Efeu - Die Kulturrundschau

Rettende Popmusik

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28.01.2023. Die FAZ verneigt sich vor der Kunst des Fotografen Erwin Blumenfeld. Die taz weint beim Hören von Robert Forsters neuem Album "The Candle and the Flame". Filmfilter untersucht am Beispiel der Amazon-Serie "German Crime Story: Gefesselt", was das True-Crime-Genre im Guten wie im Schlechten zu leisten vermag. Die Kulturwissenschaftlerin Anne-Sophie Balzer erzählt in einem literarischen taz-Essay von ihrer Reise zu den norwegischen Gletschern.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.01.2023 finden Sie hier

Kunst

Erwin Blumenfeld, Gitans. Saintes-Maries-de-la-Mer, 1928. © The Estate of Erwin Blumenfeld 2022


Andreas Platthaus verneigt sich in der FAZ vor der Kunst des Fotografen Erwin Blumenfeld, der mit seiner Familie über Frankreich und Nordafrika vor den Nazis floh, um schließlich in New York zu landen, wo er als Modefotograf eine glänzende Karriere machte. Die Ausstellung "Les Tribulations d'Erwin Blumenfeld" im Pariser Museum für Kunst und Geschichte des Judentums konzentriert sich allerdings mehr auf den "Dokumentaristen Blumenfeld, der während aller persönlichen Irrwege immer die Kamera auch auf sich und die Seinen richtete... Und es gibt gänzlich unbekannte Bilderserien zu sehen, die neues Licht auf Blumenfelds fotografisches und ethnographisches Interesse werfen: Aufnahmen von Roma in Südfrankreich, die dort bereits 1928 entstanden und noch Jahre später im Amsterdamer Atelier als Studiositzungen fortgeführt wurden, und Fotos von Tanzzeremonien in den Indianerreservaten von New Mexico, wohin er 1947 gereist war. Das Interesse des Heimatvertriebenen an den Heimatlosen und Heimatreduzierten ist bewegend."

Weiteres: In der taz unterhält sich Andreas Fanizadeh mit dem Maler Daniel Richter über Pepe Danquarts Richter-Doku, Richters Musiklabel Buback und die Bedeutung von Collage-, Grafik- und Druckarbeiten in seinem Werk. In Paris besucht Boris Pofalla für die Welt den Künstler Cyprien Gaillard. Besprochen werden außerdem Leiko Ikemuras Skulpturen-Ausstellung "Witty witches" im Berliner Atelierhaus von Georg Kolbe (Tsp), die Ausstellung "Kyiv Emerging" in der Kommunalen Galerie Berlin (Tsp), die Richard-Avedon-Ausstellung "Murals" im Metropolitan Museum of Art in New York (SZ) und die Ausstellung "Pompeji und Herculaneum - Leben und Sterben unter dem Vulkan" im Staatlichen Museum für Archäologie Chemnitz (FAZ).
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Literatur

Die Kulturwissenschaftlerin Anne-Sophie Balzer berichtet in einem literarischen taz-Essay von ihrer Reise zu den Gletschern und hat dabei viel Gletscherlyrik im Gepäck. Und sie erinnert an die Romantik, als Künstler und Intellektuelle in den Scharen das nur vermeintlich ewige Eis aufsuchten: "Mit Reifröcken, Spazierstöcken und ungeeignetem Schuhwerk schlitterten die Tourist:innen über das Eis und verbrannten sich jeden Zentimeter Haut, der nicht von Stoff bedeckt war; das Innere der Nasenflügel etwa und die Unterseite der Augenlider. ... Wie sehr sich das Verhältnis zwischen Mensch und Natur in den letzten 200 Jahren verändert hat, lässt sich anhand der Gedichte beobachten. Von um sich greifenden Ungeheuern sind die Gletscher zu einem aussterbenden Tier geworden. 'Maybe the ice is starving' - 'Vielleicht ist das Eis am Verhungern', schreibt die indigene Dichterin Vivian Faith Prescott aus Alaska in 'Die-Off'. Unter großen Anstrengungen decken heute Forscher:innen einige wenige Gletscher im Sommer mit Vlies zu, riesigen weißen Stoffbahnen, die das Eis vor der UV-Strahlung schützen sollen. Ein Vorhaben, das beinahe zärtlich wirkt - und hilflos. Den Rest der immer schneller schmelzenden Eismassen müssen sie sich selbst überlassen. Wer heute zu den Gletschern reist, macht deshalb auch eine Art Kondolenzbesuch."

Für die FAZ spricht Thomas David mit Ottessa Moshfegh über deren neuen, heute auch in der taz besprochenen Roman "Lapnova", der die Abgründe eines mittelalterlichen Dorfes schildert. Entstanden ist das Buch während der Pandemie - eine Allegorie also? Einen rein historischen Roman wollte die Schriftstellerin jedenfalls nicht schreiben, "weil dann Wunder, Übernatürliches und alles Phantastische ausgeschlossen gewesen wären. Diese Aspekte waren mir aber sehr wichtig, weil 'Lapvona' ein Buch über das ist, was Menschen glauben. Über den Glauben und die persönlichen Weltanschauungen der einzelnen Figuren, die durch ihre Erfahrungen und jeweiligen Traumata geprägt sind. Ich habe also das Trauma des Augenblicks in das Buch eingeschrieben. Es gab die Pandemie, und die USA hatten mit Donald Trump einen politischen Führer, der auf jeden von uns ein dunkleres Selbst projizierte. In dieser Zeit sind in den USA die unglaublichsten Dinge geschehen - etwa, dass die Leute sogar während der Pandemie in einer Bewegung wie Black Lives Matter zusammenkamen. Wir hatten einen Präsidenten, der das Land gesellschaftlich völlig spaltete und erlebten einen der verstörendsten Morde, die je auf Video festgehalten wurden."

Außerdem: Sergei Gerarsimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. In seiner FR-Reihe über ukrainische Literatur legt uns Christian Thomas in dieser Woche die Bücher von Michajlo Kozjubynskyj ans Herz. Der Carlsen Verlag hat die Veröffentlichung von Jacques Tardis Comic "Elise und die neuen Partisanen" kurz vor Veröffentlichung zurückgezogen, weil Dominique Grange darin in ihrem Nachwort Israel der Apartheid bezichtigt und den BDS rechtfertigt, meldet Lars von Törne im Tagesspiegel. Kathrin Müller-Lancé berichtet für die SZ vom Comicfestival in Angoulême, das von dem Skandal rund um den Comiczeichner Bastien Vivès erschüttert ist, der wegen seiner grenzüberschreitenden Zeichnungen erst ausgeladen wurde und gegen den nun auch wegen des Verdachts auf Kinderpornografie ermittelt wird. Auf Instagram hat sich Vivès unterdessen klar gegen Pädokriminalität und Übergriffigkeit gegenüber Frauen ausgesprochen: Nur weil man etwas zeichne, befürworte man es noch nicht.

Besprochen werden unter anderem Raphaela Edelbauers "Die Inkommensurablen" (Tsp), Henriette Kaisers Gesprächsband "Goethe in Buenos Aires" (Freitag), Juli Zehs und Simon Urbans "Zwischen Welten" (taz), Annette Pehnts "Die schmutzige Frau" (SZ) und Dana Spiottas "Unberechnbar" (FAZ).
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Bühne

Milo Rau wird Intendant der Wiener Festwochen. Er wolle "ein mythisches, gewaltiges, umstrittenes Theater-Fest zu schaffen", verkündete er laut Tsp in seiner Presseerklärung. Im Interview mit dem Standard klingen seine Pläne noch recht unbestimmt.

Besprochen werden Amir Reza Koohestanis und Keyvan Sarreshtehs Adaption von Huxleys "Schöne neue Welt" für das Thalia Theater in Hamburg (nachtkritik), ein Tanzabend mit Lisbeth Gruwez im Frankfurter Mousonturm (FR), Offenbachs "Die Großherzogin von Gerolstein" am Münchner Gärtnerplatz (nmz) und Ivo van Hoves Adaption von Marieke Lucas Rijnevelds Pädophilenroman "Mein kleines Prachttier" am Internationaal Theater Amsterdam (die FAZ-Kritiker Simon Strauß gründlich abgestoßen hat).
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Film

Szene aus "German Crime Story: Gefesselt"


An der Amazon-Serie "German Crime Story: Gefesselt" lässt sich so ziemlich alles ablesen, was es zum "True Crime"-Trend im Guten wie im Schlechten zu sagen gibt, schreibt Benjamin Moldenhauer im Filmfilter: Die Serie versucht jedenfalls händeringend, jeder Lesart des Genres etwas Fleisch vor die Füße zu werfen. Doch sie "fliegt dabei fürchterlich auf die Schnauze in mindestens einer, aber nicht in jeder Hinsicht, und ist bei all dem sehr unterhaltsam. ... 'German Crime Story' erliegt der Faszination ihrer Figur, die sie selbst konstruiert. Oliver Masucci spielt den sadistischen Mörder als bedrohliches, komisches und unbremsbares Triebwesen, mit einem übersteigerten Hamburger Akzent, was allerdings durchaus Sinn ergibt." Auch zeigt sich, was True Crime "sein könnte, wenn das Genre seinen allzu faszinierten Blick endlich einmal konsequent und nicht nur alibihalber von den Tätern abwenden und dem, was diese Täter umgibt, zuwenden würde: eine Bild- und Erzählmaschine, die eine krasse, aber genaue Wahrnehmung der sozialen und gesellschaftlichen Voraussetzungen von Verbrechen und Gewalt ermöglicht und diese Realität in ihrer verborgenen Groteskheit zeigt."

In der FAZ (online nachgereicht) verneigt sich Daniel Haas vor der Schauspielerin Laura Dern, die aktuell in "The Son" im Kino zu sehen ist. Für ihn zählt sie "zu den besten Schauspielerinnen ihrer Generation. Ihr Blick: eine subtil orchestrierte Suchbewegung. Ihr Lächeln: mal zaghafte Reizung des Gegenübers, mal Selbstvermummung in Zweifel und Groll. Ihr Mund: ein die feinnervigsten Regungen in mimische Andeutung übersetzender Seismograph. Allein dieser Mund wäre einen ganzen Artikel wert. ... Hetäre, Heilige, Bigotte oder Verruchte: Die Rollen, die uns Literatur und Kino als Verkörperung eines vertrackten Begehrens anbieten, zerspielt sie mit einem einzigen Lippenzittern, einem jagend-lüsternen Blick."

Außerdem: Johanna Adorján erzählt in der SZ von ihrem Interviewtermin mit Gérard Depardieu. Besprochen werden Kirill Serebrennikows "Petrow hat Fieber" (SZ, ZeitOnline, mehr dazu bereits hier), Peter Hengls österreichischer Horrorfilm "Family Dinner" (Filmfilter), Davy Chous "Return to Seoul" (Zeit, unsere Kritik), die Science-Fiction-Serie "The Peripheral" nach dem gleichnamigen Roman von William Gibson (Jungle World), Florian Zellers Familiendrama "The Son" (Tsp) und die vierte Staffel der israelischen Netflix-Serie "Fauda" (NZZ).
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Musik

Robert Forsters neues Album "The Candle and the Flame" entstand unter den Eindrücken der Chemotherapie, der sich seine Ehefrau, die Musikerin Karin Bäumler, unterziehen musste, schreibt Dirk Schneider in der taz, dem beim Video zu "She's A Fighter" (in dem auch die musizierenden Kinder der beiden zu sehen sind) die eine oder andere Träne über die Wange rollt: "Natürlich ist da die Endlichkeit, aber mehr noch das Leben. Die zwei jungen Erwachsenen, die trotz ihrer Schönheit und Coolness in einem gewöhnlichen Musikvideo kaum auffallen würden. Hier aber feiern sie nicht nur standesgemäß ihre Jugend." Sie "hauen in die Saiten - als Percussion drischt Louis zudem wütend auf einen Einkaufswagen ein -, als ginge es um Leben und Tod. Und darum geht es ja auch. ... Wie viele Pop-Klischees und -Lügen von Jugend und alterndem Genie, von Coolness und Originalität, von 'it is better to burn out than it is to rust' werden in diesem Song mit einem Handstreich weggewischt. Die Mythen werden nicht unbedingt durch etwas Besseres, aber vielleicht durch etwas Wahreres, etwas Wirklicheres ersetzt. Und die Kleinfamilie, das bürgerliche Zwangsgebilde, hier als Keimzelle lebendiger, berührender, stärkender, vielleicht sogar rettender Popmusik. Hat man so was schon gesehen und gehört?"

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