Efeu - Die Kulturrundschau

Rendezvous von Arbeitsproben

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.01.2023. SZ, FAZ und taz beobachten in der Doku "Das Hamlet-Syndrom" beeindruckt, wie es fünf ukrainische Schauspieler fast zerreißt, die im letzten Sommer vor dem russischen Einmarsch "Hamlet" proben. Die FAZ badet in Kopenhagen im Venezianischrot von Matisses "L'Atelier rouge". Die taz freut sich über Blumen auf dem Tarnmuster des ukrainischen Designers Jean Gritsfeld. Im Dlf Kultur spricht die ukrainische Autorin Victoria Belim über die Sowjetnostalgie in ihrer Familie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.01.2023 finden Sie hier

Film

Konflikte auf der Bühne: "Das Hamlet-Syndrom"

Elwira Niewieras und Piotr Rosołowskis Dokumentarfilm "Das Hamlet-Syndrom" wirft einen Blick zurück auf den Sommer 2021 in der Ukraine, genauer: auf fünf junge Menschen der Generation "Maidan", die eine Aufführung von "Hamlet" proben, um sich mit der Inszenierung auch ein Stück weit über sich selbst im Klaren zu werden. Es ist der letzte Sommer vor dem russischen Einmarsch. "Auf der Theaterbühne stellen die jungen Menschen Fragen, die sonst nicht gestellt werden", schreibt Nicolas Freund in der SZ: "Was ist das, ein Krieg? Ein Körper? Was ist überhaupt die Ukraine? ... . Sie versuchen zu verstehen, was los ist in ihrem Land, das es zu zerreißen droht zwischen Russland und Europa, zwischen der alten Generation, die noch die Sowjetzeit kennt, und den Jüngeren, die vom Westen träumen und doch etwas eigenes sein möchten, weil sie wissen, dass Europa für sie am Ende auch nur der Gegenentwurf zur Sowjetunion ist. Man spürt die Enge und die Angst, wenn diese jungen Menschen vor der Kamera und auf der Bühne versuchen, einen Ausdruck für das zu finden, was ihnen geschehen ist und was in ihnen vorgeht." Entsprechend "vermittelt der Film mit großen Bildern das Gefühl einer Ohnmacht, eines Schreckens", schreibt Anna Flörchinger in der FAZ. "Zwar spielt der Film größtenteils auf der Bühne dieses kleinen Theaters in Kiew, aber immer wieder gibt es starke Einblendungen: Von den Protesten auf dem Euromaidan 2013 und 2014, von der Gefangennahme eines Protagonisten, von Kiew, von der Lebenswelt der jungen Menschen, emotionalen Gesprächen mit ihren Eltern."

Der Film handelt auch von schweren Konflikten innerhalb der Theatergruppe, sagt Piotr Rosołowski im taz-Gespräch: "Manche Konflikte waren fast schon vorprogrammiert. Die Bühnensituation bot aber den verschiedenen Sichtweisen Platz und ermöglichte eine Konfliktbewältigung. Das beste Beispiel: Rodion, LGBTQ-angehörig, aus Donezk und Slavik, der in der Armee gekämpft hat. So unterschiedlich die beiden sind - auf der Bühne werden sie zu Freunden. Oder auch die Schauspielerin Oxana. Sie ist in der Ukraine bekannt für ihr kritisches Theater. Bei ihren Aussagen kam es zu großen Konflikten in der Gruppe. Was sich aber gesellschaftlich schwierig darstellt, ist auf der Bühne möglich: bei allen Unterschieden auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen."

Ein offener Brief verteidigt Marie Kreutzers "Corsage" (unsere Kritik) mit einem offenen Brief gegen Gerüchte, dass die pädosexuellen Neigungen des Darstellers Florian Teichtmeister in der Filmszene bereits seit längerem bekannt gewesen und vertuscht worden seien. Den Film aus den Kinos zu nehmen, gewähre einem Täter "Macht" über einen "feministischen Film", der ja gerade dazu beitrage, sich mit bestehenden Strukturen kritisch auseinanderzusetzen. Simon Strauß findet diese Initiative im FAZ-Kommentar eher ärgerlich: "Der Feminismus als letztes Bollwerk gegen die Cancel-Welle? Ein Sisi-Film als Aufklärungsmittel gegen Kinderpornografie? So ganz traut man dem unter anderem von Elfriede Jelinek, Arno Geiger und Eva Menasse gezeichneten Brief nicht - ganz unabhängig davon, ob man einer Ächtung des Films zustimmen mag oder nicht."

Hanns-Georg Rodek ärgert sich in der Welt immer noch darüber, dass Chantal Akermans "Jeanne Dielman" nach der jüngsten Filmkritiker-Umfrage von Sight & Sound zum besten Film gekürt wurde. Zwar hat er für seine Vermutung "keine belastbaren  Beweise", doch könnte er sich gut vorstellen, dass hinter diesem überraschenden Ergebnis "eine gezielte feministische Verabredung" steckt. Anders als bei der letzten Abstimmung vor zehn Jahren sind die Einzel-Einreichungen der abstimmenden Kritiker dieses Mal auch nicht online einsehbar. "Eine Bekanntgabe der Stimmverhältnisse würde mehr Klarheit schaffen", findet er. Sein Hinweis, "kein deutsches Kunstkino" habe "den Film ins Programm genommen" und auch via Streaming sei "Jeanne Dielman" nicht greifbar, womit der Film also de facto "weiterhin unsichtbar" sei, ist allerdings falsch: Beim Kino Arsenal ist Akermans Film zum kleinen Preis online abrufbar.

Weitere Artikel: Timo Posselt stimmt in der Zeit auf die Solothurner Filmtage ein. Rembert Hüser erinnert mit einem großen Text im Filmdienst an den im November verstorbenen Autorenfilmer Jean-Marie Straub. FR-Kritiker Daniel Kothenschulte legt den Frankfurtern das "Film Preservation Weekend" (Motto: "Filmerbe - digital") im Filmmuseum ans Herz. Tobias Kniebe schreibt in der SZ einen Nachruf auf die überraschend verstorbene Casting-Agentin Simone Bär, die für Christian Petzold, Quentin Tarantino und Steven Spielberg gearbeitet hat.

Besprochen werden Damien Chazelles "Babylon" (FR, epdFilm, unsere Kritik), Claire Denis' "Mit Liebe und Entschlossenheit" (Perlentaucher), die DVD von Kevin Kopackas Horrorfilm deutschem Horrorfilm "Hinter den Augen die Dämmerung" ("aufs Angenehmste beknackt", freut sich Ekkehard Knörer in der taz), Cristian Mungius "R.N.M." (NZZ), Nicolas Windig Refns Netflix-Serie "Copenhagen Cowboys" (Filmfilter, critic.de), Gerard Johnstones Horrorfilm "M3gan" (critic.de, Filmfilter), Jason Moores Action-B-Movie "Shotgun Wedding" mit Jennifer Lopez (ZeitOnline), Jens Meurers Dokumentarfilm "Seaside Special" über Großbritannien kurz vor dem Brexit (taz), die neue Staffel der Serie "Atlanta" (Welt), die Netflix-Serie "Bernie Madoff: Das Monster der Wall Street" (TA) und die von der ARD online gestellte Mini-Serie "Bonn" (FAZ). Außerdem weiß die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
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Bühne

Sonja Anders, derzeit noch Intendantin des Schauspielhauses Hannover, wird 2025 neue Intendantin des Hamburger Thalia-Theaters, meldet der Tagesspiegel: Das passt, ist aber auch eine ziemlich langweilige Entscheidung, findet nachtkritiker Falk Schreiber. Die israelische Choreografin Saar Magal spricht im Interview mit der FR über ihr Frankfurter Tanz-Theater-Stück "10 Odd Emotions", das ursprünglich ein Stück über Antisemitismus sein sollte - so der Auftrag von Intendant Anselm Weber -, dann aber von der Choreografin erweitert wurde: "Ich wollte das Thema Rassismus hinzunehmen. Denn trotz des unglücklicherweise erstarkenden Antisemitismus in Deutschland und der Welt, fühle ich mich in Deutschland nicht mehr sehr als Opfer, sondern glaube, dass heute People of Colour viel mehr Opfer sind." Jan Zier unterhält sich für die taz mit dem Regisseur Lukasz Lawicki über dessen Stück "14 Tage Krieg - eine Momentaufnahme" am Staatstheater Oldenburg.
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Design

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Sophie Munzinger porträtiert in der taz den ukrainischen, mittlerweile in Berlin lebenden Modedesigner Jean Gritsfeld, der seine Arbeiten aktuell auf der Fashion Week Berlin vorstellt. "'Meine Kollektion artikuliert eine spielerische Form der Protestkunst', sagt er selbst. ... Gritsfeldt will seine Gedanken und Träume über Liebe, Kampf und Freiheit im Medium der Mode artikulieren, und das gelingt: Die Looks scheinen fast anarchisch. Sie drücken das Chaos aus, welches aktuell in der Ukraine herrscht. Der Designer verwendet Materialien wie Cord, Leinen, Wolle, synthetisches Fell, Seide und Chiffon. Der Chiffon und die Seide bringen Leichtigkeit und Fröhlichkeit in seine Looks. Außerdem kombiniert er Blumenmuster mit Tarnmustern. Sie stehen für ein fröhliches und aufgewecktes Land, das jetzt in Schutt und Asche liegt."

Und ziemlich cool: Die Filmemacher Pedro Almodóvar, David Cronenberg, Abel Ferrara und Jim Jarmusch leihen der Frühling/Sommer-Kollektion von Saint Laurent ihre altersgegerbten Gesichter. Hier alle Kurzvideos - und hier besonders hervorgehoben: der großartige Maniker Abel Ferrara.

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Literatur

Dlf Kultur spricht mit der in der Ukraine geborenen Schriftstellerin Victoria Belim, die mit "Rote Sirenen" die Geschichte ihrer Familie aufgeschrieben hat. Den Ausschlag dazu gab eine Äußerung ihres Onkels, der von der Sowjetunion und deren Verdiente für die Ukraine schwärmte. "'Als ich diesen Satz zum ersten Mal gelesen habe, dass man dankbar dafür sein muss, was die Sowjetunion geleistet habe, war ich schockiert', schildert Belim. Für sie sei klar gewesen, dass man der Sowjetunion keine Träne nachweinen sollte: 'Ein totalitärer Staat, der viele Tote auf dem Gewissen hatte, inklusive aus unserer eigenen Familie', sagt sie. Die Konfrontation mit der Sowjetnostalgie ihres Verwandten habe sie dazu gebracht, alles zu überdenken: 'Meine Familiengeschichte, meine eigene Haltung zur Geschichte, zur Vergangenheit.'"

Außerdem: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Besprochen werden unter anderem Chantal Akermans "Meine Mutter lacht" (Dlf Kultur), Peter Stamms "In einer dunkelblauen Stunde" (FR) und Mary Gaitskills "Veronica" (FAZ).
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Musik

Im Tagesspiegel plaudert Avi Avital über die Mandoline, die eben als "Instrument des Jahres 2023" ausgerufen wurde. Besprochen wird ein Aufritt der Mezzosproanistin Susan Zarrabi im Boulez Saal in Berlin (Tsp).
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Kunst

Henri Matisse, "L'Atelier rouge, 1911. Bild: Succession H. Matisse, Moma

Eine fantastische Matisse-Schau in Kopenhagen empfiehlt in der FAZ Peter Kropmanns. Im Zentrum steht ein großes Bild, das Matisse 1911 malte: "L'Atelier rouge". Die Schau war im Moma zu sehen, bevor sie ins Statens Museum wanderte: "Diese zweite Station kommt nicht von ungefähr: Zum einen ist hier eine der weltweit größten Matisse-Kollektionen überhaupt beheimatet, wovon die ständige Sammlung des Hauses zeugt, zum anderen gehören einige mit dem 'Roten Atelier' verbundene Werke dazu, jene 'Bilder im Bild', die auf der großformatigen Leinwand zu erkennen sind. Mit den Wiedergaben älterer und neuerer eigener Werke auf 'L'Atelier rouge' illustrierte Matisse Facetten seines Wirkens und Werdens. Dafür hat er ein regelrechtes Rendezvous von Arbeitsproben gleichsam zu einer Galerie gefügt."

Weiteres: Jörg Restorff besucht für die NZZ das nach zwölf Jahren Renovierungsarbeiten neu eröffnete Koninklijk Museum voor Schone Kunsten in Antwerpen. Die Mona Lisa ist für Kunstliebhaber verloren, meint ein trauriger Marc Zitzmann in der FAZ. Ihretwegen stürmen Millionen Besucher in den inzwischen völlig überforderten Louvre. Museumsdirektorin Laurence des Cars überlegt deshalb, die Besucherzahlen zu regulieren. Didier Rykner von der Tribune de l'Art hat eine andere Idee, wie er Zitzmann mitteilt: "das Bild aus der Dauerausstellung herauszunehmen. 'Ich sehe schweren Herzens keine andere Lösung als die, einen separaten Parcours für die 'Mona Lisa' zu schaffen'", im Keller, mit eigenem Eingang.

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "unMÖGLICH? Die Magie der Wünsche" in der Grimmwelt Kassel (taz) und eine Ausstellung mit Aktzeichnungen des Comickünstlers Erich Ohser in der Galerie e.o.plauen (FAZ).
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