ein Brahms-Konzert der Wiener Symphoniker unter Pablo Heras-Casado (Standard), ein Auftritt von Pussy Riot in Berlin (taz), Claus-Steffen Mahnkopfs Buch "'Die Kunst des Komponierens'. Wie Musik entsteht" (FAZ) und Little Simz neues Album "No Thank You" ("Dampf ablassen mit guter schlechter Laune", meint Christian Schachinger im Standard).

Archiv: Musik