Efeu - Die Kulturrundschau

Prequel zur Gegenwart

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11.01.2023. Monopol erinnert an die Vision Oscar Niemeyers, der Brasilias Regierungsbauten Offenheit und Freiheit einbaute.  Beklommen nehmen FAZ und SZ zu Ali Abbasis Film "Holy Spider" auf: Er erzählt von einem Serienmörder, der im Namen Allahs 16 Frauen ermordete. Die FAZ berichtet, dass Hito Steyerl lieber den Hugo-Ball-Preis lieber nicht feierlich verliehen bekommen möchte, sondern diskutieren. SZ und NZZ trauern um den Dichter Charles Simic, der selbst durch Ruinen und Brandmauern mit sanfter Ironie flanierte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.01.2023 finden Sie hier

Film

Zar Amir Ebrahimi in "Holy Spider"

In "Holy Spider" erzählt der in Dänemark lebende, iranische Regisseur Ali Abbasi von einem Serienmörder, der in Iran vor zwanzig Jahren im Namen Allahs 16 Frauen umgebracht hat - allesamt Prostituierte. Doch in seinem Thriller "geht es weniger um einen einzelnen Mörder als um die Gesellschaft, in der er zum Mörder wurde", schreibt Johanna Adorján in der SZ, und damit um eine "patriarchale Gesellschaft, die in ihrem Innersten zusammengehalten wird von Misogynie und Religion. Man kann gar nicht anders, als diesen Film in Bezug dazu zu sehen, was seit dem 16. September im Iran geschieht."

Der Film wurde in Cannes ausgezeichnet - sah sich dort aber auch Vorwürfen teils exzessiver Gewaltdarstellung ausgesetzt. "Tatsächlich ist die Gewalt in dieser Geschichte allgegenwärtig", schreibt Andreas Kilb in der FAZ, "in den Beziehungen zwischen den Prostituierten und ihren Kunden, in den Blicken der Männer auf Arezu, in den von Drogensucht geprägten Armenvierteln von Maschhad. Der Mörder selbst ist durch jahrelangen Fronteinsatz im Krieg zwischen Iran und Irak traumatisiert." Von daher wäre "den Anblick seiner Taten auszublenden ästhetisch inkonsequent. Die Frage ist, was das für einen Film bedeutet, der nicht nur ein Krimi sein will, sondern auch ein Gesellschaftsporträt. ... 'Holy Spider' bemüht sich sehr darum, kein Genrefilm zu sein. Abbasi will vielmehr die Wirklichkeit Irans aus einem Abstand von zwanzig Jahren rekonstruieren und zugleich heutigen Erzählweisen gefügig machen, und es ist diese doppelte Anstrengung, an der er sich am Ende verhebt."

Außerdem: In der Nacht hat Steven Spielbergs "The Fabelmans" bei den Golden Globes abgeräumt - hier alle Preisvergaben im Überblick. Im Vorfeld der Verleihung hatte Valerie Dirk gestern im Standard darüber geschrieben, was sich bei den zuletzt sehr skandalgeschüttelten Globes alles geändert hat. Fabian Tietke empfiehlt in der taz die Reihe "Roads not Taken" im Berliner Zeughauskino.

Besprochen werden Nicolas Winding Refns Netflix-Serie "Copenhagen Cowboys" (ZeitOnline) und Adrian Goigingers surrealer Kriegsfilm "Der Fuchs" (Standard).
Archiv: Film

Literatur

Trauer um den einst aus Belgrad über Frankreich in die USA ausgewanderten Dichter Charles Simic, der vorgestern gestorben ist. Der "Riss zwischen den Kulturen", der Simics Biografie bestimmte, prägte auch dessen Werk, schreibt Michael Krüger in der NZZ: "Simic hat ihn in seinen Gedichten mit Staunen und Verwunderung dargestellt. Die damals noch existierenden Brandmauern, die Kaschemmen, die Jazz-Kneipen, die Hinterhöfe, die Penner, die Ausgestoßenen und von Gott Verlassenen, die jedem Prediger auf den Leim gehen, dieses New York hat den rastlosen (und unter Schlaflosigkeit leidenden) Flaneur geprägt." Er "war ein fröhlicher, konkreter, unfeierlicher Dichter", schreibt Paul Ingendaay in der FAZ. Doch "in der Rumpelkammer dieses Dichterlebens war alles gefüllt mit Kriegserinnerungen, Ruinen und Bombenlärm, auch sie in der klassischen Simic-Mischung aus Groteske und Intimität, ein endloser Bildervorrat und Nährstoff für Dutzende Bücher. ... Seine Lyrik ist ein Aufsammeln des Gefundenen, ein Herumbosseln mit missachteten oder weggeworfenen Gegenständen, ein Improvisieren mit Tonlagen zwischen Kneipenlärm, Drehorgel und Kirchenchoral, dazwischen das Blubbern des Wassers im Kochtopf."

Simic "baute auf eine sanfte Ironie und klare Bilder", hält Nico Bleutge in der SZ fest. "Trotz seiner Hinwendung zur Welt wollte er dem Gedicht eine metaphysische Perspektive erhalten. Sein Trick: die kleinen Momente des Alltags nicht nur benennen, sondern in ihnen auch ein Geheimnis entdecken. Ob es die eigene Hand ist oder ein einfacher Stuhl - an solchen Kleinigkeiten entzündet sich die poetische Imagination, die jedes Phänomen aufladen kann. So wusste er sogar ein paar Küchenschaben eine existenzielle Offenbarung zu entlocken: 'Dann, gar nichts mehr ... / Sind sie weitergezogen, / Tiefer in der Wand / Oder vielleicht in meinem Kopf?'"

Weitere Artikel: In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Besprochen werden unter anderem Christian Meyers "Flecken" (taz), Prinz Harrys Autobiografie (Welt, FAZ) und Peter Rühmkorfs gesammelte Werke (SZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Oscar Niemeyers Kongressgebäude von Brasilia. Foto: Eurico Zimbres/Wikimedia, CC BY-SA 2.5

Mit ihrer Randale in den Regierungsbauten von Brasilia haben die Anhänger Jair Bolsonaros auch die Ideen ihres visionären Architekten Oscar Niemeyer pervertiert, klagt Sebastian Frenzel in Monopol: Freiheit und Offenheit. "Niemeyer, der 2012 im Alter von 104 Jahren starb, wollte mit seiner Architektur nicht weniger als die Welt verändern - 'Die Architektur ist nur ein Vorwand. Wichtig sind das Leben und der Mensch!', sagte der überzeugte Kommunist einmal. Seine futuristische und plastische Formensprache für die brasilianischen Hauptstadt drückt Zukunftsoptimismus und Lebensfreude aus; die kurvenreichen, weichen Konturen des Präsidentenpalastes oder des Parlamentsgebäudes sind das ästhetische Gegenprogramm zur Härte autoritärer Regime."

Wer die minimalistische Moderne lieber schauerlich findet, dem empfiehlt Rowan Moore im Guardian die Ausstellung "Horror in den Modernist Block" in der Ikon Gallery in Birmingham.
Archiv: Architektur

Kunst

Hito Steyerl ist zusammen mit der Schriftstellerin Olivia Wenzel mit dem Hugo-Ball-Preis der Stadt Pirmasens ausgezeichnet worden, die Preisverleihung hat die Künstlerin allerdings abgesagt - nach Lektüre von Balls Schrift "Zur Kritik der deutschen Intelligenz", wie Nicola Behrmann in der FAZ berichtet. Und sie erklärt: "Bereits in der Vorrede verkündet Ball, er wolle 'eine Konspiration der protestantischen mit der jüdischen Theologie (seit Luther) und eine Konspiration beider mit dem preußischen Gewaltstaat (seit Hegel)' aufzeigen, die nichts weniger als 'die Unterwerfung Europas und der Weltherrschaft' und 'die universale Zerstörung von Religion und Moral' zum Ziel gehabt hätten. Gewidmet ist die 'Kritik' den 'Führern' einer nicht näher bestimmten 'moralischen Revolution', während jüdische Intellektuelle wie Heine, Marx, Lassalle, Hermann Cohen und Walter Rathenau von Ball pauschal als 'Adoptivprotestanten aus materialistischer Wahlverwandtschaft' heraus denunziert werden." Statt der feierlichen Verleihung ist jetzt eine Diskussion angesetzt

Weitere Artikel: Ingeborg Ruthe freut sich in der FR, dass die beiden Kunstsammler Paul Maenz und Gerd de Vries 750 wertvolle Werke auf Papier dem Berliner Kupferstichkabinett überlassen, und das ganz ohne anmaßende Forderungen mit der Schenkung zu verbinden. In der FAZ weist Leonhard Horowski darauf hin, dass nicht alle Stücke des in Dresden geraubten Juwelenschatzes zurückgegeben werden, zum Beispiel die Große Brustschleife der Amalie Auguste.

Besprochen werden die Ausstellung "Femme fatale" in der Hamburger Kunsthalle, die männlichen Blick, Macht und Gender unter die Lupe nimmt (Tsp) und John Willheims Fotoband "War of Whispers" (der taz-Kritiker  Jochen Becker zufolge den geheimen Krieg der CIA in Laos ziemlich ästhetisch dokumentiert).
Archiv: Kunst

Musik

Am deutschen Krimifilm "Der Würger vom Tower", entstanden 1966 im Fahrwasser der Wallace-Welle, hat tazler Benjamin Moldenhauer zwar nicht unbedingt überwältigend große Freude. Umso mehr Spaß hat er aber am Soundtrack, der nun erstmals auf Vinyl vorliegt. Die Musik stammt vom Schweizer Bruno Spoerri, der in den Jahren danach durchaus für Experimente bekannt wurde und auch mal das Zurich Jazz Festival leitete. Das Publikum bekommt auf diesem Album nun "neben dem sleazigen Swing, bewusst infantile Kinderorgelmelodien, Gruselchöre und ekstatische Percussion vorgesetzt. ... Am Stück gehört, hat Spoerris Filmmusik durchaus psychedelische Qualitäten, klingt aber zugleich staubtrocken, kalkuliert und latent trashig. Und trifft damit den Geist des Films sehr genau. Das Leitthema wiederum ist mit seiner Gitarrenmelodie und einem wunderschönen Saxofon-Solo Spoerris schlicht toller Jazz. Es fällt auf, wie viel gestalterische Intelligenz beim Soundtrack aufgewendet wurde und wie wenig für die Bilder."



Außerdem: Die Berliner Philharmoniker kehren ab 2026 zu den Salzburger Osterfestspielen zurück, meldet Manuel Brug in der Welt. Reichlich widersprüchlich, aber irgendwie auch rührend findet Karl Fluch im Standard, dass Johnny Rotten mit seiner Band PiL beim Eurovision-Contest für Irland teilnehmen will - mit dem Lied "Hawaii", das er für seine an Alzheimer erkrankte, von ihm gepflegte Frau geschrieben hat.



Besprochen werden ein Konzert der Wiener Symphoniker unter Pablo Heras-Casado (Standard), ein Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters unter Stéphane Denève mit der Solistin Nicola Benedetti (Tsp) und das neue Album von Iggy Pop, auf dem er zu seinen Punkwurzeln zurückkehrt (NZZ). Hier das etwas wavigere Stück "Strung Out Johnny":

Archiv: Musik