Efeu - Die Kulturrundschau

Das Klavier wird zum Anstifter

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09.01.2023. Auf ZeitOnline opponiert der Literaturwissenschaftler Peter Brooks gegen die Storifizierung der Realität. Die FAS lässt sich von Grigory Semenchuk die Liebe der jungen Ukrainer zur Lyrik erklären. Der Standard rollt die Augen über die bäuerlichen Idyllen, die jetzt in Warschaus Kunstgalerie Zachęta gezeigt werden. Nachtkritik und Berliner Zeitung erleben mit Showcase Beat Le Mot Schönheit und Dramatik des Fallens. Die Berliner Zeitung hängt für Daniel Barenboim und Martha Argerich die Decke hoch.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.01.2023 finden Sie hier

Literatur

Wir sehen die Welt vor lauter Narrativen nicht mehr, warnt der Literaturwissenschaftler Peter Brooks im ZeitOnline-Gespräch. Selbst banalste Alltagsware aus dem Supermarkt belästigt einen heute mit der Geschichte der Unternehmen dahinter, lautet sein Befund. "Es gibt eine Storifizierung der Realität und keine andere Art von Diskurs scheint es überhaupt noch wert, angewandt zu werden. Es gab mal so etwas wie politische Redekunst, Rhetorik, die hier an Highschools gelehrt wurde. Heute geht es nur noch darum, eine Geschichte zu erzählen. ... Wir verlieren einen Sinn für die Fiktionalität von Fiktion. Das ist einer der Gründe, warum ich mich zu Beispiel sehr für Kinderspiele interessiere. Kinder können total in eine Welt des Als-ob eintauchen, sie sind dann in der Lage, neue immer Gegenstände oder ihre Freunde in diese zu integrieren, und verstehen gleichzeitig, dass das nicht die Realität ist. Und es ist wichtig, dass wir das als Erwachsene nicht verlernen."

Für die FAS porträtiert Anna Prizkau den ukrainischen, in Lwiw leben Lyriker Grigory Semenchuk. Wenn er "seine Gedichte rezitiert, dann ist da nichts, das Menschen zu erlösen verspricht. Seine Gedichte - immer nüchtern, klar - täuschen nichts vor, betrügen deshalb nicht. Ordnen aber das Leben und die Welt. ...  Nicht nur in der Celan-Stadt, nicht nur in dieser Lesung Semenchuks, in vielen anderen Städten in der Ukraine, in vielen anderen Lesungen der jungen und halbjungen ukrainischen Poeten und Poetinnen sind die, die ihnen zuhören, fast noch Kinder. Aber warum? Warum verlieben sich ausgerechnet die Jungen in der Ukraine in die Lyrik? 'Vielleicht können die Jungen leichter an einen Dichter glauben als an einen Politiker, an einen Bürokraten. Und Lyrik ist ja Rebellion, ist Provokation und ist Protest.'"

In einem literarischen Essay für den Standard umkreist die Schriftstellerin Julya Rabinowich eine ernsthafte Erkrankung, die sie (dem letzten Absatz nach zu schließen) offenbar überstanden hat. "Es geschieht in dir. Es geschieht vielleicht so behutsam, dass du nicht weißt, wann es begonnen hat zu geschehen. Aber du wirst wissen, wann es so lange geschehen ist, dass man es finden kann. Auf Röntgenbildern. Im Blut. Im hämmernden Rhythmus bildgebender Maschinen. ... Deine Welt schrumpft um dich herum, läuft ein wie ein Wollkleid, das man zu heiß gewaschen hat, wird puppenhaft, zwingt dich zur Verpuppung. ... Du lässt so vieles ziehen. Manchmal fühlt dieses Ziehenlassen sich an wie ein unmerkliches Ausrinnen. War es das? Diese Frage verkneifst du dir, sie sucht dich manchmal in der Dunkelheit heim. Wie wird es sein - so dunkel wie jetzt, nur dass kein Lichtschalter mehr umzulegen ist?"

Der Schriftsteller Artur Becker erzählt in der FR von seiner Reise nach Japan, ein in Erfüllung gegangener Traum aus seiner kinobegeisterten Jugend - im Gepäck hatte er auch Mishimas "Der Goldene Pavillon". Im Friedenspark in Hiroshima wurde Becker demütig: Hier "steht auch ein Fragment einer Bankmauer und -treppe - der auf der Treppe abgebildete Schatten des Menschen, der bei den höllischen Temperaturen verdampft ist, spricht mit uns und erzählt vom Leid der Opfer, von der menschlichen Dummheit und den technischen Möglichkeiten, die wir für die totale Zerstörung missbrauchen. Vor dem sprechenden Schatten auf der Treppe stehend, musste ich auch daran denken, dass Putin und seine Offiziere und Militärexperten, die den Einsatz der taktischen Atomwaffen in der Ukraine diskutieren, Hiroshima vermutlich nie besuchen werden."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Für die FAZ porträtiert Eva Ladipo den früheren Journalisten und heutigen Ghostwriter JR Moehringer, der seine oft verfemte Zunft derzeit entschieden aufwertet - und auch von der New York Times bereits gefeiert wird. In Berlin las Katharina Thalbach aus "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" von Gabriele Tergit, berichtet Peter Laudenbach in der SZ.

Besprochen werden unter anderem Aroa Moreno Duráns "Die Tochter des Kommunisten" (taz), Arno Geigers "Das glückliche Geheimnis" (Zeit, online nachgereicht aus der FAZ), Gusel Jachinas "Wo vielleicht das Leben wartet" (FR), Witold Gombrowiczs "Pornographie" (Standard), Bettina Obrechts und Julie Völks Bilderbuch "Wie anders ist alt" (online nachgereicht von der FAZ) und Jordan Cranes Comic "Zwei bleiben" (Freitag).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Gisela Trahms über Monika Rincks "am ersten tag des jahres":

"sagte sie: man mag es hier, das meer, man schätzt es.
obwohl man alles reinkippt, laufen lässt, nicht wahr,
..."
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Kunst

Tadeusz Kulisiewicz: Pejzaż ze Szlembarku, 1963. Bild: Zachęta

Jetzt hat auch Polen PiS-Regierung auch der Warschauer Kunstgalerie Zachęta einen neuen Direktor verpasst, den linientreuen Janusz Janowski, und Standard-Kritikerin Herwig G. Höller bekommt in einer ersten Ausstellung prompt Harmlos-Hübsches aus den Beskiden präsentiert. Dabei sei der von Janowski protegierte Künstler Tadeusz Kulisiewicz ein kommunistischer Staatskünstler gewesen: "Während der Zachęta-Direktor zumindest in diesem ersten Projekt auf einen apolitischen Konservativismus setzt, bleibt sein Gegenüber im bereits zuvor gewendeten Zentrum für zeitgenössische Kunst Schloss Ujazdowski in Warschau seinem deutlich radikaleren Ruf treu. So präsentierte der 2020 ebenso von Kulturminister Gliński ernannte Ujazdowski-Chef Piotr Bernatowicz im vergangenen Sommer das umstrittene Projekt The Influencing Machine des US-amerikanischen Kurators Aaron Moulton, der das zu Beginn der Neunziger von US-Milliardär George Soros gegründete Netzwerk von osteuropäischen Zentren für zeitgenössische Kunst als 'Zwang durch Philanthropie' und Werkzeug für liberale Propaganda entlarvt haben will."

Weiteres: Im Tagesspiegel erzählt Rolf Brockschmidt, wie Oxford-Archäologen eine Kopie des Parthenon-Frieses erstellen.

Besprochen werden die Ausstellung "Neues Licht aus Pompeji" in der Münchner Antikensammlung (die taz-Rezensentin Annegret Erhard "ein Kaleidoskop des Luxus und der Moden spätrömischer Dekadenz" bot), Reinhard Muchas Großinstallation "Kasse beim Fahrer 0.2" in der Berliner Galerie Sprüth Magers (taz), die große Guido-Reni-Schau im Frankfurter Städel (NZZ), die Etel-Adnan-Retrospektive im Münchner Lenbachhaus (Standard).
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Bühne

Caption

Erstklassige Dingforschung erlebt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung bei der Performance "1000 Falling Things", mit der die Postdramatiker von Showcase Beat Le Mot im HAU tatsächlich tausend Dinge vom Schnürboden krachen lassen, wie Meierhenrich frohlockt, einen Scheinwerfer etwa oder ein menschliches Skelett: "Viele Worte werden dabei nie gebraucht, dafür aber das Denken angeregt, wie sonst kaum wo. '1000 Falling Things' nun legt in seinen tausend Minidramen so einfach wie logistisch komplex nicht nur die Dramatik des Fallens frei, seine Brutalität, Schönheit, den Witz im ständigen Kampf mit dem Zufall. Sehr bald erweist sich dieser Zufall auch als höchst manipuliert. Was fällt wirklich von allein? Es gibt Dinge, die wunderbar vielgestaltig in Bewegung geraten und immer neue Zusammenhänge bilden können und Dinge, die schon als Müll produziert nur dumpf zu Boden schlagen." Helle Freude auch bei Nachtkritikerin Sarah Kailuweit: "Es ist eine ausgesprochen hübsche Performance - eben, weil sie sich nicht um ihre Einfachheit schert, sondern eben nur die simple Schönheit, Dinge fallen zu sehen strahlen lässt."

Besprochen werden Anne Leppers neues Stück "Life Can Be So Nice" am Schauspiel Stuttgart (Nachtkritik), Katharina Thalbachs Lesung von Gabriele Tergits Roman "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" am Berliner Ensemble (SZ) und Eugene O'Neills Drama "Eines langen Tages Reise in die Nacht" am Berliner Schlossparktheater (Tsp, Nachtkritik, FAZ).
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Film

Wer im ersten Monat des Jahres einem aktuellen Trend folgend abstinent lebt ("Dry January"), sollte sich vielleicht mal Billy Wilders "Das verlorene Wochenende" ansehen, rät Jan Küveler in der Welt. In seiner Serienkolumne für die Zeit erinnert Matthias Kalle an "24". Besprochen wird Guy Ritchies "Operation Fortune" (SZ).
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Musik

Unmittelbar nach seiner Ankündigung, sich zum Ende des Monats von seinem Posten als Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper zurückzuziehen, dirigierte Daniel Barenboim ein Schumann- und Brahms-Konzert der Berliner Philharmoniker mit Martha Argerich (nachzuhören bei Dlf Kultur). Der mit stehenden Ovationen beschlossene Abend markierte den "Anfang des neuen Barenboim", ist sich Michael Maier in der Berliner Zeitung sicher. Denn "Barenboim kann sich selbst neu erfinden, das hat er jahrzehntelang bewiesen. Auch deswegen ist das Leben des Musikers eine große Ermutigung: Ein Bruch - na und? Wie hoch darf die nächste Decke sein?"

Dieser Abend war eine "Herzenssache". schreibt Eleonore Büning im Tagesspiegel. Kaum geht es los, wirken Argerich und Barenboim "nicht mehr zerbrechlich. Sind nicht mehr achtzig und einundachtzigeinhalb, sondern jung und wild. ... Das Klavier wird zum Anstifter, verteilt Licht und Schatten, taucht tief ein ins Orchester und bricht dann wieder aus zu neuen Gesängen, jeweils im Dialog mit einzelnen Instrumenten. Wie ein Axthieb der erste dominantische Orchesterschlag, wie ein Sturzbach die Eröffnungskaskade des Klaviers. Halsbrecherisch scharf die Kontraste, bis zum Zerreißen gespannt die Agogik der exzessiven Klangrede, mit der Argerich ihren Part durchgestaltet, in totaler Freiheit: Da ist Leben drin! Die Philharmoniker, zumal die blitzsauberen philharmonischen Holzbläser-Solisten, halten traumhaft mit."

Da mit neuen Konzerten von Keith Jarrett aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr zu rechnen ist, tröstet sich FAZ-Kritiker Wolfgang Sandner mit dem "Bordeaux Concert" aus dem Jahr 2016, eben erschienen bei ECM. Es ist das mittlerweile das dritte auf Konserve vorliegende Konzert seiner damaligen Europatour - doch jede Aufnahme ist anders. "Wie Jarrett mit einem wie zufällig aufgegriffenen Motiv, einem Gedankensplitter oder auch nur einem Ton arbeitet, wie er Zusammenhänge kreiert, logische und zugleich unerwartete Schlüsse zieht, wie er monumentale Klanggebäude entwirft und mit einer einzigen harmonischen Wendung wie ein musikalisches Kartenhaus zusammenfallen lässt, das ist immer wieder überraschend, originell und gerade so, als hätte man etwas Derartiges noch nie gehört."



Weitere Artikel: In der FAZ spricht Bariton Christian Gerhaher über Felix Mendelssohn Bartholdys "Elias"-Oratorium. Konstantin Nowotny trauert im Freitag um das Format des Greatest-Hits-Albums, das mit Spotify-Playlisten hinfällig geworden ist. Und das Machtdose-Blog reicht seine Lieblingsplatten des Jahres 2022 nach.
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